Mörder ohne Strafe. Geschichtsaufarbeitung in Spanien

Der Kampf um die Erinnerung

Die Mörder der spanischen Franco-Diktatur wurden amnestiert. Als der Untersuchungsrichter Baltasar Garzón dennoch ermittelte, zeigten ihn rechtsextreme Organisationen wegen Rechtsbeugung an. Nun fordert eine Erinnerungsbewegung, die Straflosigkeit zu beenden und die Geschichte der Diktatur aufzuarbeiten.

Auf der Puerta de Sol im Zentrum Madrids wimmelt es von Menschen. An diesem Donnerstag im Mai haben sich am Abend etwa 500 Personen versammelt, sie ziehen im Kreis umher und rufen: »Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung!« Die Demonstranten tragen Schilder mit Fotos bekannter und unbekannter Opfer der Franco-Diktatur und vorneweg ein großes Transparent: »Contra la impunidad« (Gegen die Straffreiheit).
Palmira Chavero, eine junge Journalistin, engagiert sich in der »Plattform gegen die Straffreiheit«. Sie steht in der Mitte des Platzes, verkauft T-Shirts und fungiert als Ansprechpartnerin für Interessierte. »Jetzt ist ein günstiger Moment, um das Ende der Straffreiheit zu erreichen«, meint sie. Die Erinnerungsbewegung ist in Spanien seit Jahren aktiv, ihr geht es auch um Aufklärung über den Vernichtungsfeldzug der Diktatur gegen die politische Linke und um die historische Wahrheit. »In Spanien wurden diese Seiten des Geschichtsbuches einfach umgeblättert, ohne dass man sie gelesen hätte«, sagt Chavero.
Dies ist eine direkte Folge der transición, des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie, die nach der Spaltung der Gesellschaft durch den Bürgerkrieg (1936–39) im Rahmen eines Pakts zwischen der franquistischen Führung und der lange Zeit illegalisierten Opposition auch eine »nationale Versöhnung« ermöglichen sollte. Die von der Linken geforderte und 1977 verabschiedete Amnestie brachte den meisten politischen Gefangenen die Freiheit, bedeutete zugleich aber vollkommene Straflosigkeit für die Folterer und Henker des Regimes.
Daran änderte auch das vom spanischen Parlament Ende 2007 verabschiedete Erinnerungs­gesetz nichts. Daraufhin verfügte der Ermittlungsrichter Baltasar Garzón im September 2008, dem Anzeigen von zahlreichen Erinnerungsvereinigungen vorlagen, eine Untersuchung, die den Verbleib von Zehntausenden von desaparecidos (Verschwundenen) aufklären sollte. Doch das zuständige Gericht stoppte das Verfahren, und rechtsextreme Organisationen wie die Falange, die ehemalige Staatspartei der Diktatur, zeigten den Richter wegen Rechtsbeugung an.

»Das ist eine Schande, was hier geschieht. Es ist nicht hinnehmbar, dass es keine Gerechtigkeit gibt«, meint Jesús Montero, Mittvierziger und Angestellter der Madrider Universität Complutense, auf der Puerta de Sol. Wie er denken viele. Als im April die Klage gegen Garzón, der mittlerweile von seinem Richteramt suspendiert worden ist, angenommen wurde, versammelten sich Aktivisten der Erinnerungsbewegung tagelang in einem Gebäude der Complutense. Sie gründeten die »Plattform gegen die Straflosigkeit« und organisierten am 24. April landesweite Demonstrationen. Die Zeitung El País zählte allein in Madrid 60 000 Teilnehmende, unter ihnen bekannte Künstler. Der Regisseur Pedro Almodóvar verlas ein Manifest: »Wir können nicht verstehen, dass ein demokratischer Staat einen Richter wegen Rechtsbeugung anklagt, der nichts anderes getan hat, als das internationale Strafrecht in Spanien anzuwenden.«
»Hier, hier, wie in Argentinien«, rufen die Demonstranten im Zentrum Madrids, die sich seit Mitte Mai jeden Donnerstag auf der Puerta de Sol zum Protest versammeln. Lange Zeit genossen in dem südamerikanischen Land die Täter der Militärdiktatur (1976–83) ebenfalls Straflosigkeit. Doch damit ist es seit einigen Jahren vorbei, ein Verdienst vor allem zivilgesellschaftlicher Organisationen wie der Abuelas de Plaza de Mayo. Die Großmütter brachten schon während der Diktatur den Mut auf, öffentlich auf dem Platz vor dem Präsidentenplatz in Buenos Aires nach dem Verbleib ihrer Enkel zu fragen. Ihre schwangeren Töchter waren verschleppt worden. Nach der Folterung ließ man sie zunächst gebären, bevor man sie umbrachte. Die Kinder wurden regime-treuen Familien überlassen. Die Präsidentin der Abuelas de Plaza de Mayo, Estela Barnes de Carlotto, nahm an einer der Demonstrationen in Madrid teil. Auf einer Veranstaltung im Madrider Amerikahaus sagte sie: »Kein Land kann demokratisch sein, solange die Erinnerungen unterdrückt werden.«

Auch im franquistischen Spanien wurden Kinder geraubt, systematisch und in großer Anzahl, ein Umstand, der in der spanischen Öffentlichkeit kaum bekannt ist. Auf derselben Veranstaltung erklärt der Soziologe Francisco González de Tena: »Nach der Geburt im Hospital tritt eine Nonne ans Wochenbett und erklärt der Mutter, das Baby sei schwer erkrankt, so schwer, dass es separiert werden muss. Am nächsten Tag wird der Mutter gesagt, das Kind sei gestorben. In den Registern der zuständigen Diözese taucht eine erfundene Krankheit als Todesursache auf. So wurden allein in Bilbao hunderte Kinder geraubt und verkauft, ein klares Verbrechen gegen die Menschheit.«
Während des Bürgerkriegs und in den Jahren danach wurden etwa 150 000 Marxisten, Anarchisten und Republikaner ermordet, sehr viele von ihnen wurden zu desaparecidos. Zehntausende bevölkerten Gefängnisse und Konzentrationslager, wurden gefoltert und mussten Zwangsarbeit leisten. Dieser Terror erzeugte Angst, die offensichtlich bis heute fortwirkt.
Emilio Silva ist der Präsident der »Vereinigung zur Wiedergewinnung der historischen Erinnerung«. Der Journalist suchte und fand im Jahr 2000 die Überreste seines Großvaters in einem Massengrab und unternahm zusammen mit Mitstreitern die erste Exhumierung von desaparecidos. Der 44jährige sitzt auf seiner Couch in einer einfachen Wohnung im Norden der Stadt und erzählt: »Neulich war ich in einem kleinen Ort nahe Madrid. Zu der Veranstaltung kamen etwa 60 Leute. Hinterher sagte die Organisatorin: ›Ich danke euch, dass ihr den Mut hattet, hier teilzunehmen. Und ich bedauere zugleich, dass fast niemand aus unserem eigenen Dorf anwesend ist.‹ Die Angst ist auf dem Land immer noch präsent.«
Besonders auf dem Land haben sich alte Abhängigkeitsverhältnisse erhalten. Nicht selten gibt es in den Dörfern noch Kaziken, Männer, die eine sozioökonomisch beherrschende Stellung einnehmen. Im Franquismus waren sie die Nutznießer des Systems und gerierten sich als Feudalherren. »Heute hat dann etwa der Sohn eines Kaziken eine Baufirma«, erklärt Silva. Die Firma ist wegen der Arbeitsplätze enorm wichtig für den Ort und der neue Kazike hat selbstverständlich kein Interesse an einer Thematisierung der franquistischen Vergangenheit seiner Familie.
Es gibt aber auch Geschichtsversessene in Spanien. Die Gruppe zur Erforschung der Front von Madrid organisiert regelmäßig Exkursionen zu den damaligen Schlachtfeldern in der Hauptstadt und ihrer Umgebung. Madrid hielt bis zum Kriegsende allen Attacken der franquistischen Angreifer stand und wurde so zum antifaschistischen Mythos. Heute geht die Reise allerdings zu einem ehemaligen Lager für Zwangsarbeiter. In Bustarviejo, in der Sierra de Guadarrama, mussten linke Strafgefangene Steine schlagen und ein Teilstück der Eisenbahnlinie Madrid-Burgos bauen.

Zehntausende Gefangene wurden zur Zwangsarbeit herangezogen, sehr häufig war zuvor ihre Todes- in eine lange Haftstrafe umgewandelt worden. Ihr einziges Vergehen bestand nach dem »Gesetz für politische Verantwortung« in aller Regel darin, für die republikanische Seite im Bürgerkrieg Partei ergriffen zu haben. Der nationalkatholischen Ideologie des Franquismus zufolge war dies ein Verrat an der Nation und eine Sünde wider Gott zugleich. Durch die Zwangsarbeit sollten die Sträflinge Sühne leisten und umerzogen werden.
Jorge Rolland gehört zu einer Gruppe von Historikern, die das Gefangenenlager in Bustarviejo erforschen: »Unser Ziel ist es, die Baracken, in denen die Gefangenen leben mussten, sowie das ganze Gelände für den Publikumsverkehr zu öffnen.« Die Gefangenen, ausschließlich Männer, wurden von Soldaten bewacht, aber die Gefahr, dass sie flohen, war nicht sehr groß. Denn ihre Frauen und Familien lebten meist in unmittelbarer Nähe des Lagers. Nach der Festnahme des Ehemannes mussten die Frauen mit den Kindern vor allem auf dem Land ohne Einkommen bleiben und wurden als rojas (Rote) stigmatisiert. So zogen sie den Männern hinterher.
Die erbärmlichen Unterkünfte der Familien werden von dem Untersuchungsteam wissenschaftlich akkurat ausgegraben. Rollands Kollege Álvaro Falquina erläutert: »So eine perfide Kon­trolle wie hier, das gab es in keinem anderen totalitären System. Dass die Gefangenen nicht flohen, weil sie ja die Familien hätten zurücklassen müssen.« Wie viele der Gefangenen am Ende tatsächlich an ihre Schuld glaubten, weiß man nicht. Untersuchungen zu den Kollektivierungen während der libertären Revolution, die während des Bürgerkriegs in großen Teilen der republikanischen Zone stattfand, zeigen jedoch, dass diese Emanzipationsbestrebungen gerade wegen der Erfahrung von Niederlage und Repression häufig negativ erinnert wurden.
Der 70jährige José erzählt im Bus nach Bustarviejo, wie man sich als Kind aus einer linken Familie in den fünfziger Jahren durchschlagen musste: »Ich komme aus einem Dorf aus der Mancha, mein Onkel ist von den Faschisten erschossen worden. Als ich 17, 18 Jahre alt war, da gab es bei uns keine Arbeit, nichts, gar nichts. Aber bei uns im Dorf war eine Radarstation, die sowjetische Flugzeuge orten sollte. Da wusste ich, dass ich zur Luftwaffe wollte.« José wurde Flugzeugmechaniker, seine Eltern waren einverstanden. »Eltern wollen immer das Beste für ihre Kinder, und wo gab es sonst schon ein gesichertes Einkommen?« fragt José und fügt hinzu: »Meine linke Einstellung musste ich beim Militär natürlich immer verbergen.« Aber am 24. April war er auf der Demonstration in Madrid.
Álvaro Falquina setzt sich auf einen Stein direkt an der Ausgrabungsstelle. Seine Forschergruppe bekommt zeitweilig Subventionen vom Staat, dennoch geht er mit der sozialdemokratischen Regierung hart ins Gericht. Das von ihr beschlossene Erinnerungsgesetz sei vollkommen ungenügend. »Der Staat überlässt die Verantwortung für die Suche nach den Verschwundenen den Opfervereinigungen. Nach internationalem Recht ist er aber verpflichtet, diese Aufgabe selbst zu übernehmen.«
Die Aktivisten der Erinnerungsbewegung teilen diese Meinung fast ausnahmslos. Emilio Silva wird deutlich: »Das Gesetz ist ein Bluff, eine Schande. Das einzig Gute an dem Gesetz ist der Diskussionsprozess, den es in Gang gebracht hat.« Er öffnet Google News Spanien und gibt den Suchbegriff »Opfer des Franquismus« ein. Zwischen 1980 und 2000 gibt es praktisch keine Treffer. »Das Weiße hier, das ist der so genannte Konsens der transición«, erregt sich Silva. Einen ersten großen Ausschlag zeigt die Grafik für die Zeit, als das Gesetz debattiert wurde. Den größten der blauen Balken trägt aber das Jahr 2010, und das zur Jahresmitte.
»Das ist eine Art langsamer Enteisungsprozess«, sagt Ariel Jerez, Sprecher der »Plattform gegen die Straffreiheit«. Dabei haben Garzóns Initiative und die Reaktion einer Justiz, die zum Teil noch immer franquistisch geprägt ist, für die Erinnerungsbewegung in gewisser Weise wie ein Katalysator gewirkt. Jerez macht jedoch deutlich, dass die Plattform die Betonung lieber auf die Solida­rität mit den Opfern legt als auf die Unterstützung Garzóns, der bei vielen spanischen Linken wegen seines juristischen Vorgehens gegen die baskische nationalistische Linke alles andere als beliebt ist.

Worauf die Parole »Gegen die Straflosigkeit« letztlich zielt, ist innerhalb der Plattform freilich noch nicht wirklich geklärt. Man ist sich darüber einig, dass die Massentötungen sowie der organisierte Raub von Kindern Verbrechen gegen die Menschheit darstellen. Darauf haben auch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International seit Jahren hingewiesen.
In Spanien wird argumentiert, wegen der Amnestie von 1977 könnten keinerlei Ermittlungen aufgenommen werden. Nach internationalem Recht verjähren Verbrechen gegen die Menschheit jedoch nicht, die Täter können auch nicht amnestiert werden. Spanien hat alle entsprechenden Konventionen und Verträge unterschrieben. Doch nicht allen Erinnerungsaktivisten geht es in erster Linie um Prozesse gegen die Täter. »Das ist eher eine moralische als eine materielle Frage«, meint Jesús Montero auf der Demonstration. Die Wahrheit müsse ans Licht. Damit ist vor allem gemeint, dass der Staat endlich das Schicksal aller desaparecidos aufklären müsse.
Emilio Silva bezweifelt, dass es zu Prozessen kommt. Zu alt seien die möglichen Angeklagten. »Aber die impunidad zu beenden, bedeutet auch, die Dinge in die richtige Ordnung zu bringen.« Menschen wie Marcos Ana, ein Kommunist, der am längsten in franquistischen Gefängnissen inhaftiert war, »waren die Vorkämpfer der Demokratie und nicht Manuel Fraga«. Fraga war mehrfach Minister während der Diktatur und wandelte sich in der transición zum »Demokraten«.
Palmira Chavero wünscht sich, dass Fraga vor Gericht käme. Diesem wird als damaligem Innenminister die Verantwortung für zahlreiche Morde zugeschrieben, die Polizisten an Streikenden und Demonstranten noch nach dem Tod Francos im November 1975 begingen. Ermittlungen hat es in keinem dieser Fälle je gegeben. Chavero empört sich darüber, dass ausgerechnet die Falange und Manos Limpias, ein rechtes Anwaltskollektiv, »den einzigen Richter auf die Anklagebank bringen, der sich getraut hat, Ermittlungen aufzunehmen«.
Sie hat selbst Nachforschungen betrieben, in der Gegend der südlichen Extremadura, aus der sie kommt. Ihr Großvater und seine Brüder waren Anarchisten, sie versteckten sich vor den anrückenden franquistischen Truppen. Diese verhafteten den 15jährigen Bruder und folterten ihn, damit er ihnen seine Verwandten ausliefere. Als sie keinen Erfolg hatten, erschossen sie den Jungen. Bei ihrem Vorrücken durch die Extremadura gingen die Franquisten besonders bestialisch vor. Nach ihrem Kommandeur General Juan Yagüe ist eine Straße in Madrid benannt. Auch im Jahr 2010 ist das in Spanien alles andere als eine Ausnahme.
Jetzt steht Palmira Chavero neben dem Stand mit den T-Shirts in der Mitte der Puerta de Sol und berichtet, dass die Vergangenheit für viele Menschen noch immer nicht vergangen ist: »Am Ende der Demonstration gibt es immer eine Schweigeminute für die Opfer. Hast du es bemerkt? Manche sind so überwältigt davon, dass sie zu weinen beginnen. Das zu sehen, hat mich sehr bewegt.«