Serie über Serien: »X-Faktor«

Die Graffiti-Verschwörung von Pearl Harbor

Serie über Serien. Die Mystery-Serie »X-Faktor: das Unfassbare« ist vor allem eins: unfassbarer Trash.

Es ist Sonntag circa neun Uhr. Nichts Böses ahnend, schalten Sie auf den unfassbar seriösen Sender RTL2. Ein großes X leuchtet auf, eine schreiende Frau, ein Werwolf, dann eine unheimliche Stimme: »Wir leben in einer Welt, in der Traum und Wirklichkeit nah beieinander liegen, in der Tatsachen oft wie Phantasiegebilde erscheinen, die wir uns nicht erklären können. Können Sie Wahrheit und Lüge unterscheiden? Dazu müssen Sie über Ihr Denken hinausgehen und Ihren Geist dem Unglaublichen öffnen.«
Mystery-Fans ahnen es schon: Es handelt sich um die Kultserie »X-Faktor: das Unfassbare«. Das Wort »Kult« ist hier keinesfalls falsch gewählt. Zu kultischen Handlungen versammeln sich Menschen, um mit einer konkreten oder abstrakten überirdischen Wesenheit in Verbindung zu treten. Abstrakte, überirdische Begebenheiten – parapsychologische Ereignisse – sind fester Bestandteil der Sendung. Dem Zuschauer werden fünf unfassbare Geschichten gezeigt. Einige von ihnen sind wahr, andere wurden von einem der genialen Serienautoren erfunden. Der Zuschauer wird somit vor ein Rätsel gestellt, das erst gegen Ende der Sendung aufgelöst wird. Wer könnte besser durch solch eine Sendung führen als der mysteriöse Commander William T. Riker? Niemand. Deshalb wurde der ehemalige Moderator der Sendung, James Brolin, schon nach der ersten Staffel von Jonathan Frakes aka Commander Riker ersetzt.
Scheinwerfer schwenken wirr umher, Antiquitäten sind zu sehen und endlich ein bekanntes Gesicht: Jonathan Frakes betritt das Studio. Sein Auftritt ist das erste Mysterium der Sendung: Wer um Himmels Willen gibt denn nun die Anweisungen im Raumschiff Enterprise? Trägt er unter seinem schwarzen Anzug seine rot-schwarze Uniform? Fragen, die während der gesamten Sendung zusätzlich für innere Unruhe beim Zuschauer sorgen. »Ich bin Jonathan Frakes«, verkündet der Moderator und stellt gekonnt einen Fuß auf einen Hocker. Es folgt eine Anekdote, deren Inhalt keinen Sinn ergibt und in keinem Zusammenhang mit dem Rest der Sendung steht.
Frakes führt nun eine visuelle Täuschung vor, die zeigen soll, wie unfassbar schmal der Grat zwischen Illusion und Wirklichkeit ist. Mysteriös. Es folgt die erste Geschichte: »Graffiti«, sie spielt in den USA.
Johnny ist als Krawallmacher an seiner Schule bekannt. Nachdem das Schulgebäude mehrfach mit den Worten »Denkt an Pearl Harbor« verziert wurde, gerät er ins Visier der Schulleitung. Zum Ärger des Direktors hat Johnny allerdings ein Alibi für die Tatzeit. Interessanterweise entstanden die Graffiti zwei Tage vor dem japanischen Überraschungsangriff auf die US- Pazifikflotte vor Pearl Harbor, von dem zu diesem Zeitpunkt wohl kein US-Bürger wusste.
Unglaublich. Gab es damals etwa schon Sprühdosen? Die 45 Minuten Sendezeit werden immer spannender. Kaum ist die fünfte Story ­erzählt, gibt es eine Zusammenfassung aller fünf Geschichten.
Damit die Zuschauer dem endlosen Wahnsinn entgehen, kommt nun die Auflösung. ­Zusammengekauert, stark transpirierend greifen Sie nach der Fernbedienung und stellen ­Ihren Fernseher lauter. Frakes gibt zum Grande Finale noch mal alles und stellt seine Eloquenz unter Beweis. Nach der Zusammenfassung der Folge »Chefkoch« fragt er Sie: »Hat sich diese Geschichte wirklich so zugetragen, oder wollten unsere Autoren Ihnen die Suppe versalzen?« Die Geschichte »Graffiti« soll sich »so ähnlich irgendwo im mittleren Westen der USA« zugetragen haben. So ähnlich? Was soll das heißen? War der junge Mann in Wirklichkeit der Hausmeister, der die Toilettenwände mit ähnlichen Worten beschmiert hat wie: »Denkt daran, euch die Hände zu waschen«? Mit der Ortsangabe lässt sich auch nur schwer recherchieren, ob Frakes die Wahrheit spricht. Die Sendung endet mit einem kessen »Ich bin ­Jonathan Frakes«.