Wanted: Facharbeiter

Deutschland sucht den Facharbeiter! Weil im Zeitalter der lean production die Unternehmer weniger in die Ausbildung von Arbeitskräften investieren, herrscht zu bestimmten Zeiten ein Mangel an Fachkräften. Solche Phasen müssen aber nicht von Dauer sein. Von Ernst Lohoff

Angesichts der Wirtschaftsnachrichten der vergangenen Monate könnte man sich in die sechziger Jahre zurückversetzt fühlen. Nicht nur, dass die amtlichen Statistiken derzeit Wachstums­raten verzeichnen wie seit Jahrzehnten nicht und eine wundersame Arbeitsplatzvermehrung ausweisen; neuerdings hat auch noch das Lieblingsklagelied der Unternehmerorganisationen aus den Wirtschaftswunderjahren die Spitze der Jammer-Charts zurückerobert: »Facharbeitermangel auf breiter Front – Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft in der Welt ist in Gefahr!« Dem »Verband der deutschen Wirtschaft« zufolge hat der Standort Deutschland allein in diesem Jahr 3,7 Milliarden Euro Wertschöpfungsausfall zu verzeichnen, weil ihm die geeigneten Arbeitskräfte fehlen – Tendenz steigend. Die Politik reagiert prompt.

Bereits im Herbst wolle die Große Koalition Lösungsvorschläge vorlegen, sagte der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Volker Kauder, dem Handelsblatt. Über die einzuschlagende Richtung ist man sich insbesondere in den Reihen von CDU und CSU freilich noch nicht ganz einig. Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) etwa denkt primär daran, qualifizierten ausländischen Arbeitskräften den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu erleichtern. Kauder hingegen propagiert »standortinterne« Arbeitskraftrekrutierung und will die Ausbildung von Jugendlichen gefördert sehen. »Ich möchte nicht, dass es in der Wirtschaft zugeht wie bei vielen deutschen Fußballclubs: daheim wenig ausbilden und die guten Spieler im Ausland einkaufen.« Geht es nach Kau­der, dann sollen die Bundesländer zur »Bildungsoffensive« antreten und mit »schulbegleitenden Programmen« den jungen Menschen den Eintritt in das Arbeitsleben erleichtern.

Welche Maßnahmen die Bundesregierung auch beschließen wird, allzu viel dürften sie zur Deckung des beklagten Mangels an Angeboten nicht beitragen. Selbst wenn die Union ihren »Kinder-statt-Inder«-Flügel zum Schweigen bringt und allen ausländischen Fachkräften aufenthaltsrechtlich entgegenkommt, bleibt ein kleines Problem: Arbeitskräfte, die dem erwünschten An­forderungs­­profil gerecht werden, sind auf dem globalen Arbeitsmarkt derzeit insgesamt knapp, und für die wenigen, die zur Verfügung stünden, ist Deutsch­land schon wegen der exotischen Landessprache und des Lohnniveaus nicht unbedingt die allererste Adresse. Nicht nur hierzulande, in sämt­lichen Staaten, die an der überhitzten Weltkonjunktur teilhaben, suchen die Unternehmer derzeit nach Fachpersonal mit entsprechenden Schlüs­selqualifikationen.

Keine Frage: Es ist seltsam, dass in Europa weiterhin viele Millionen Menschen keine Arbeit finden, während gleichzeitig in bestimmten Segmen­ten des Arbeitsmarkts ein Mangel an Arbeitskräften besteht. Im globalisierten Kapitalismus hat dieser Widerspruch aber durchaus seine strukturelle Logik.

Der Kapitalismus unserer Tage ist ein Kapitalismus der lean production mit einer stark reduzierten Fertigungstiefe. Jede Form von Vorratswirtschaft ist ihm ein Gräuel, denn sie verursacht vom kapitalistischen Standpunkt aus gesehen nur un­nötige Kosten. Alles, was nicht zur Kerntätigkeit gehört, wird ausgelagert und eingekauft, das reduziert die Gesamtausgaben des Unternehmens und erhöht dessen Profitrate. Das gilt für die materiellen Produktionsbedingungen, aber erst recht für die Ressource Mensch.

Der kühl rechnende global player übt sich in Sachen Ausbildung und Qualifizierung generell in Zurückhaltung, weil die betriebswirtschaftliche Amortisation dieser Ausgaben viel zu oft fraglich ist. Das beginnt schon mit dem Problem der Entwertung von Qualifikationen. Ein Zulieferteil, das eine Automobilfabrik auf Lager hält, veraltet in der Regel nicht vor dessen Einbau. Was das über Jahre mühsam geschaffene »Humankapital« angeht, sieht das vor allem in den technisch fortgeschrittenen Bereichen anders aus.

Die Schlüsselqualifikationen von heute können morgen bereits Makulatur sein. Schon aus diesem Grund wäre es eine betriebswirtschaftlich unverantwortliche »Fehlallokation von Ressourcen«, sprich pure Verschwendung, über den unmittelbarsten Bedarf hinaus zu qualifizieren. Ein zweites, gravierenderes Problem kommt hinzu. Investitionen in Sachkapital sind für alle Unternehmen Investitionen in den eigenen Besitzstand. Investitionen in »Humankapital« fließen dagegen in eine einem fremden Eigentümer gehörende Ware.

Mühsam erworbenes »Humankapital« kann sich jederzeit auf und davon machen, und anders als im fordistischen Zeitalter mit seiner Kultur der Betriebstreue ist diese Praxis im Zeitalter der Flexibilität auch gang und gäbe, ja gesellschaftliche Norm. Einzelkapitalistisch ist daher eine restriktive Qualifizierungspolitik ein Gebot betriebswirtschaftlicher Vernunft, die gesamtkapitalistisch allerdings einen Preis hat: die pe­riodische Unterversorgung mit entsprechenden Arbeitskräften.

Das System der dualen Berufsausbildung wird in Deutschland, anders als in vielen anderen Län­dern, sehr geschätzt. Die Kombination von betrieblicher und schulischer Bildung soll einst die Grundlage für den verflossenen Weltruf der »deut­schen Wertarbeit« gelegt haben. Unter den Bedingungen des auf Kostenexternalisierung geeichten Flexikapitalismus ist diese von der politischen Klasse noch immer gerne beschworene Ordnung allerdings längst zum Anachronismus geworden. Die Haltung von Azubis mag im klassi­schen Handwerk sich als solche rentieren, aber in den vielbeschworenen High-Tech- und Zukunftssektoren ist sie überflüssig. Wie überall ist deren Anteil an der betrieblichen Ausbildung auch hierzulande in den vergangenen Jahrzehnten kon­tinuierlich zurückgegangen. Die auf dem Arbeitsmarkt angebotenen betrieblichen Ausbildungen entsprechen ganz und gar nicht den von den Betrieben insgesamt nachgefragten Qualifikationen.

Märkte reagieren verzögert auf Nachfrageveränderungen, je nach der Produktionsdauer der jeweiligen Güter. Dieses Problem, das Betriebswirtschaftsstudenten früher gerne am Beispiel des so genannten Schweinehälftenzyklus nahe gebracht wurde, trifft die Ware »qualifizierte Arbeitskraft« besonders hart. Ausbildung nimmt Zeit in Anspruch, deutlich mehr Zeit als die Förderung und Verarbeitung eines Barrels Erdöl oder eben die Erzeugung von Schweinehälften. Wer heute beschließt, einen gefragten Beruf zu erlernen, findet sich als Absolvent garantiert auf einem gründlich veränderten Teilarbeitsmarkt wie­der, und gerade in konjunkturellen Überhitzungs­phasen wie der gegenwärtigen wird der künftige Arbeitskraftbedarf gerne maßlos überschätzt.

Im April 2000, als der »New-Economy«-Boom, die letzte große Welthochkonjuktur, gerade seinen Wendepunkt erreicht hatte, veranschlagte das Wall Street Journal den zusätzlichen Bedarf an Arbeitskräften allein der US-amerikanischen EDV-Branche mit 1,6 Millionen neuen Mitarbeitern bis zum Jahresende. Die Hälfte dieser Stellen würde unbesetzt bleiben, lautete die Prognose. In Wirklichkeit saß im Dezember des Jahres 2000 die Hälfte der gerade noch gesuchten IT-Experten auf der Straße. Möglicherweise mutet bereits in ein paar Monaten die gegenwärtige Diskussion über den Fachkräftemangel ähnlich befremdlich an wie die damaligen Prognosen.