Die Krise der linken Ideologien

German Leftist Problems

Mit Europa gegen den anglo-amerikanischen Neoliberalismus, mit Amerika gegen den deutschen Etatismus – auch die linken Ideologien sind in die Krise geraten.

Die marodesten Unternehmen erwischt es in der Krise als erstes, und was vom Markt überhaupt gilt, gilt auch für den der Ideologien. Wer noch nie viel davon gehalten hat, den starken Staat gegen den entfesselten Markt auszuspielen oder umgekehrt, kann zurzeit mit Genugtuung verfolgen, wie die rapiden Umbrüche der vergangenen Monate die euro-patriotischen Apologeten des Staats ebenso in die Bredouille bringen wie die an­tifa­schis­tisch drapierten des amerikanischen Liberalismus.
Exemplarisch für jenes muss Attac derzeit die Übernahme seines Programms durch Regierungen in aller Welt zur Kenntnis nehmen. Das lässt sich als Erfolg verbuchen, macht aber zugleich deutlich, dass es sich bei Forderungen nach Regulierung der Finanzmärkte, Begrenzung der Manager­gehälter, Schließung von Steueroasen und dergleichen mehr keineswegs um den Anbruch einer »anderen Welt« handelt, die Attac seit je verkündet, sondern um politische Maßnahmen, die zur Stabilisierung der Verhältnisse höchst willkommen sind. Vor allem aber zeigt sich gegenwärtig in aller Dramatik, dass die Alternative zum »globalisierungskritisch« gegeißelten Freihandel nur die Regression aufs Nationale ist.
Während sich die Staatsführer auf internationalen Konferenzen versichern, der Welthandel sei stärker zu regulieren, dürfe aber keineswegs einem neuen Protektionismus weichen, sind sie längst dazu übergegangen, ihren angeschlagenen nationalen Kapitalen unter die Arme zu greifen und strengstens darauf zu achten, dass kein Cent ihrer Konjunkturprogramme ins Ausland fließt. Was diese Re-Nationalisierung so bedrohlich macht, ist der Zuspruch, auf den sie bei den um ihre Zukunft bangenden Lohnabhängigen trifft. Erste Aufgabe jeder fortschrittlichen Bewegung wäre es, dieses hässliche Gesicht der staatsoffiziell praktizierten Globalisierungskritik rücksichts­los zu kritisieren. Bei Attac findet sich keine Spur einer solchen Kritik – den europäischen Staatschefs wird vielmehr vorgeworfen, den Welthandel weiter öffnen zu wollen.

Nicht minder verwirrt stehen derzeit jene Linken da, deren Weltbild sich spiegelbildlich zum globalisierungskritischen verhält. Gilt den einen der entfesselte Markt als das Übel schlechthin und mehr Staat als die Rettung, tritt der Staat hier als Verkörperung einer autoritären Gemeinschaft auf, die das vom Markt repräsentierte Glücksversprechen der bürgerlichen Gesellschaft kassiere. Erblicken die einen den Hauptfeind im anglo-ame­rikanischen »Neoliberalismus«, haben die anderen sich auf den europäischen und insbesondere deutschen Etatismus eingeschossen und entdecken in den USA den letzten Abglanz vernünftiger Verhältnisse: »Die Unversöhntheit, der reale Zynismus des Kapitals« liege anders als in Europa in Amerika offen zutage, hieß es 2002 programmatisch in der Zeitschrift Bahamas, und »diese Schroffheit und eben nicht ihre sozialstaatliche und kulturelle Einebnung ist aber nach Marx eine Voraussetzung der Revolution«.
Treffgenau waren derartige geografische Veror­tungen noch nie, schon immer haben sie über der gegensätzlichen Konstitutionsgeschichte des Kapitals in den USA und Deutschland übersehen, dass die Konstellationen von Staat und Markt allerorten einem steten Wechsel unterliegen, und eine Kritik des Sozialstaats, die den ungemilderten »Zynismus des Kapitals« zur Vorbedingung besserer Verhältnisse erklärt, ist nur Verelendungs­theorie.
Dass die Annahme, Staaten seien durch ihre Tra­ditionen fest auf Etatismus oder Liberalismus abonniert, im Zuge der Krise erst recht brüchig wird, wurde zuletzt unfreiwillig in dieser Zeitung vorgeführt. Als der amerikanische Wirtschafts­nobelpreisträger Paul Krugman in seinem New York Times-Blog angesichts der Weltwirtschaftskrise ein German problem entdeckte, fand er prompt ein zustimmendes Echo. Unter der Überschrift »Zu dumm für die Krise« (Jungle World 51/2008) wurde nach altbekanntem Muster die Bundesregierung kritisiert: »Der kleinste gemein­same Nenner der großen Koalition besteht in ihrem Glauben an den starken Staat und die Nation. Sie führt damit fort, was Gerhard Schröder in seiner Regierungszeit als neues nationales Selbst­bewusstsein bezeichnete« – obwohl Krugmans Be­fund nichts mit dem zu tun hatte, was gemeinhin als German problem gilt. Tatsächlich warf er der Bundesregierung das exakte Gegenteil vor: Eine auch vom Jungle World-Autor konstatierte Untätig­keit im Angesicht einer schweren Krise, die entschlossenes staatliches Handeln erfordere, also eben jenes Laissez-faire an den Tag zu legen, das doch gerade Ausweis der amerikanischen Zivilisa­tion sein soll. Die Weltwirtschaft, so Krugman wenig später, befinde sich in einem »furchterregenden Sturzflug«, »doch Herr Steinbrück stellt sich jeglichen außerordentlichen finanzpolitischen Maßnahmen entgegen und denunziert Gordon Brown für seinen ›groben Keynesianismus‹«.
Das traf die globale Konstellation zu Beginn der Krise recht gut und hätte Anhänger des erwähnten Weltbildes ins Grübeln bringen müssen. Fast schienen die Akteure ihre Rollen kurzerhand getauscht zu haben: Während in Großbritannien und den USA eine Bank nach der anderen verstaatlicht wurde und Barack Obama das größte Konjunkturpaket der Geschichte vorbereitete, das obendrein zunächst Buy American-Klauseln enthalten sollte, hatte die deutsche Regierung offenbar ihre Liebe zum liberalen Nachtwächterstaat entdeckt und unternahm vergleichsweise wenig gegen die hereinbrechende Krise. Weil dies beim besten Willen nicht als Indiz für deutschen Etatismus zu werten war, erschöpfte sich die Kritik in dem Jungle World-Text in der Tautologie, dass in Berlin die Maxime gelte: »Richtig ist, was Deutschland nützt« – als könne eine Regierung anderes verfolgen als den Nutzen für den eigenen Staat.

Inzwischen ist auch der deutsche Staat zu hektischem Krisenmanagement übergegangen. Gleich­wohl zeigt die Weltbourgeoisie wenig Neigung, sich gemäß den Schemata der deutschen Linken hie liberalistisch, da etatistisch aufzuführen. Überall verfolgt sie das selbe Programm, verstaat­licht Banken, rettet nationale Unternehmen, doktort an der Konjunktur herum, appelliert an den Gemeinschaftssinn und übt moralisierende Managerschelte – als Einschwörung der Subalter­nen auf den Verzicht, der auf sie zukommen wird. Nicht nationale Traditionen oder die »deutsche Ideologie« rufen den starken Staat und autoritäre Gemeinschaftsrhetorik auf den Plan, son­dern das Versagen des freien Marktes, in Amerika wie hierzulande.
Manche pro-westlichen Linken gehen in dieser Situation offen zum Konservatismus über. War es eben noch seine vermeintliche Revolu­tions­taug­lichkeit, die sie den amerikanischen Liberalismus preisen ließ, so gilt es nun, den »Westen« vor der Revolution zu retten. »Dass es Kommunisten gibt, die allen Ernstes im Herbst 2008 die Revolution als Krisenlösung empfehlen«, so die Redaktion Bahamas, »stellt nachhaltig unter Beweis, dass hier lediglich am eigenen Leben verzweifelnde Menschenhasser den westlichen Gesellschaften ein Ende mit Schrecken herbeiwünschen«. Dass die auf dem Wert basierende Ökono­mie höchstselbst es ist, die schnurstracks auf eine »Ende mit Schrecken« zusteuert, wird kurzerhand verdrängt.
Als es 1873 an den Börsen krachte, äußerte Marx die Hoffnung, die Krise werde »durch die All­seitigkeit ihres Schauplatzes, wie die Intensität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen heiligen, preußisch-deutschen Reichs Dialektik einpauken«. Mehr als 100 Jahre später stellen Globalisierungskritiker und pro-westliche Linksliberale unter Beweis, dass sie auf Dialektik pfeifen und sich lieber im Gegensatz von Markt und Staat verheddern.