Linke Heimatkunde

Wenn antinationale Linke positiv sein wollen, reden sie vom Kosmopolitismus – aber nicht von seinen gewaltförmigen Voraussetzungen. von tjark kunstreich

»Kosmopolitismus kann nur eingreifen in die nächsten Umgebungen, in denen unmittelbar als lebendige Kraft er lebet und das ist. Und so wird dann jeglicher Kosmopolit ganz nothwendig, vermittelst seiner Beschränkung durch die Nation, Patriot; und Jeder der in seiner Nation der kräftigste und regsamste Patriot wäre, ist eben darum der regsamste Weltbürger.«Johann Gottlieb Fichte, 1807

Kosmopolitismus ist die ­Ideologie des Weltbürgers. Als er in Person Napo­leon Bonapartes in die deutschen Staaten einfiel, überkam die deutschen Aufklärer die Erkenntnis in Form von Kanonenkugeln: Die universelle Idee des Kosmopolitismus ist ganz und gar nicht nur schöngeistig, sondern zuweilen ebenso handfest. Bis dahin war es so erhaben wie folgenlos, Weltbürger zu sein und von ferne die französische Revolution zu bewun­dern. Als ihre universalistische Ideologie sich bewaffnete und anschickte, die Zivilisation zwangsweise zu implementieren, wurden die deutschen Aufklärer zu Patrioten.

Nicht zu Unrecht entdeckten sie im Universalis­mus den imperialen Anspruch, in der Verordnung des bürgerlichen Rechts Kolonialismus. Heinrich von Kleists Drama »Die Hermannsschlacht« inszeniert den Kampf gegen Napoleon als Befreiungs­krieg gegen die Kolonisatoren, die die alten Bräuche und die alten Mächte stürzen, deren Existenz­berechtigung einzig ihre Geschichtlichkeit ist. Die Zivilisation ist künstlich und deswegen schlecht: Dabei ist Künstlichkeit das Merkmal von Zivilisation.

Die von Napoleon eroberten Länder waren die ersten Opfer des modernen europäischen Kolonia­lismus, der mehr war als die bis dahin bekannte Raubzugsvariante. Eben deswegen erlebte Kleists Stück zwei Renaissancen: eine während des Nazifaschismus, die zweite zu Zeiten der großen deut­schen Friedensbewegung, als Claus Peymann es 1982 in Bochum inszenierte. An die Stelle des deutschnationalen setzte er den antiimperialistischen Kitsch – und wer wollte, konnte darin die Mär von Westdeutschland als besetztem Land und die Botschaft von der naturhaften Solidarität der Völker gegen das Imperium vernehmen.

Die Durchsetzung des Kapitalverhältnisses fand statt mittels der gewaltsamen Verankerung der ihm entsprechenden Rechtsverhältnisse, die alles bis dahin Bekannte hinwegfegte. Fortschritt, anders als heute oft gedeutet, war nicht nur positiv besetzt, im Gegenteil: Er jagte auch seinen Befürwortern Schrecken ein. Der Schrecken lag in dem Paradox begründet, dass jene, die aus eigener Erkenntnis zu handeln meinten, sich früher oder später als Vollstrecker einer historischen Tendenz wiederfanden, wohingegen jene, die sich anzupassen bemühten, auf einmal vor Situationen standen, in denen sie ihre eigenen Entscheidungen zu treffen hatten. Der Weltbürger wollte nicht nur Gold und andere Schätze aus fernen Ländern rauben, er wollte Profit machen. Dafür musste er Handel treiben und zu diesem Zweck sein Gesetz universalisieren.

Der Kosmopolitismus des Weltbürgers war von dem Wunsch beseelt, überall auf der Welt die gleichen berechenbaren Bedingungen für seine Geschäfte vorzufinden. Scholle oder gar Nation galten ihm nicht deswegen nichts, weil er sich bewusst gegen die Heimat entschieden hätte – sie waren Beschränkungen seines Handel(n)s. Immer­hin aber wurde so der Fluchtpunkt einer Weltgesellschaft ohne Staat und Nation denkbar. Die Gegenaufklärung wollte, wie Fichte andeutet, die­sen Überschuss kassieren. Am Ende stand die Erfindung des Antagonismus von Abstraktem und Konkretem: hier die Scholle, das Eigene, das Eigentliche, dort das Unnatürliche, das Unpersönliche, das Wurzellose, mithin Unmenschliche.

Dass sich die Nazis zu Gegnern des Kosmo­politismus erklärten, auch wenn sie in Wirklichkeit ganz kosmopolitisch beispielsweise die ­Vernichtung der Judenheit in alle Welt zu tragen gedachten, erklärt sich aus dem immanenten Widerspruch der notwendigen Entgrenzung der Scholle: Die Juden nur aus einem Land zu vertreiben, widerspricht der wahnhaften Erkenntnis einer Weltverschwörung, aus der sich die Notwendigkeit einer totalen Vernichtung ergibt. Nicht so einfach ist es zu erklären, wieso der »wurzellose Kosmopolitismus« in der kommunistischen Bewegung zu einer todeswürdigen Beschuldigung werden konnte. Denn zum einen begriff man sich ja als Träger einer objektiven historischen Tendenz von globalem Ausmaß und war in diesem Sinne durchaus kosmopolitisch, zum anderen war ja gerade die Erkenntnis, dass der Proletarier kein Heimatland habe, Grundlage des eigenen internationalistischen Selbstverständnisses.

Mit dem Scheitern der Weltrevolution nach 1918, das die Gründung sozialistischer Nationalstaaten ­beförderte und damit auch die Herausbildung einer national-sozialistischen Ideologie, standen Internationalismus und Universalismus aber mit einem Mal gegeneinander. Der proletarische Internationalismus war nicht die kommunistische Version des bürgerli­chen Universalismus, sondern der Abschied vom Bewusstsein, das Erbe des verratenen Glücksversprechens antreten zu wollen. Folglich wurde der Kosmopolitismus als eine »unwissenschaftliche, äußerst reaktionäre Ideologie der imperialistischen Bourgeoisie« begriffen, wie es in Meyers Neuem Lexikon der DDR 1963 hieß: »Der K. verlangt den Verzicht auf das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung, auf staatliche Unabhängigkeit und Souveränität (…) Er wird bes. vom amerikanischen (…) Imperialismus propagiert, dessen Expansionsbestrebungen er apologetisch mit ›allgemein menschlichen Interessen‹ zu verschleiern sucht. Der K. ist eine demagogische, his­torisch unwahre Kritik der angeblich ›überlebten‹ und ›egoistischen‹ Ideen der nationalen Sou­veränität (…) Die Kehrseite des K. ist der bürgerliche Nationalismus. K. und Nationalismus sind dem proletarisch-sozialistischen Internationalismus und Patriotismus völlig entgegengesetzt.«

In der Sowjetunion war das Wort vom »wurzellosen Kosmopoliten« schlecht verkleideter Antisemitismus, der immer auch mit der Bezichtigung, Zionist zu sein, einherging. Ende der vierziger Jahre wurden diese, sich offensichtlich ja eigentlich ausschließenden Beschuldigungen zum Vorwand der letzten großen »Säuberung« Stalins, bei der es zuerst gegen »unpatriotische Theaterkritiker« und dann gegen »zionistische Ärzte« ging – vor allem aber um die Ausschaltung der weit über die jüdische Bevölkerung hinausgehen­den Solidarität mit Israel in der Sowjet­union. In vielen osteuropäischen Staaten wurden Westemi­granten verfolgt und hingerichtet, in der Tschecho­slowakei entledigte man sich der halben Parteiführung; in der DDR kam es wegen Stalins Tod nicht mehr zu den vorbereiteten Schauprozessen.

Unter dem Eindruck der deutschen Wiedervereinigung und des Zusammenbruchs des Ostblocks erlebte der Begriff des Kosmopolitismus eine vorläufige Wiederbelebung. Dem Sympathie heischenden Flirt vieler Linker mit dem erstarkenden Nationalismus wurde Kosmopolitismus als Antidot entgegengesetzt, in der Annahme, man müsse selbst auch positive Begriffe prägen. Aber die, die als Kosmopoliten verfolgt wurden, hätten sich zumeist nicht als solche bezeichnet; eine solche Tradition lässt sich beim besten Willen nicht herbeizitieren. Viel­mehr verweist das Bedürfnis nach einer solchen Tradition auf die Unfähigkeit der Linken zum Kosmopolitismus, weil es auf den Wunsch nach einer, und sei es nur historischen, Heimat verweist.