Gespräch mit Iryna Matsevko über Homosexuelle in der ehemaligen Sowjetunion

»Ein Fluchtpunkt für Homosexuelle war Sibirien«

Iryna Matsevko, wissenschaftliche Mitarbeiterin der ukrainischen Ausstellung »Eros und Sexualität. Ein Jahrhundert des Zwangs, der Kontrolle und der Emanzipation«, im Gespräch über die weithin unerforschte Geschichte von Homosexuellen in der ehemaligen Sowjetunion.

Noch immer werden Homosexuelle in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion gesellschaftlich diskriminiert und sind staatlicher Verfolgung ausgesetzt. In der vorigen Woche etwa hat der Moskauer Bürgermeister den für Mai geplanten Gay Pride als »satanischen Akt« bezeichnet und kurzerhand verboten. Die Diskri­minierungen haben eine lange Tradition, die bis in die ehemalige SU zurückreichen, bislang aber kaum erforscht sind. Erste Anfänge, sich damit zu beschäftigen, aber gibt es. In Lviv in der Ukraine hat das Zen­trum für Stadtgeschichte Ostmitteleuropas die Ausstellung »Eros und Sexualität. Ein Jahrhundert des Zwangs, der Kontrolle und der Emanzipation« gezeigt, die sich mit dem Thema befasst. Iryna Matsevko ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts.

Was weiß man heute über die rechtliche und gesellschaftliche Situation von Homosexuellen in der ehemaligen Sowjetunion?
Interessanterweise gab es nach der Oktoberrevolution eine kurze Periode, in der von den Bol­schewiki die freie Liebe propagiert wurde. Ho­mosexualität wurde legalisiert, Eheschließungen, Familiengründungen waren kein Muss mehr. Die Menschen konnten ihre Sexualität un­ge­zwungener ausleben. Doch mit diesen Freiheiten war schnell wieder Schluss. Denn die Bol­schewiki hatten erkannt, dass freie Sexualität auch dazu führt, die Menschen insgesamt unab­hängiger zu machen und damit weniger kon­trollierbar. Und sie begannen, das Sexualleben erneut massiv zu reglementieren. Freie Liebe wur­de verboten, und das änderte sich erst wieder mit der Perestroika.
Welche gesetzlichen Regelungen gab es?
Stalin erließ im Jahr 1933 ein Gesetz, nach dem Homosexualität zu fünf Jahren Zwangsarbeit bestraft werden konnte. Dieses Gesetz nach Artikel 121 galt bis zum Ende der Sowjetunion. Es war ein Gesetz, das insbesondere als Waffe gegen die so genannten Feinde der Gesellschaft benutzt wurde, es war in erster Linie ein politisches Gesetz. Zum Beispiel gab es da Nicolai Ivanovich Yezhov, der von 1936 bis 1938 der Chef der sowjetischen Geheimpolizei NKWD war. Er war für die Durchführung der von Stalin angeordneten »Großen Säuberung« verantwortlich, der wahrscheinlich über eine Million Sowjetbürger zum Opfer gefallen sind. Später wurde er selbst Opfer dieses Wahns, denn er wurde Stalin zu mächtig. Yezhov wurde beschuldigt, homosexuell zu sein – obwohl er das nicht war –, außerdem soll er eine Verschwörung zur Ermordung Stalins angezettelt haben. 1940 wurde er deswegen hin­gerichtet.
Hat sich an dieser Verfolgungspolitik nach Stalins Tod etwas geändert?
Die Lage veränderte sich insofern, als die Macht­haber das Gesetz nun dazu benutzten, die Opposition klein zu halten, sie einzuschüchtern und zu kontrollieren. Es ging nicht mehr darum, politische Gegner als »homosexuell« zu denunzieren und sie physisch zu vernichten. Stattdessen wurde homosexuellen Aktivisten etwa gesagt: »Wir wissen, dass du schwul bist, und wenn du weiter gegen den Staat arbeitest, werden wir dich ins Gefängnis bringen.« So wurde Sergei Paradzhanov, der 1965 bis 1967 immer wie­der öffentlich gegen die staatlichen Repressionen in der Ukraine auftrat, zu fünf Jahren Haft wegen muzhelozhstvo, d.h. »Männer leben mit Männern«, verurteilt. Die Verhandlung dauerte nur zwei Tage, basierte auf falschen Anschuldigungen und verletzte sämtliche juristische Nor­men. Wenn Homosexuelle sich dagegen konform und unauffällig verhielten, hatten sie von staatlicher Seite zunächst nichts zu befürchten. Allerdings mussten sie sich einen heterosexuellen Lebensstil zulegen, etwa heiraten, um eine Wohnung zu bekommen.
War es also möglich, als Homosexueller ungestraft in der Sowjetunion zu leben, solange man gegenüber dem Staat nicht auffällig wurde?
Das funktionierte mehr oder weniger schlecht. Schwule, die mit Symptomen einer Geschlechtskrankheit eine Klinik aufsuchten, fielen automa­tisch unter Artikel 121. Sie wurden gezwungen, die Namen derjenigen zu nennen, zu denen sie sexuellen Kontakt hatten. Wenn sie sich weigerten, drohte man ihnen sogar damit, sie mit Geschlechtskrankheiten zu infizieren.
Zudem war es ein Problem, dass Kollegen den Vorwurf »Homosexualität« benutzen konnten, um unliebsame Konkurrenten loszuwerden. So gab es etwa den Fall des international bekannten Leningrader Anthropologen und Historikers Lev Klein, der wegen seiner unbequemen Ansichten sowohl der Universitätsleitung als auch dem KGB ein Dorn im Auge war. Zudem beneideten ihn viele seiner Kollegen darum, dass er auch im Westen veröffentlichen konnte. 1981 wurde er wegen »Homosexualität« verhaftet. Ob er schwul war oder nicht, war nicht klar, er äußerte sich nur sehr vage. Er wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt, saß im Leningrader Gefängnis Kresty und kam dann ins Arbeitslager. Seine Erfahrungen schildert er in seinem Buch »A World Turned Upside Down« unter dem Pseudonym Lev Samoilov.
Gab es für Homosexuelle bekannte Treffpunkte zur Kontaktaufnahme?
Homosexualität zumindest im Verborgenen zu leben, war natürlich nur in den großen Städten wie Leningrad, Moskau, Kiew usw. möglich. Die pleshka, die Treffpunkte, befanden sich an öffentlichen Plätzen, in belebten Fußgängerzonen oder aber an fast menschenleeren Orten. Oft handelte es sich um öffentliche Toiletten. Solch ein Treffpunkt befand sich beispielsweise direkt auf dem Roten Platz in Moskau, die Toiletten »Unter den Sternen«, was natürlich eine gewisse Dreistigkeit voraussetzte. Seit den sechziger Jahren gab es auch einen Treffpunkt auf dem Nevsky Prospect in Leningrad, wo jedes Jahr am 8. März etwa 200 bis 300 Homosexuelle »die Frühjahrssaison eröffneten«. An der Feier nahmen nicht nur Intellektuelle teil, sondern auch Fabrikarbeiter, die ihre sexuelle Orientierung auf der Arbeit und zu Hause sorgfältig verbargen.
Gab es Bestrebungen, sich zu vernetzen oder gar zu organisieren?
Das war natürlich schwierig. Die pleshka wurden immer wieder von Polizeieinheiten überfallen und terrorisiert. Die Sowjetmacht wusste um die unzähligen Versuche der Gay Community, sich zu organisieren, und mit den Übergriffen wurde dies erfolgreich unterbunden.
Die Community kreierte auch ihren eigenen Slang und benutzte spezielle Wörter, wie bei­spiels­weise eben für »Treffpunkt«, die Außenstehende nicht verstehen konnten. In der Sowjetunion war dies sehr eng verbunden mit der Sprache im Knast, wo Schwule äußerst brutal behandelt wurden. Homosexualität war demnach sowohl ein Politikum als auch eine Subkultur aus den Gefängnissen. Unterschiedlichen Zählungen zufolge wurden zwischen 1934 und 1991 etwa 60 000 bis 250 000 Menschen auf­grund von Artikel 121 verurteilt.
Gab es Gegenden in der Sowjetunion, die als liberaler galten?
Im Prinzip nicht, dennoch gab es einen Fluchtpunkt, und das war Sibirien. Die Autoritäten dort benötigten sehr viele Menschen, um die wert­vollen Rohstoffe in der Region zu erschließen. Die Spezialisten, die dort arbeiteten, erhielten ein sehr gutes Gehalt und viele Privilegien. Die Verantwortlichen in dieser Region kümmerten sich nicht um die sexuelle Orientierung ihrer Arbeiter. Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre konnten Schwule in Sibirien sogar heiraten. Die ersten Schwulen-Ehen der Weltgeschichte wurden wahrscheinlich in Sibirien geschlossen. Es existierte in der Sowjetunion ein Gesetz, nach dem nur Verheiratete eine Woh­nung erhalten konnten. Also mussten die Homosexuellen heiraten, wenn sie in Sibirien leben sollten, und das wurde ihnen von den lokalen Behörden gestattet. Man registrierte sie als homosexuelle Familie, was bei der Zentralregierung in Moskau einen Skandal auslöste, aber die lokalen Autoritäten kümmerten sich nicht darum. Das lag zum einen daran, dass es Spezialisten waren, auf die man nicht verzichten konnte und die den lokalen Behörden zufolge daher auch heiraten konnten, wen sie wollten. Aber auch an einer sehr toleran­ten Tradition in Sibirien, die zurückgeht auf alte Stammesriten, nach denen gleichgeschlechtliche Liebe positiv konnotiert ist.
Wir sprechen die ganze Zeit von Homosexuellen, aber handelte es sich nur um schwule Männer, die – wenn überhaupt – in Erscheinung traten?
Ich habe im Zuge meiner Forschungen versucht, auch Beispiele für lesbische Liebe in der ehemaligen SU zu finden, aber das war sehr schwer. Ich habe nur ein Beispiel gefunden, es gab 1978 eine oppositionelle Homosexuellen-Organisation, die vom Staat zerschlagen wurde. Sie nannte sich Schwulen- und Lesbenorganisation.
Nach dem Ende der Sowjetunion war es die Ukraine, die als erstes Land Homosexualität legalisierte und den Verbotsparagraphen ersatzlos strich. Was hat sich dadurch in den vergangenen Jahren verändert?
Ja, wir waren die ersten, im Jahr 1991 – drei Tage nach der Unabhängigkeitserklärung. In Russland galt der Paragraph dagegen noch bis 1993. Meiner Meinung nach existieren unterschiedliche Verhältnisse in der östlichen Ukraine und in der westlichen Ukraine. Beispielsweise gibt es in Kiew und Donezk Homosexuellen-Organisationen, sie sind registriert, sie sind aktiv und organisieren Veranstaltungen und Aktionen. Dort kümmern sich die Menschen oftmals nicht darum, wie ihre Nachbarn leben. In der westlichen Ukraine haben wir dagegen eine sehr starke Bindung an die Familie, vor allem für Frauen steht diese ohne Frage an erster Stelle, und ein konservatives Rollenverständnis.
Interessanterweise erscheint der westliche Teil der Ukraine hier oftmals als der progressivere Teil des Landes. Ist das tatsächlich so?
In Hinblick auf demokratische Bestrebungen mag das auch stimmen, aber ich glaube, dass wir im westlichen Teil vor allem denken, dass wir fort­schrittlicher sind. Wir wollen Mitglied der EU werden und der Nato, wir mögen Russland nicht, aber in Hinblick auf Familie und Gesellschaft sind wir sehr traditionell und ausgrenzend. Teil­weise hat dies mit religiösen Traditionen zu tun, vor allem bei alten Leuten. Junge Leute haben eher Vorurteile gegen Homosexuelle, weil sie nicht daran gewöhnt sind, weil sie einfach keine kennen und keine sehen, weil die Schwulen sich bei uns in der West-Ukraine immer noch verstecken. Die Jungen glauben, dass es sich bei Homo­sexualität um eine Art Modeerscheinung handelt oder, im schlimmsten Fall, um eine Krankheit.
Die Regierung scheint dem nichts entgegenzu­setzen, ganz im Gegenteil: Seit 2004 gibt es in der Ukraine eine sogenannte Nationale Mo­ralkommission, der Homosexualität als »unnormal« und »entartet« gilt. Aufgrund ihrer Empfehlungen wurden bereits einige Fil­me wie »Brüno« wegen »homosexueller Perversion« verboten, ebenso ein Anti-Aids-Spot, und jetzt gerade eine Ausstellung von Damien Hirst. Die Serie »The Simpsons« wurde genauestens geprüft. Hatten auch Sie Probleme?
Ach ja, die überprüfen alles. Auch unsere Ausstellung »Sex und Eros. Ein Jahrhundert des Zwangs, der Kontrolle und der Emanzipation« haben sie begutachtet. Und sie haben darin ein Buch gefunden mit dem Titel »Sex-Bibel«, einen Sex-Ratgeber, und den sollten wir tatsächlich vernichten. Aber das Buch wurde plötzlich ge­stoh­len, und das Problem hatte sich gelöst. In dieser Kommission sitzen Angehörige der alten Generation, sie erscheinen mir persönlich etwas primitiv. Meiner Meinung nach ist es aber sehr gefährlich, wenn ein Staat glaubt, er kann so eine Kommission schaffen, die uns erzählt, was wir tun oder lassen sollen.
Spielen bei den derzeitigen Präsidentenwahlen Themen wie die Repressalien durch diese Kommission oder die freie Ausübung von Sexualität überhaupt eine Rolle?
Niemand spricht davon. Wir machen gerade eine sehr schwierige Zeit durch. Viele Menschen können an nichts anderes denken als daran, wie sie die nächsten Monate überstehen. Hinzu kommt, dass unser Land abgeschottet ist, es kommen kaum Einflüsse von außen. Wir können nicht ein­fach ins Ausland reisen. Es ist fast unmöglich, ein Visum für die EU zu bekommen. Und auf der anderen Seite ist die Grenze zu Russ­land.
Wie waren die Reaktionen der Besucher auf Ihre Ausstellung?
Am Anfang dachten viele, dass dies eine Pornographie-Ausstellung sei. Sie kamen und waren erstaunt darüber, dass es sich wirklich um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität handelte. Die Ausstellung war dann sehr erfolgreich, und die Rückmeldungen in den Medien waren äußerst positiv. Wir mussten sie zweimal verlängern, so groß war das Interesse.