Über Pi, Tau und die Kreise

Stoppt die Verfolgung durch die Zwei!

Pi ist falsch. Das stimmt zwar nicht ganz, aber es klingt gut und trifft die Sache. Denn Pi ist nur die zweitbeste Lösung.

Michael Hartl liebt die Herausforderung. Mit seinem Tau-Manifest wendet er sich in humorvoller Weise gegen rund 3 700 Jahre Mathematikgeschichte und versucht, die Welt davon zu überzeugen, dass nicht Pi, sondern das Doppelte von Pi – also Tau – die Verhältnisse in einem Kreis richtig beschreibt. Und er ist nicht allein. Bereits 2001 hatte Bob Palais in The Mathematical Intelligencer ähnlich argumentiert, die Überschrift seines Kommentars lautete schlicht: »Pi is wrong!«
Und da ist etwas dran, obwohl die Fläche eines Kreises mit einem Radius von einem Meter Pi Quadratmeter beträgt. Aber warum über Quadratmeter nachdenken, wenn man beim Kreis­umfang im Gegensatz zur Fläche mit einfachen Metern auskommt? Allerdings ist der Umfang eines Kreises Pi mal so groß wie sein Durchmesser. Aber letzterer ist nur ein doppelter Radius, und warum weitermessen, wenn nach der Hälfte schon alles klar ist? Fläche, Durchmesser: Nein! Umfang und Radius sind die beiden einfachsten Größen eines Kreises, und Umfang durch Radius, dass hätte Pi sein sollen, aber das ist es nicht. Das ist Tau.

Fehler können passieren, aber Fehler haben Konsequenzen, und die finden sich in allen Winkeln. Einmal im Kreis herum, das sind 360 Grad, bzw. 400 Gon oder 24 Stunden, aber Winkel sind viel zu einfach, um Einheiten mit sich herumzutragen. Deshalb wurde das Bogenmaß erfunden, und damit geht der Differentialquotient der Sinusfunktion in den Kosinus über, und die natürliche Exponentialfunktion wird dank der Eulerschen Gleichung in einen direkten Zusammenhang mit den trigonometrischen Funktionen gebracht, ohne dabei den Bezug zu den Winkeln zu verlieren. Das klingt nicht nur absolut einleuchtend, es zeigt auch, dass an diesem Winkelmaß etwas stimmen muss. Zumal das Bogenmaß so schön sein könnte, wenn nur Pi richtig wäre. Aber Schritt für Schritt.
Ein Winkel im Bogenmaß ist definiert als Länge des von diesem Winkel aufgespannten Kreisbogens geteilt durch den Radius des Kreises. Einfachstes Beispiel: 360 Grad. Wie lang ist der zugehörige Kreisbogen? Tja, bei 360 Grad geht es um den kompletten Umfang des Kreises, also Pi mal den Durchmesser, den doppelten Radius. Um den dazugehörigen Winkel zu erhalten, muss man nur noch durch eben diesen Radius teilen, und übrig bleiben zwei Pi. Also: 360 Grad entsprechen im Bogenmaß zwei Pi. Viele mögen rechte Winkel, also wie wäre es mit 90 Grad, einem Viertelkreis? Das Ergebnis ist ein halbes Pi. Verstanden?
Und jetzt nochmal mit Tau. 360 Grad sind genau ein turn, und das ist ein Tau. 720 Grad sind zwei Tau und das ist auf einem Skateboard deutlich schwieriger, obwohl das Ergebnis das gleiche ist. 90 Grad, eine Vierteldrehung, entsprechen einem Viertel Tau, und 180 Grad sind ein halbes Tau. Noch Fragen?
Aber mit Winkeln ist es nicht getan. Wer sich die Mühe macht, im Minutentakt immer eine Daumenbreite weiter aufzumalen, in welcher Höhe sich der Minutenzeiger der Küchenuhr befindet, sieht bereits nach einer Stunde eine ganze Periode einer sinusförmigen Schwingung vor sich. Kreise, Winkel, Drehungen, Schwingungen, das alles hängt zusammen. Und weil 360 Grad bislang zwei Pi sind – und nicht ein Tau –, werden Millionen Menschen von einer Zwei verfolgt. Pi ohne Zwei, das ist wie ein Tag ohne Nacht, wie eine Reise ohne Rückkehr auf einem Planeten, den jemand in zwei Hälften gespalten hat. Zwei Pi sind fast überall: in der Gaußschen Normalverteilung und in der Fourier-Transformation, im Fadenpendel und in der Unschärferelation. Wer nach ein paar Seiten Physik-Übungen ein einsames Pi findet, hat mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwo eine Zwei vergessen.

Aber es ist vielleicht zu spät: Pi ist im Kino und in der Kunst. Denn Pi ist so herrlich irrational, und zwar nicht, weil es, wie beschrieben, unvernünftig, sondern einfach kein Verhältnis zweier ganzer Zahlen ist. Hinterm Komma geht’s weiter, bei Pi bis in alle Ewigkeit. Und wer sich Literatur digitalisiert als seitenlange Zahlenkolonnen vorzustellen vermag, findet in Pi verborgen zwischen Kauderwelsch alle Bücher, die jemals erschienen sind oder erscheinen werden. Irgendwo zwischen 3,1415 und 3,1416. Das kann Tau zwar auch, aber niemand erfindet den Weihnachtsmann neu, nur weil sich der alte zu langsam im Kreis dreht. Außer Michael Hartl. Und dafür hat er alle Unterstützung verdient, zumal die Gegner übermächtig sind. Auf der einen Seite stehen all jene Menschen, die zwar aufgeschlossen erscheinen, aber bei mathematischen Fragen doch noch ihre antiintellektuelle Seite entdecken. Die sollte man getrost vernachlässigen. Auf der anderen Seite aber steht Google. Der Konzern hat am 28. Juni 2011 auch den zweiten Tau-Tag der Menschheitsgeschichte vollkommen ignoriert, den Pi-Day am 14. März 2010 aber unverhohlen mit einem speziellen Doodle gefeiert. Also für Tau und gegen Google, und alle so yeah!