Über das Jazz-Festival in Berlin

It must schwing!

Ist der Jazz die Klassik des 20. Jahrhunderts? Beobachtungen beim Jazz-Fest in Berlin.

Was für eine Woche in Berlin: 20 Jahre Mauerfall, die MTV-European Awards und obendrein das Jazz-Fest 2009 mit dem Motto »70 Jahre Blue Note«. Die beiden Gründer des Labels Blue Note, Alfred Lion und Francis Wolff, waren gebürtige Berliner. Und beide waren sie Juden, die vor dem Zweiten Weltkrieg nach New York emigrierten. Lion war Jazzliebhaber und Wolff ein den Jazz liebender Fotograf. Seine grobkörnigen Porträts von Musikern im Halbdunkel mit viel Zigarettenqualm prägen die Ästhetik des Jazz bis zum heutigen Tag und schmücken viele Blue-Note-Plattencover.
Der Label-Name Blue Note wurde abgeleitet von den für die Jazzmusik typischen »Blue Notes« – jenen Tönen, die den Blues-Charakter einer Musik prägen. Bereits 1939 mietete Alfred Lion in New York ein Tonstudio an, es sollte aber bis in die fünfziger Jahre hinein dauern, dass sich ein stilprägendes und vor allem auch lukratives Musiklabel entwickelte. So veröffentlichte das Label Klassiker von Legenden wie Bud Po­well, Miles Davis, John Coltrane oder Ornette Coleman. Viele Platten aus den fünfziger und sechziger Jahren, die vom Toningenieur Rudy van Gelder aufgenommen wurden, werden noch heute von Produzenten wegen ihrer Klang­ästhetik als Hörbeispiele herangezogen, wenn es um die Frage geht, wie eine Jazzaufnahme klingen muss. »It must schwing«, sollen die beiden längst verstorbenen Plattenfirmenbosse mit ihrem deutschen Akzent stets gefordert haben, während sie den Aufnahmesessions beiwohnten.
Blue Note war nicht nur eine Plattform für bereits etablierte Jazzgrößen, das Label hatte und hat auch ein gutes Gespür für junge Künstler mit neuen Ideen. So begannen Musiker wie Art Blakey, Herbie Hancock, Stanley Turrentine oder Wayne Shorter ihre Karriere bei Blue Note.
Der Eröffnungsabend des Jazz-Festes 2009 wurde von dem 36jährigen Westafrikaner Lionel Loueke bestritten. Der Gitarrist wurde für Blue Note von Herbie Hancock entdeckt. Begleitet von Bass und Schlagzeug, hörte sich sein Spiel in etwa so an, wie der Woodstock-Musiker Richie Havens in einer Folge »Futurama« klingen würde.
Im Anschluss spielte das Quartett um-Trompeter Terence Blanchard, begleitet vom Filmorchester Babelsberg. Regisseur Spike Lee hat einen Dokumentarfilm über den Hurricane »Katrina« gedreht. An diesem Abend gab es zu Fotografien der vom Orkan angerichteten Verwüstungen Musik aus dem Soundtrack zu hören: »A Tale Of God’s Will: A Requiem For Katrina«. Das Ganze hörte sich aber eher nach dem orchestralen Jazz eines George Gershwin, Gil Evans oder Duke Ellington an. Ohne die prätentiösen Ansagen des Trompeters und die Bilder der Katastrophe an der Saalwand wäre man nicht im Traum darauf gekommen, dass die Musik von einer Naturkatastrophe erzählen soll, die eine Stadt wie New Orleans – die Herkunftsstadt von Terence Blanchard – auf dem Gewissen hat.
Aber auch für Freunde der vertonten Katastrophe hat das Jazz-Fest – losgelöst vom Blue-Note-Jubiläum – gesorgt. Der kakophonische Höhepunkt: das Barry Guy New Orchestra mit dem Noise-Gitarristen Elliott Sharp aus dem New Yorker John-Zorn-Umfeld als besonderem, lärmendem Gast. Was dieses zwölfköpfige Kollektiv zwischen komponiertem Freejazz und Neuer Musik auf der Bühne bewusst verunglücken ließ, spaltete den Saal rasch: Viele verließen den Raum in Windeseile oder buhten; die anderen nahmen den Baustellenlärm mit Jubel auf.
Erstaunlich war jedenfalls, dass ein simples Lärmcrescendo, erweitert um industrie-loftiges Metallgitarrengewitter und Paukengedonner, ein Oberstudienratspublikum dermaßen auf die Palme bringen kann: »Das ist doch kein Jazz!« hörte man die verärgerte Fraktion später beim Cabernet Sauvignon am Tresen des Berliner Ensembles schimpfen.
Wer geblieben war, wurde noch belohnt: Die britische Jazzbasslegende Dave Holland trat am gleichen Abend mit dem Overtone-Quartett auf, welches am Flügel mit der weltweit größten Hoffnung des Jazzpianos aufwartete: Jason Moran. Dieser schafft es – gerade mal Mitte dreißig –, die großen Jazzpianisten der Geschichte wie etwa McCoy Tyner oder Thelonious Monk in seinem Spiel anklingen zu lassen, ohne sie dabei zu kopieren. Dabei schien er auch modisch der Jetzt-Generation anzugehören: Er erschien im Sneaker-kompatiblen R&B-Aufzug. Das Quartett um den unfassbar virtuosen Schlagzeuger Eric Harland machte deutlich: Jazz ist und bleibt die Königsdisziplin der halbimprovisierten Musik. Und ihr Einfluss auf die Pop- und Rockgeschichte ist nachweislich immens. Dabei erreichen die Spieler an Schlag-, Saiten- oder Blasinstrumenten eine Virtuosität, die man in keinem anderen Musikgenre findet. Und so ist es sicher eine gute Entscheidung, dass Kurator Nils Landgren, der selbst Jazzposaunist ist, die Programmgestaltung eher puristisch hält, so dass man kaum musikalische Berührungspunkte zur gegenwärtigen Popkultur ausmachen konnte.
Allerdings war es schon frustrierend mitzuerleben, wie das Publikum auf den 65jährigen Organisten Booker T. Jones und seine vielleicht etwas zu junge Begleitband reagierte, die das Festival am Sonntag beendeten. Naserümpfend verließ man den Saal. »Das kann sich nur ein Witzbold ausgedacht haben«, hörte man hier, oder: »Das war doch kein Jazz, das war Rockmusik!« auf der Treppe hinunter zur Garderobe.
Dem Gitarristen John Scofield war es vorher gelungen, das Publikum für seine Gospel- und Blues-Improvisationen zu begeistern, aber der laute Southern-Rock von Booker T. im Anschluss wirkte wie von einem anderen Stern. Booker T.’s Hammondorgel-Hits wie »Green Onions« stammen aus den frühen sechziger Jahren. Es fällt dem Jazzpublikum noch heute schwer, diese Musik als Teil seiner geliebten kulturellen Strömung zu akzeptieren.
Wenn die Jazzfestbesucher den Jazz auch künftig so streng wie snobistisch isolieren und nicht einmal mit einem Sicherheitsabstand von 40 Jahren Jazzsprösslinge aus Rock und Pop an sich heranlassen können, so wird man in wenigen Jahrzehnten einen vollständig künstlich am Leben gehaltenen Patienten mit dem Namen Jazz darniederliegen sehen.
Dann wird man wohl endgültig sagen können: »Jazz – Die Klassik des 20. Jahrhunderts«.
Man darf also gespannt sein, welche gemeinen Programmgestalter-Witze sich der Jazz-Fest-Kurator Nils Landgren im nächsten Jahr einfallen lassen wird, um sein Publikum davor zu warnen. So oder so: »It must schwing!«