Hegel, Marx, Bakunin und der Staat

Subjektform ist die Uniform

Der Soldat, d.h. das »Bereitsein zur Aufopferung im Dienste des Staates« (Hegel), ist das Ergebnis der negativen Vermittlung von Bourgeois und Citoyen. Die Marx’sche Hegel-Kritik agiert unter diesem Niveau; so entstand der Staatsfetischismus.

Marxisten sind ein seltsames Völkchen. Soll man sie wegen ihrer ausgeprägten Neigung, ihr theoretisches Bedürfnis in die Marx’sche Kritik zu projizieren, fürchten, soll man sie beneiden des akademischen Mehrwerts halber, den das abwirft? Etwa wenn behauptet wird, Marx habe eine »Staatstheorie« entwickeln wollen, beginnend in der frühen, wie Thomas Schmidinger meint, »noch stark ›philosophisch‹ geprägten Phase seines Werkes« (Jungle World 05/09); insbesondere seinem Text »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« von 1843 sei dies abzumerken. Darin liegt die Projektion, einen Text, der ausdrücklich nicht die Hegelschen »Grundlinien der Philosophie des Rechts« behandelt, sondern, wie ein unbefangener Blick in den ersten Band der MEW zeigt, eine »Kritik des Hegelschen Staatsrechts« bieten will, und dies ausdrücklich nur in deren »§§ 261–313«, zu einem Ganzen zu stilisieren. Dieser Trick, das Unfertige der Kritik zum Kompletten von Theorie aufzublasen, prägt die Geschichte, Gegenwart und Zukunft der sozialdemokratisch-bolschewistischen wie der akademischen Marx-Rezeption. Der Lustgewinn, den das abwirft, besteht in der Installation des Basis-Überbau-Schematismus, dann folgt allerhand »Ableitungs«-Akrobatik. Schon die MEW-Redak­tion hat behauptet, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« behandle »den Abschnitt des Buches von Hegel, in dem die Frage des Staates behandelt wird«, und zum Beleg einen schematisch klappernden Engels angeführt.

Der strategische Sinn dieser zum Dogma gewordenen, allerdings aus der Luft gegriffenen These ist, den Staat unbedingt und immer nur im Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft betrachten zu wollen, d.h. keinesfalls und schon gar nicht von vornherein als den Souverän der kapitalen Nation, und sodann das dialektische Spiel der Vermittlung von Bourgeois und Citoyen anzudrehen, das regelmäßig in dem Marx-Zitat mündet, der Revolution sei es darum zu tun, dass »der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt«, darum also, dass »der Mensch (…) die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt«. Aus der Marx’schen Behauptung, Hegel scheitere an der Vermittlung und also: Versöhnung von Bourgeois und Citoyen, wird gefolgert, die Aneignung des im Citoyen, wenn auch nur abstrakt, so doch immerhin vorliegenden »Gattungswesens«, das sei sie schon: »die menschliche Emanzipation« (Marx).

Hier liegt der Staatsfetisch begründet, d.h. die Phantasmen, sei’s vom Sozialismus als Verfassungsauftrag wie bei Karl Kautsky und Wolfgang Abendroth – die, da hat Uli Krug (Jungle World 02/09) ganz recht, das Eigentum, das verpflichten soll, und den »Staat des ganzen Volkes« stimulieren –, sei’s vom Politischen als »Verdichtung von Kräfteverhältnissen«, das die Diskursmaschine antreibt. Dieser Lektüre kommt es darauf an, den Satz: »Der Staat ist der Mittler zwischen dem Menschen und der Freiheit des Menschen« zur Marx’schen Quintessenz zu erklären und daraus, je nach Temperament, den »sozialen Arbeiterstaat« (Kautsky) oder gleich die famose »Diktatur des Proletariats« zu folgern.
Allerdings hatte Marx niemals den Beweis führen können, Hegel sei an der Vermittlung von Bourgeois und Citoyen gescheitert, denn sein Gegenstand waren eben nur die Paragrafen 261 bis 313, d.h. bloß ein Auszug des Hegelschen »3. Abschnitts: Der Staat. § 257–360«, insbesondere »Das innere Staatsrecht. § 260–329«, und auch das nicht vollständig. Marx war noch, im Gegensatz zu Schmidingers These, nicht philosophisch genug, um materialistisch zu werden. Denn hätte Marx nur weitergelesen und -kritisiert, dann wäre ihm aufgefallen, dass Hegel in den §§ 321–329 »Die Souveränität gegen außen« behandelt, sodann »Das äußere Staatsrecht« darstellt und da eben die Vermittlung von Bourgeois und Citoyen gibt, deren Absenz Marx ihm ankreiden will: in der Gestalt des Soldaten. Vermittlung gibt es allerdings, nicht jedoch als Versöhnung, sondern als Tod, in der bedingungslosen Pflicht zum Töten und zum Opfer.

Der Staat darf, sagt Hegel, »nicht nur als bürgerliche Gesellschaft« betrachtet werden, sondern als die Nation in ihrer Grenze, die das »Hingeben der persönlichen Wirklichkeit« an den »absoluten Endzweck«, die »Souveränität des Staates«, impliziert. Der Soldat versöhnt, in äußerster Negativität, den konkreten Egoismus mit dem abstrakten Altruismus des in der Form des Subjekts konstituierten Individuums, er verkörpert das »Bereitsein zur Aufopferung im Dienste des Staates«. Die Subjektform ist die Uniform, Rechtsform ist Mordauftrag. Darin ist »das Interesse und das Recht des Einzelnen als ein verschwindendes Moment gesetzt«, also der Kamerad und Volksgenosse und letztlich die Verwandlung der bürgerlichen Gesellschaft ins Mordkollektiv, d.h. der »Umschlag der Gleichheit des Rechts ins Unrecht durch die Gleichen« und die Verwandlung der Subjekte aller Klassen in »eine hundertprozentige Rasse« (Theodor W. ­Adorno).
Die Marx’sche Kritik liegt systematisch unter dem Niveau der Rechtsphilosophie; sie erreicht nicht einmal die Negativität Hegels, geschweige denn: kritisiert sie. Dieser Materialismus ist noch gar keiner; er ist Standpunkt, nicht Inbegriff der Kritik an der Abstraktionsgewalt des Idealismus, die Hegel als der »metaphysische Denker des Kapitals« (Hans-Jürgen Krahl) re­flektiert. Was in dieser Tradition mit dem Anspruch auf »marxistische Staatstheorie« auftritt, muss nicht nur die Hegelsche Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft (die Marx in seinen besten Momenten – in der Wertformanalyse – als die von Theorie und Kritik materialistisch fortspinnt) negieren, sondern treibt zu böserer Staatsapologie als der des preußischen Staatsphilosophen.
Natürlich verdankt sich die Behauptung, der Staat sei »der Mittler«, der arbeitsfetischis­tischen Wendung, die Marx, noch ganz Frühso­zialist, dem Hegelschen Denken gab. Der Begriff des Kapitals war noch nur einer des Privateigentums: selbstentfremdete Darstellung der Arbeit. Hier nimmt eine marxistische Spökenkiekerei ihren Anfang, die das Kapital auf die Ursprungsmacht der Arbeit durchschaut, was auf den Satz von Friedrich Ebert führt: »Arbeit ist die Religion des Sozialismus«, der Gulag seine Kirche, und Stachanow ist sein Prophet. Nur in dieser Per­spektive kann der Staat als ein »Kampffeld« (Felix Klopotek, 03/09) erscheinen, nur so kann auf dem angeblichen Selbstwiderspruch der Repu­blik herumgeritten werden, die der vorgeblich »empirische« Marx (Schmidinger) der Frankreich-Schriften konstatiert: »Der umfassende Widerspruch dieser Konstitution besteht darin: Die Klasse, deren gesellschaftliche Sklaverei sie ver­ewigen soll, Proletariat, Bauern, Kleinbürger, setzt sie durch das allgemeine Stimmrecht in den Besitz der politischen Macht.« (MEW 7, S. 43). Virtuell sei der Staat schon der Sozialismus, ein seiner selbst unbewusster Agent der Allgemeinheit, daher der gebotene Hebel zur Vergesellschaftung: Der Rest ist Agitation, Politik, Parteiaufbau, dann 4. August 1914 sowie überhaupt die Verstaatsbürgerlichung der Klasse, ihre Transformation »vom Proletariat zum Arbeitertum«, deren Vollendung der deutsche Gewerkschaftsboss August Winnig 1934 lobte. Dass Marx von Hause aus Jurist war, wird, als Karikatur, noch als der Juristensozialismus sichtbar, der zum so genannten Grundwiderspruch von Lohnarbeit und Kapital passt.

Die marxistische Spökenkiekerei liegt einerseits darin begründet, dass das Kapital nicht als ein historisch zu seinem Begriff sich entfaltendes Verhältnis gefasst wird: zur klassenlosen Klassengesellschaft nach Maßgabe des Kapitals als des »automatischen Subjekts« (MEW 23, S. 169), als eine Geschichte, die zwischen der französischen Revolution und der Wannsee-Konferenz spielt – andererseits darin, dass das Denken glaubt, nichts vor sich zu haben, wenn es nichts hinter sich hat, daher zwanghaft aufs proletarische Subjekt sich abonniert, dann beim Übergang von Theo­rie in Kritik sich das Bein stellt, um einer schäbigen »List der Vernunft« sich zu ergeben. Noch im »Kapital« funktioniert diese fatale Übersetzung: Das Kapital sei, als Akkumulation um der Akkumulation willen, nur »Produktion um der Produktion willen«, was »nichts anderes heißt als Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte, also Entwicklung der menschlichen Natur als Selbstzweck« (MEW 26.2, S. 111). »Nichts anderes als«: So schlafwandlerisch wie zwanghaft übersetzt diese Formel das widervernünftige Unwesen des Kapitals, dessen nur Kritik innewürde, in das zutrauliche Wesen der Arbeit, für das Theorie gerade gut genug ist und jede Sprache, so sie nur »antikapitalistischen Jargon« plappert (Stephan Grigat, 04/09).
Gegen Thomas Schmidingers Aversion gegen eine »ahistorische Sicht auf einen als monolithisch gedachten Staat« ist dessen geschichtsphilosophischer Begriff zu unterstreichen, den ein anderer Hegel-Kritiker einschlägig so definierte: »Es ist offenbar, dass alle sog. allgemeinen Interessen der Gesellschaft, die der Staat angeblich vertritt, eine Fiktion bilden und der Staat gleichsam eine Schlächterei und ein ungeheurer Friedhof ist« (Michail Bakunin, Die Kommune von Paris und der Staatsbegriff, 1871). Mit Marx und Adorno braucht man dann nur noch zeigen, dass diese »Fiktion« alles andere ist als Manipulation oder Ideologie im landläufigen Sinne, sondern die in Geld und Recht, Kapital und Souveränität gesetzte Realabstraktion, und dass der Gegensatz zwischen der »Republik des Marktes« und der »Despotie der Fabrik« (Marx) in der Kaserne immer schon aufgehoben worden ist, allerdings negativ. Alles andere dagegen, der so genannte Marxismus insbesondere, treibt positive thinking.