Daniel Goldhagens neues Buch »Schlimmer als Krieg«

Bitte eine Debatte!

Bemerkungen zu Daniel Goldhagens Buch über die Entstehungsbedingungen von Genoziden.

Bitte keine Debatte« über Goldhagens neues Buch! Das forderte der Kommunikationswissenschaftler Harald Welzer in der Zeit vom 15. Oktober. Ein Debatten-Boykott? Den hatten wir doch schon mal. Genau vor 13 Jahren, als Goldhagens Buch »Hitlers willige Vollstrecker« in Deutschland erschien, verweigerten die weitaus meisten deutschen Historiker den Diskurs und versuchten, den Autor totzuschweigen. Das gelang jedoch nicht ganz. Vor allem im Feuilleton riefen die Thesen des Autors eine Debatte hervor, die als Goldhagen-Kontroverse in die Historiografiegeschichte eingegangen ist. Diskutiert und scharf zurückgewiesen wurde zum einen Goldhagens Behauptung, dass »die Deutschen« die Juden aus antisemitischen Motiven ermordet hätten, und zum anderen die – keineswegs nur von Goldhagen vertretene – These, dass der Holocaust einen singulären Charakter gehabt habe.
Von beiden Thesen hat sich Goldhagen in seinem Buch »Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist« verabschiedet. Wennn das kein Anlass ist, über Goldhagen und möglichst auch mit ihm eine neue Debatte zu führen!
Genau dies möchte ich tun, wobei ich bewusst »ich« sage und den Standpunkt des neu­tralen Rezensenten verlasse. Schließlich habe ich mich schon an der ersten Goldhagen-Debatte beteiligt und den Autor gegen die ungerechtfertigten Angriffe der meisten meiner Historikerkollegen verteidigt. Ich war oder soll sogar der einzige deutsche Fachhistoriker gewesen sein, der für Goldhagen Partei ergriffen hat. Ich bin daher immer noch parteiisch. Doch wie weit kann diese Parteinahme gehen?
Dass Goldhagen jetzt anerkennt, dass es in der NS-Zeit nicht einen, sondern zwei Völkermorde gegeben hat, für die »die Deutschen« verantwortlich waren, findet meine Zustimmung. Mit dem zweiten Völkermord ist der »Porrajmos« (das Ver­schlungene) genannte Völkermord an den Roma gemeint. Er wird zwar äußerst knapp behandelt, dennoch ist Goldhagen zuzustimmen, wenn er schreibt, dass »der Holocaust zusammen mit der gleichzeitigen Ermordung der Sinti und Roma der einzige im Ausland verübte Massenmord« gewesen ist, »den die Täter nicht zum Zwecke der Gebietserweiterung oder der territorialen Konsolidierung in Gang setzten«.
Nicht zu kritisieren ist es, dass Goldhagen jetzt auch nicht von Deutschen ausgeübte Völkermorde behandelt – vom Genozid »der Türken« an den Armeniern bis hin zum Genozid »der Hutus« an den Tutsis. Goldhagen hat damit die Thesen und Methoden der internationalen Genozid-Forschung übernommen, die in Deutschland noch immer wenig beachtet wird. Dafür ist jedoch nicht nur ein zu Recht beklagter Germanozentrismus, sondern auch die Furcht maßgebend, dass durch eine vergleichende Betrachtung anderer Genozide die Besonderheit der deutschen Genozide (an Juden und Roma) geleugnet oder verkannt werde.
Zu kritisieren ist, dass Goldhagen bei den Genoziden nicht stehen bleibt, sondern auch andere Massenverbrechen behandelt, die nicht als Genozide anzusehen sind und von der internationalen Genozidforschung auch nicht als solche definiert werden. Gemeint sind die Klassenmorde in der Sowjetunion unter Stalin, in China unter Mao Zedong, in Kambodscha unter Pol Pot etc.
Absolut kein Verständnis habe ich dafür, dass darüber hinaus auch alle möglichen anderen Verbrechen in die Analyse miteinbezogen werden, die mit Klassenmorden, Genoziden oder gar dem Holocaust nun wirklich kaum noch etwas gemein haben. So behandelt Goldhagen den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima durch die Vereinigten Staaten und führt so unterschiedliche Verbrechen in so unterschiedlichen Ländern wie Bangladesh, Bosnien, Guatemala, Indonesien, Kenia etc. an. All diese Verbrechen, die von Goldhagen als »Massaker«, »Masseneliminierungen«, »Massenmorde« »Massenvernichtungen« etc. bezeichnet werden, subsumiert er unter dem Begriff des »Eliminationismus«.
Formen und Methoden des »Eliminationismus« sollen sein: 1. die Transformation der kulturellen und sozialen Identität einer Gruppe, 2. ihre Unterdrückung, 3. Vertreibung (übrigens auch der Deutschen aus den Ostgebieten durch die »eliminatorischen Kampagnen« Polens und der Tschechoslowakei), 4. Reproduktionsvernichtung, 5. Vernichtung.
In Goldhagens »Naturgeschichte der Massen­eliminierung« wird dies auf fast 700 Seiten ausgebreitet. Dabei geht es kreuz und quer und rund um den Globus. War man eben noch bei »den Deutschen« und dem Holocaust, ist man auf den folgenden Seiten in Kambodscha bei den Roten Khmer. Das hat mich schon etwas verwirrt. Mit Kopfschütteln habe ich auch Sätze und Sentenzen wie die folgenden aufgenommen:
»Die politische Führung ist der entscheidende Faktor: In einigen Fällen bringt sie Staaten oder Gruppen dazu, Massenmorde zu begehen. In anderen Fällen, in denen die Möglichkeit dazu bestünde, nimmt sie davon Abstand.«
»Massenvernichtung oder -eliminierung beginnt, wenn Entscheidungsträger unter dem Einfluss einer eliminatorischen Ideologie entschlossen sind, weithin vorhandene eliminatorische Gefühle in eine staatliche Vernichtungs- und Ausschaltungspolitik umzusetzen.«
»Es kommt zu Massenmord und -eliminierung, weil sich Anführer angesichts vermeintlich günstiger Umstände dazu entschließen, ihre ›Probleme‹ einer vollständigen oder annähernden ›Endlösung‹ zuzuführen, wobei sie gewöhnlich verschiedene eliminatorische Maßnahmen kombinieren.«
»Sobald die politische Führung sich zur Masseneliminierung entschieden und die Leute für deren Durchführung bestimmt hat, muss sie ihre eliminatorische Vorstellung in eliminatorische Projekte umsetzen.«
»Eliminierungspolitik ist wie Kriegspolitik eine Politik zweckdienlichen Handelns, um bestimmte politische Ergebnisse herbeizuführen, die oft höheren Zielen dienen und oft einer Umverteilung der Macht.«
»Die meisten Machthaber, die sich zur Eliminierung größerer Gruppen von Menschen entschließen, verspüren das brennende Verlangen danach.«
Was hier wie eine gemeine Blütenlese eines noch gemeineren Rezensenten wirkt, sind ernst gemeinte Thesen des Buches. Goldhagen begründet mit einer derartigen Diagnose zur Entstehung von Völkermord auch seine Therapie zur Verhinderung von Genoziden. Und hier wird es unter der Überschrift »Was wir tun können« nun wirklich abstrus, versteigt Goldhagen sich doch zu folgendem, durchaus ernst gemeinten Maßnahmenkatalog zur »Prävention« von Genoziden: »Prävention heißt im weitesten Sinne, Bedingungen zu schaffen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eliminatorische und exterminatorische Politik verhindern. Ein internationales politisches Präventionsregime – Gesetze, Institutionen und Maßnahmen – würde effektiv auf Umstände hinarbeiten, die Machthaber davon abhalten, sich für Eliminierungspolitik zu entscheiden.«
Konkret schlägt Goldhagen vor:
1. Die Bevölkerung eines Staates, in dem ein Massenmord geschieht, über Flugblätter, Radio und Internet davon zu unterrichten, damit sie sich später nicht auf Nichtwissen berufen kann.
2. Prämien für die Ergreifung der Verantwortlichen, »tot oder lebendig«, auszuloben: zehn Millionen Dollar für die Anführer, eine Million für jeden Minister, 100 000 für die führenden Polizisten.
3. Das Völkerrecht zu ändern und bei der Strafverfolgung nicht die »schwerfälligen und ungemein komplizierten Normen der strafprozessualen Beweisaufnahme« des bisherigen Internationalen Strafgerichtshofs anzuwenden, wobei die »automatisch Schuldigen« mit dem Tode oder lebenslanger Haft zu bestrafen sind.
4. Ad-hoc-Interventionsgruppierungen zu bilden, die dann Interventionskriege nicht nur führen dürfen, sondern auch sollen.
Ich breche angewidert ab. Denn so geht es nicht. Ein nach eigenem Bekunden einer »Verantwortungsethik« verpflichteter Forscher darf sich nicht zu derartigen inhumanen und unethischen Vorschlägen hinreißen lassen. Für ein völkerrechtswidriges Interventionsrecht zu plädieren, ist nicht hinnehmbar. Darüber kann und will ich mit Goldhagen nicht debattieren. Wohl aber über seine Abkehr von der Singula­ritätsthese. Vielleicht bin ich als 1945 geborener Sohn eines (vermutlichen) deutschen Täters, der in Schule und Universität auf so viele andere deutsche Täter getroffen ist und der sich als Historiker so lange und so intensiv mit ihren Taten beschäftigt hat, einfach zu alt und zu deutsch, um mich mit jüngeren und nicht-deutschen Tätern so intensiv zu beschäftigen, wie es Goldhagen als Sohn eines Opfers getan hat. Dies ist anzuerkennen, und hier sollte Goldhagen der Diskurs nicht verweigert werden. Bitte, eine Debatte!