Sollen Linke das Europa-Parlament wählen? Wer sonst?

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Die Linke ist internationalistisch, oder sie ist keine Linke. Und sie ist aus grundsätzlichsten Überzeugungen proeuropäisch. Deshalb muss man auch das Europa-Parlament (EP) ernst nehmen.

Auf die Frage »Warum sollen Linke das Europa-Parlament wählen?« kann es nur eine Antwort geben: Wer denn sonst?! Waren die europäische Einigung und die Schaffung eines europäischen Parlaments nicht auch eine Idee des Frühsozialisten Saint-Simon? Und sind die realen Bestrebungen nach 1945, europäischen Nationalismus und Krieg durch eine europäische Integration zu überwinden, nicht maßgeblich aus den gemeinsamen Erfahrungen des Widerstandes gegen den deutschen Nationalsozialismus und den italienischen Faschismus entstanden, so bei Heinrich Mann oder bereits im »Manifest von Ventotene«? Klar, die damaligen sozialistischen Visionen (»Die europäische Revolution muss sozialistisch sein … «) sind niemals in Angriff genommen worden und selbst Jacques Delors’ Vorschlag aus den achtziger Jahren (»Den Binnenmarkt kann man nicht lieben«), eine europäische Sozialunion und eine Wirtschaftsregierung zu bilden, wird nicht einmal mehr diskutiert. Die Linke ist internationalistisch, oder sie ist keine Linke. Und sie ist aus grundsätzlichsten Überzeugungen proeuropäisch: »Der Nationalstaat ist unzulänglich geworden. Seine politischen Einrichtungen können der globalen Probleme nicht Herr werden.« (Oskar Lafontaine 1988)

Klar, die europäische Realität ist eine andere: antisozial in Europa und gegenüber dem Süden der Erde nicht sehr demokratisch, und sie hat eine militärische Tendenz. Also muss man für ein anderes Europa, für eine andere europäische Politik streiten. Ich weiß: Wahlen ändern nicht viel, alleine sogar gar nichts. Nichtwählen ändert ebenso wenig. Das Parlament selbst hat eine aufwändige Werbekampagne inszeniert, in der unter anderem behauptet wird, die Wählerinnen und Wähler könnten mit ihrer Stimme etwa darüber entscheiden, ob EU-Europa seine Energie atomar, fossil oder solar und ökologisch produzieren solle.
Ja, darum könnte es durchaus gehen, aber entschieden wird dies weder am 7. Juni, noch im Europäischen Parlament. Ein guter, lieber Genosse aus Hamburg tröstet uns alle in einer Massen-E-Mail, man könne immerhin das Parlament als »Tribüne sozialistischer Politik« nutzen. Die Vorstellung stimmt milde und heiter, wie der Sozialismus in den üblichen ein oder zwei Minuten plenarer Redezeit seine Tribüne findet und die Linke endlich der verpönten Sisyphusarbeit an der intellektuellen Veränderung des geistigen und kulturellen Klimas, an politischer Kleinarbeit, programmatisch-strategischer Auseinandersetzung und Organisation oder Vernetzung sozialer Bewegungen und Kämpfe ledig wird. Ärgerlich ist allerdings die Tatsache, welche ignorante Arroganz sich in dieser wohlmeinenden linken Werbung für das EP offenbart.

Der Alltag von rund einer halben Milliarde Menschen wird in vieler Hinsicht inzwischen durch europäische Verträge, Richtlinien, Verordnungen und gemeinsame Regierungsbeschlüsse bestimmt. In vielen Fällen, vor allem sozial-, beschäftigungs-, finanz- und wirtschaftspolitisch negativ, in nicht wenigen (Verbraucher- und Umweltschutz, Arbeitszeit- und Mutterschutzregelungen beispielsweise) auch positiv. Auf jeden Fall ist die EU eine machtvolle Realität, ohne deren Änderung die Realität unseres sozialen und politischen Alltags in Polen, Frankreich oder Deutschland nur unzureichend geändert werden kann. Und: Wem Menschen wirklich wichtig sind, der kämpft nicht nur um ihr sozialistisches Jenseits, sondern erst einmal um ihren heutigen Alltag.
Der Einfluss des EP ist beschränkt, aber nicht gering. Und auch nicht jener der Linken im Parlament. Das ist allerdings keine Frage von Reden und Abstimmungen, sondern eben jene der in der Linken weniger geschätzten Kleinarbeit an Gesetzen, Änderungsanträgen, Organisation mit parteiübergreifenden Mehrheiten und der mühseligen Organisation öffentlichen europäischen Drucks. Ohne die intensive und sehr effektive Zusammenarbeit mit den europäischen Hafenarbeitergewerkschaften und deren heftigen Widerstand wären die Mehrheiten gegen die marktradikale Hafendienstleistungsrichtlinie nicht zustande gekommen. Ohne solche Arbeit hätten die Regierungen ihre manchesterkapitalistischen Arbeitszeitvorstellungen durchsetzen können. Die Welt und Europa werden nicht über die Wahlen zum Europäischen Parlament geändert. Da ist viel, viel mehr zu tun. Ohne energischste intellektuelle Arbeit und ohne soziale Kämpfe geht nichts. Davon ist bislang wenig zu spüren, und die Linke redet lieber darüber, als sich praktisch in die Pflicht zu nehmen. Aber wählen zu gehen und Links so stark wie möglich zu machen – das wenigstens müsste doch möglich sein.

Der Autor ist seit 1999 für die PDS, später Linkspartei Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Dieses Jahr hat er von seiner Partei keinen Listenplatz mehr bekommen und scheidet daher nach den Wahlen aus.