»Charaktermasken abschminken«

Abstrakte Herrschaft, bewaffneter Kampf, konkrete Leichen. von joachim bruhn

Das Konzept Stadtguerilla verhält sich zum kritischen Kommunismus wie der Exorzismus zum kategorischen Imperativ: nichts, was in der Begründung des bewaffneten Kampfes nicht von Anfang an grundfalsch gewesen wäre, unmöglich, aus irriger Reflexion zutreffende Resultate abzuleiten, sinnlos auch, den Staat zu erschießen. Auf Ludwig XVI. folgte nicht Ludwig XVII., auf Hartz IV aber folgt Hartz V. Der bewaffnete Kampf gegen den Staat eröffnete Einblicke in die Statur des politischen Souveräns, die sich die Kämpfer zu keinem Zeitpunkt anzueignen vermochten. Sie agierten, intellektuell wie praktisch, stets unter dem Niveau des von ihnen erklärten Antagonismus. Die Leute von der RAF waren und blieben nützliche Idioten der demokratisch organisierten Herrschaft, »Leninisten mit Knarre«, wie die linksradikale Zeitschrift Agit 883 sie schon Anfang der siebziger Jahre nannte.

Die RAF wollte auf den Staat schießen, am Ende lag ein Mensch auf der Straße. Am Grab der Bankiers und Vorstandsvorsitzenden stellte der Staat sich als bloßes Netzwerk dar, das aus Menschen wie dir und mir bestand. Es ist diese intellektuelle Subalternität, die aus der jüngsten Erklärung von Christian Klar spricht und die man mit dem ehemaligen Innenminister Gerhart Baum als »Revolutionskauderwelsch« bezeichnen darf.

Anders war es nie gewesen, und wenn die gefangenen Genossen in Stammheim einander anherrschten: »tauch mal unter, ›in die tiefe‹, such und find die subtilen, terrorisierenden, blutsaugenden mechanismen des weltmarkts, gesamtkapitals in dir«, wäre Psychoanalyse angebracht gewesen, nicht weitere Schulung mit der Mao-Bibel. Die Kritik der Waffen, die die RAF in Szene setzte, hatte die sozialphilosophische Qualität eines Brühwürfels.

Schwein oder Wildschwein

Christian Klar schoss auf die kaltherzige Charaktermaske von der Dresdner Bank; in die Grube fuhr der treusorgende Familienvater Jürgen Ponto, eine Seele von Mensch, interessiert an »Politik und Kultur«, »vor allem an Kunst«, wie ihn seine Tochter Corinna Ponto in Anne Siemens Interviewband »Für die RAF war er das System, für mich der Vater – Eine andere Geschichte des deutschen Terrorismus« schildert. Nicht sehr zielsicher, diese Aktion: Der Kapitalagent soll sterben, der Philantrop ist tot.

Diese merkwürdige Verwandlung vollzog sich durch die Tat hindurch ohne jedwedes Bewusstsein der Täter, eine Wesenswandlung, in der die politische Souveränität ihr Unwesen dokumentiert. Die RAF, durch eine Überdosis mao-leninistischer Ideologeme ohnehin benebelt, verbarg das Problem durch die obsessive Rede von der »Charaktermaske«, ein Begriff, der nicht zuletzt durch die Praxis der RAF seiner subversiven Intention beraubt wurde und seither nur als »zynisch und menschenverachtend« gilt.

Das Problem, das die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie mit der Einführung des Begriffs der »Charaktermaske« darstellt, besteht eben darin: Wie kann es sein, dass die bürgerliche Öffentlichkeit, etwa in Form der Welt am Sonntag (Ausgabe vom 18. Februar), das himmelschreiend Perverse der RAF darin findet, dass diese Menschen als »Schweine« bezeichnete und »den Funktionsträgern des ›Systems‹ das Menschsein« absprach, während sie im Wirtschaftsteil derselben Ausgabe unter der Schlagzeile »Der geborene Keiler« ein Portrait der VW-Maske Ferdinand Piëch druckt, in dem davon berichtet wird, dass sich dieser selbst puterstolz ein »Wildschwein« heiße und sich der »Abwehr von Fressfeinden« verschrieben habe? Was denn nun? Darf man Piëch das Schwein nennen, das er sich selbst schimpft?

Zweifellos: Es ist dies Marx zufolge eine substanzielle Einsicht der Gesellschaftskritik. Wer seinen Beruf wie seine Berufung – seine »historische Mission«, sagt die Welt am Sonntag über Piëch – ins Management von Ausbeutung und Herrschaft setzt, ist nur entindividualisierte Funktion, dekoriert mit Charakterfetzen. Die Unteren sind auch nicht besser, nur verhausschweint. Aber samt und sonders besteht, was der Elite an Entschlusskraft und Führungswillen nachgerühmt wird, in derart tierischen Eigenschaften, dass es der Sau graust.

Die »Charaktermasken der Personen«, sagt Marx, sind nur die »Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse, als deren Träger sie sich gegenüberstehen«. Es geht um Personen, nicht um Individuen. Als juristisches Subjekt gesetzt, ist das Individuum der Form eingeordnet, durch die hindurch die Akkumulation des Kapitals allein sich vollziehen kann. Darin setzt die tätige Abstraktion des Kapitals den konkreten Leib als seine dingliche, atmende Erscheinungsform, als seinen stofflichen Träger und als das denkende Fleisch, in dem es sich materialisiert. Die Ware an und für sich ist ein sinnloses, sinnenloses Ding. Daher die Gesellschaftsnotwendigkeit der Körper, denn, schreibt Marx, den »der Ware mangelnden Sinn für das Konkrete des Warenkörpers ergänzt der Warenbesitzer durch seine eigenen fünf und mehr Sinne«. Wie der Gebrauchswert die, wenn auch unverzichtbare, Staffage des Tauschwerts ist, so ist der Körper das notwendige Menschenmaterial, an dem die kapitale Vergesellschaftung erscheint.

Wer auf einen Kapitalisten schießt, kann daher nur danebenschießen, trifft nicht Ausbeutung und Akkumulation, sondern den Körper eines Menschen. Andererseits taugt keineswegs jedwedes Fleisch zur Darstellung des Subjekts. Der Körper, dazu die Psyche, die ihn antreibt, bedarf gewisser Qualifikationen, die das Bürgerliche Gesetzbuch mit den Ritualen der Zulassung wie des Ausschlusses aus der Gesellschaft der mündigen Privateigentümer organisiert. Diese Anforderungen steigen mit der gesellschaftlichen Hierarchie. Als Hartz IV-Empfänger versteht man von BWL und VWL genug, wenn man mit 345 Euro hauszuhalten vermag. Auf den Kommandohöhen muss es schon ein Wildschwein sein, »ruppig«, »brutal«, »bisweilen grausam«, wie die WamS und die FAS am 18. Februar Piëch beschreiben.

Es sind dies Qualifikationen des Charakters, die zur Maskerade prädestinieren. Es scheint dann so, als verhielte es sich andersherum, so, als seien die Maskierten Eliten aus eigenem Verdienst. So durchschlagend regiert der Fetischismus, dass sich Sozio­logen finden, die ermittelt haben, »dass Manager in den Vereinigten Staaten mit jedem Kilogramm Übergewicht rund 1 000 Dollar im Jahr weniger verdienen«. Die Stofflichkeit des Trägers ist die zwar notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung der Funktion.

Der Souverän und das Kapital

Wie in der Ökonomie, so in der Politik. Die Stellenausschreibung für das Schwein Piëch gleicht der, der ein politischer Souverän der kapitalisierten Gesellschaft zu genügen hat. Seit der bürgerlichen Aufklärung, seit Nicolò Machiavellis kritischen Studien über die Herrschaft und ihren strategischen Gebrauch, ist klar, dass, wer herrschen will, ein Löwe zu sein hat, der glaubhaft als Schaf auftreten können muss. In sich muss er den Widerspruch versöhnen, das logisch einander sich Ausschließende zur synthetischen Einheit eben dessen bringen, der in letzter Instanz verbindlich entscheidet. Souverän ist, wer im Jenseits der logischen Widersprüche west, sich unmöglich zu widersprechen vermag: tätige Identität der Herrschaft mit sich.

Was das Kapital mit der Souveränität eint, ist folgendes: So wenig der selbstbezügliche Prozess der Akkumulation im dinglichen Sein der Fabriken aufgeht, so wenig ist die Souveränität mit den fixierten Institutionen des Politischen, dem Staat und seinen Apparaten, strikt identisch. Beides ist Prozess, wenn es auch unterm Zwang der Verdinglichung steht.

Was das Kapital allerdings von der Souveränität trennt, ist, dass dieses in der Form des Geldes Handgreiflichkeit und sinnliche Evidenz unmittelbar erzeugt und derart die Ausbeutung als ihr grades Gegenteil, als Verteilungsfrage, darstellt, während jene unmittelbar nur in der Form des Rechts sich präsentiert, also als Verhüllung der bedingungslosen Verfügung über Leben und Tod, deren Name Gewaltmonopol lautet. Das Recht suggeriert höhere Freiheitsgrade als die Wirtschaft, die Schicksal sein soll; in Begriffen wie Volkssouveränität, in Praktiken wie dem allgemeinen, freien und gleichen Wahlrecht scheinen gar die Leute in Gestalt des »Volkes« zum Subjekt eines Staats zu werden, der sich, als Reich der Freiheit, polemisch gegen das Reich der Notwendigkeit zu wenden vermöchte.

So wie Wert, Geld, Kapital sich als die ewigen, naturgegebenen Darstellungsformen von Produktion und Reproduktion verstanden wissen wollen, so auch die Kategorien des Politischen. Die Verkehrung der Gesellschaft treibt zur Verewigung der Herrschaft des Menschen über den Menschen und damit zu einer Realabstraktion, die als Recht erscheint, ideologisch in negativer Anthropologie gründet. Dass der Mensch des Menschen Wolf sei, ist die Ermächtigung zur ursprünglichen Zentralisation der Gewalt, zur Anpreisung des Souveräns als Stifter des Landfriedens. Was Thomas Hobbes, wenn auch als gesellschaftliches Verhältnis, sich ausdachte: die Idee vom Souverän als des »allgemeinen Menschen«, das heißt als die realexistierende Abstraktion der Gattung Mensch schlechthin, wurde 1933 in Deutschland in der Figur Hitler drastisch. Sein privater Sadismus fiel mit der objektiven Zwanghaftigkeit des Staats unmittelbar in eins. Hitler, zärtlich »Wolf« genannt, war der »Meister der Krise« (Gerhard Scheit), dessen psychologischer Charakter gleich dem gültigen Staatscharakter war.

Aber diesen barbarischen, in einem Barbaren inkarnierten Souverän kann man liquidieren. Hitler zu exekutieren, hätte bedeutet, den Staat der Volksgemeinschaft in die Luft sprengen, wie Johann Georg Elser es 1938 versucht hat. Kein Wunder daher, dass sich die RAF auf Che Guevara berief, auf Mao Tse Tung, auf die Tupamaros, vor allem aber auf die bewaffneten Antisemiten des »palästinensischen Befreiungskampfes«, jedoch niemals auf Elser. Denn an ihm hätte sie nicht nur lernen müssen, was es bedeutet, in absoluter Einsamkeit das objektiv Vernünftige zu erkennen und daraus praktische Konsequenz zu ziehen, sondern auch, dass die Identität von Souveränität und Staatsapparat in der Figur Hitler nur im System der nazifaschistischen Barbarei möglich war. Da sie von alledem nichts wissen wollte, fälschte die RAF den Begriff des NS-Faschismus und machte die Kühnls, Gossweilers und Dimitroffs glücklich.

Der Hanns-Martin und der Schleyer

Die RAF musste ihr Ziel verfehlen, indem sie es traf; Hanns-Martin Schleyer zum Beispiel. Der Boss der Bosse hatte früh schon sein Fleisch den Zwecken von Kapital und Staat angedient, war auserwählt und rekrutiert worden. Er hatte diese Zwecke von Grund auf in Heidelberg studiert, den ganzen Kanon: »Rassentheorie«, »Grundlagen der nationalsozialistischen Weltanschauung«, »Wehrwissenschaft«, außerdem natürlich Jura und Finanzwissenschaft.

Damit hatte er, wie sein Biograph Lutz Hachmeister notiert, »ein modernes, interdisziplinäres Studium der Staatslehre absolviert«, war mithin kein Fachidiot. Dass etwa die Subjektform nach dem BGB Einschluss durch Ausschluss bedeutet, konnte Schleyer 1937, wenn auch nicht auf Deutsch, so doch gültig, formulieren als das nazistische Apriori, das da lautete: »Auslese bedeutet immer zugleich Ausmerze.«

Mit diesem Wissen und Können stieg er auf, bis er der RAF über den Weg lief, die ideale Zielscheibe. Eigentlich. Aber das Kommando dachte gar nicht daran, das von Elser nur verhängte Urteil an Hitler und seinen Kumpanen wenigstens im Nachhinein zu vollstrecken. Bei allem »Faschismus«-Gedröhne waren nicht Rache und historische Gerechtigkeit ihr Interesse, sondern nur ein bisschen Agitation gegen’s Finanzkapital, oder, wie Christian Klar heute noch halluziniert, gegen die Verschwörung einer »internationalen Besitzerklasse«. So ermordete die RAF Schleyer und erzeugte nichts als einen sehr nachhaltigen staatspädagogischen Eindruck.

Sie bedachte nicht, konnte nicht bedenken, wie intensiv in der Gestalt Schleyers der »stoffliche Träger« mit der Sozialfunktion verschmolzen war. Das war keine Maske mehr, sondern ein Meisterwerk plastischer Chirurgie. Denn Schleyer hatte von Anfang an verstanden, dass der Herrschende für die Ewigkeit, d.h. praktische Verewigung der Herrschaft mit Leib und Seele zu haften hat. »Ich bin immer bereit, Regierungshandlungen im Sinne der Staatsräson zu akzeptieren«, sagte er und stellte sich als Material des Staats zur Verfügung.

Schleyer hatte so die RAF theoretisch wie praktisch überholt. Denn diese bewegte sich noch vollständig auf dem Boden des Liberalismus; sie hatte, wie immer verschroben, so doch, ein Vermittlungsproblem zwischen »konkret« und »abstrakt«, zwischen den »Massen« und den Profiteuren, die sie »aus dem Himmel herab züchtigen« (Christian Klar). Sie kam mit dem Widerspruch von Bourgeois und Citoyen nicht zu Rande. Schleyer dagegen hatte dieses Problem von vorne­herein nicht, und er verstand es nicht einmal: Er begriff sich als deutschen Soldaten, als lebendige Waffe im Vernichtungskrieg gegen alles, was am Volkskörper unproduktiv und illoyal zu sein hatte. Die RAF schoss auf Schleyer und traf Hanns-Martin, weil sie, Jakobiner der liberalen Intelligenz, keinesfalls sehen konnte, dass ihre Avantgarde darstellte.

Das Attentat und die Gnade

Die RAF verfing sich in den Antinomien, die das Spiegelspiel der Politik eröffnet. Noch im Jahr 1998, in ihrer Auflösungserklärung, war sie bemüht, an die moralischen Dilemmata des Liberalismus, dem sie entsprang, anzuknüpfen und ihren Kampf als Tragödie zu inszenieren: »Menschen in ihrer Funktion für das System anzugreifen, ist für alle Revolutionäre auf der Welt ein Widerspruch zu ihrem Denken und Fühlen.« Es war das Drama des unbegabten Revolutionärs, der sich in der Frage verwickelt, ob der Zweck die Mittel heiligt: die Ideologie einer durch den Nazifaschismus liquidierten Epoche. Mag sein, dass das Hausieren mit den Sorgen und Nöten der Friedensbewegung die Methode der Wahl ist, Gnade zu erbetteln und Zukunft fürs Restleben. Warum nicht. Gleichwohl ist der Antrag, den Christian Klar beim Präsidenten eingereicht hat, das der RAF letztmögliche Attentat auf den Begriff und auf die Praxis der kommunistischen Revolution, bedeutet das doch, den Souverän so, wie er ganz ungezähmt, als bloße Willkür, aus dem vorgeblich zum System gewordenen Recht hervorlugt, als humanistische Wohltat auf sich herabzuflehen.

Zu Zeiten galten die Gefängnisse als die Universitäten der Revolutionäre; die Genossen der RAF sind darin nur immer noch dümmer geworden. In der Hochzeit ihres jakobinischen Überschwangs erklärte die RAF, als sie im November 1972 den Mordanschlag palästinensischer Nationalfaschisten auf die israelische Olympiamannschaft legitimierte, diese hätten »die Charaktermasken des ›Rechtsstaats‹ Bundesrepublik gezwungen, abzuschminken«. Dass unter der Schminke nicht die Wahrheit des Souveräns war, sondern das Gleiche noch mal und in Grün, ging nirgends auf. Darum war die RAF niemals eine, wenn auch hoffnungslos verspätete, Fraktion jener Roten Armee, die die Überlebenden von Auschwitz befreite.