Antisemitismus in Venezuela

»Attacke auf sich selbst«

Ende Januar fand ein Überfall auf eine große Synagoge in Caracas statt. Am Wochenende wurden elf Verdächtige festgenommen, darunter sieben Polizisten.

Ende gut, alles gut? Sieben Polizisten und vier Zivilisten wurden in der Nacht von Samstag auf Sonntag in der venezolanischen Hauptstadt verhaftet und beschuldigt, an einem Überfall auf die Synagoge Tiferet Israel am 30. Januar in Caracas beteiligt gewesen zu sein. Unter den Festgenom­menen befindet sich ein Detektiv des Cuerpo de Investigaciones Penales y Criminalísticas (CICPC, Korps für Straf- und kriminalistische Ermittlungen), fünf Offiziere der Policía Metropolitana (PM), ein Unterinspektor der Polizei von Caracas und ein ehemaliger Wächter der Synagoge, der bis Dezember diese Tätigkeit ausübte und auch als Begleitschutz eines Rabbiners arbeitete.
Am Sonntagabend äußerte sich der venezolani­sche Präsident Hugo Chávez zu dem Thema auf dem Kanal des Privatsenders Venevisión. Nach sei­ner Version hat der ehemalige Wächter der Synagoge die Attacke auf die Synagoge angeleitet: »Es gibt elf festgenommene Personen, und keine steht mit der Regierung in Verbindung. Es gab Stim­men aus der Opposition und irgendeinen Fernsehsender, die unmittelbar auf die Regierung wie­sen: ›Chávez ist der Schuldige.‹ Nun gut, es stellt sich heraus, dass es elf festgenommene Personen gibt und keine in Verbindung mit der Regierung steht.« Er fügte hinzu: »Dies ist eine Nachricht an die jüdische Familie – die mit uns lebt und zu der großen venezolanischen Familie gehört –, da­mit sie sich nicht manipulieren lässt.«
Dies war eine Anspielung auf Oppositionelle, die die Chávez-Regierung beschuldigt hatten, indirekt durch Schüren einer antisemitischen Stim­mung oder gar direkt in die Attacke auf die Synagoge verwickelt zu sein. Am kommenden Wochen­ende findet ein Referendum in Venezuela statt, mit dem darüber abgestimmt wird, ob durch eine Verfassungsänderung die Amtszeit des Präsidenten verlängert werden soll. Die Auseinandersetzungen darüber haben in den vergangenen Wochen zu einem low intensity chaos geführt, wie es die New York Times bezeichnete. Zudem waren Ende Januar vor einer Mitsubishi-Fabrik in Barcelona zwei Arbeiter bei einem Arbeitskampf von der Polizei erschossen worden.

Im Übrigen hatte der Gaza-Krieg die antiimperialistische Stimmung im Land angeheizt. Bereits am 6. Januar hatte die Chávez-Regierung den israelischen Botschafter des Landes verwiesen, um gegen den Gaza-Krieg zu protestieren, den Chá­vez Reuters zufolge als »Holocaust« an den Palästinensern bezeichnet hatte. Am 30. Januar protestierte das Simon-Wiesenthal-Zentrum gegen eine »antisemitische Kampagne« in Venezuela und verwies dabei auf einen »Aktionsplan«, der um den 20. Januar auf der Webpage Aporrea.org, einem Portal, das sich als »Volkskommunikation für den Sozialismus des 21. Jahrhunderts« vorstellt, veröffentlicht worden war. Der entsprechende Text hat den Titel »Wie Palästina gegen den künst­lichen Staat Israel verteidigen?« und stammt aus der Feder von Emilio Silva, einem Dozenten der Bolivarianischen Universität von Venezuela (UBV). Silva schlug unter anderem vor, »öffentlich, mit Namen und Nachnamen, die Mitglieder mächtiger jüdischer Gruppen« in Venezuela und ihre Unternehmen anzuprangern, um sie zu boykottieren, ebenso Geschäfte, Supermärkte und Restaurants, in denen koschere Lebensmittel verkauft werden; die Existenz jüdischer Bildungs­institutionen in Venezuela in Frage zu stellen, »massive und regelmäßige öffentliche Versammlungen nicht nur an der israelischen Botschaft, sondern auch an Sitzen jüdischer Organisationen« durchzuführen – wobei der Autor anmerkt: »Es ist gut, an die Existenz der im caraquenischen Sektor Maripérez gelegenen Synagoge zu erinnern« –; »öffentlich jeden Juden, den man auf der Straße, im Einkaufszentrum, auf Plätzen etc. trifft, aufzufordern, Position zu beziehen, indem man Parolen für Palästina und gegen (…) Israel ruft«. Auf internationaler Ebene solle u.a. »eine internationale Konferenz zur Entstehung des theokratischen nazifaschistischen Staats Israel (…) und eine andere rund um die Mythen und Wahrheiten des angeblichen Holocaust oder jüdischen Holomärchens« organisiert sowie die »mediale Kriminalisierung der he­roischen gerechten Kämpfe von Gruppen wie Hamas und Hizbollah« bekämpft werden.
Es dauerte zwei Wochen, bis die Redaktion von Aporrea.org den Artikel sperrte und einen offenen Brief von Martín Sánchez, Mitbegründer des Portals, veröffentlichte, in dem dieser Silva die Propagierung von »Aktionen faschistischen Charakters« und Holocaustleugnung vorwarf. Er schloss mit den Worten: »Wenn Sie kein Antisemit sind, demonstrieren Sie das!« Worauf Silva in einem langen Interview mit dem staatlichen Radiosender YVKE Mundial erklärte, er sei kein Antisemit, sondern »Antizionist«.
Mittlerweile hatte der Überfall auf die Synagoge in Mariperéz international für Aufsehen gesorgt, und Chávez verurteilte AFP zufolge am 4. Fe­bruar auf einer Militärparade in Maracay die Attacke erneut. Er sagte demnach: »Sie klagen mich an, antisemitisch zu sein. Ich hasse die Juden nicht, und ich rufe die Juden Venezuelas auf, sich nicht benutzen zu lassen«, und zwar »von den Laboratorien der Bourgeoisie«, die versuchten, das »Ja« im Referendum zu verhindern.

Doch der Angriff auf die Synagoge hat bereits ein neues Stichwort hervorgebracht, das die anti­imperialistische Debatte auf Aporrea.org und in offiziellen Medien beflügelt: autoataque oder auch autoatentado, also »Attacke« oder »Attentat auf sich selbst«. Den Anfang machte ein Artikel von Ivana Cardinale für YVKE, der am 31. Januar auf Aporrea.org veröffentlicht wurde und in dem es hieß, »die putschistische Opposition (…) in Komplizenschaft mit der, selbstverständlich antichavistischen, jüdischen Gemeinde« habe die Synagoge angegriffen (autoatacan), »um ein weiteres Mal Chávez zu beschuldigen«. Das lässt sich ausbauen: Ist nicht vielleicht in Wirklichkeit der Mossad für den Angriff auf die Synagoge verantwortlich, wie es der Historiker Vladimir Acosta am 2. Februar in einer Sendung von Radio Nacional de Venezuela behauptete?