Die Debatte über Wirtschaftsethik

Gruppentherapie für Kapitalisten

Die Debatte um Wirtschafsethik wird nicht erst seit Beginn der Krise geführt, erfährt dank dieser jedoch einen regelrechten Hype. Mittlerweile haben auch die Hochschulen das Thema für sich entdeckt. Damit sollen die Konkurrenz unter den Funktionären des Kapitals gemindert und deren Interessen langfristig gewahrt werden.

Ob für das wirtschaftliche Handeln nicht ethische Leitbilder nötig seien, wollte das Kulturwissenschaftliche Institut in Essen wissen, wo auch schon mal der linke Philosoph Slavoj Žižek gastierte. In der Überzeugung, dass Werte und Normen immer mehr »als wichtige Faktoren globalen wirtschaftlichen Handelns neben ökonomische Nutzenkalküle und Effizienzkriterien« treten, veranstaltete das Institut bereits im Sommer die Tagung »Wirtschaftsethik zwischen den Kulturen«. Seit der Wirtschaftskrise sind solche Zusammenkünfte, bei denen über das Verhältnis von Moral und Wirtschaft diskutiert wird, sehr in Mode gekommen. Selbst der Vatikan wollte dabei nicht außen vor stehen und berief einen großen Kongress über Wirtschaftsethik ein.
Und es hat den Anschein, über allem schwebte, nein, nicht Gott, sondern: Ulrich Wickert, der heimliche Schirmherr aller Wirtschaftsethiker. Mit seinem neuesten publizistischen Machwerk, »Redet Geld, schweigt die Welt – Was uns Werte wert sein müssen« unterstreicht er diesen Status noch einmal. Wickerts Appell an die Moral fällt in eine Phase der Krise, in der selbst dem Feuilleton der FAZ aufgefallen ist, dass auch nach dem Crash von 2008 die Börsen und Märkte so funktionieren wie eh und je. Und dabei schweigt »die Welt« keineswegs. Sie schwatzt und salbadert unaufhörlich weiter.

In der Welt der Wirtschaftsethiker wird geplappert ohne Unterlass. Da gibt es etwa ein »Deutsches Netzwerk Wirtschaftsethik«, das »Berliner Forum für Wirtschafts- und Unternehmens­ethik«, »die Beuroner Tage für Fragen der Wirtschaftsethik« oder die »Zittauer Gespräche zur Wirtschafts- und Unternehmensethik«, die am vergangenen Wochenende zum sechsten Mal stattfanden. Die Liste ließe sich fortsetzen. Auch immer mehr Literatur zu dem Thema wird seit den neunziger Jahren, und vor allem seit der Krise, veröffentlicht. Mittlerweile wurden sogar Lehrstühle für Wirtschaftsethik eingerichtet, ganze Studiengänge werden akkreditiert.
Das »weiche« Fach der Wirtschaftsethik bildet das passende Gegenstück zur Betriebswirtschaftslehre (BWL), mit deren mathematischen Abstrak­tionen – die in Wirklichkeit hochesoterisch sind – die Effizienz bestimmter Marktmodelle bewiesen werden soll. Ist die BWL vor allem pseudo-präzise, so ist die Wirtschaftsethik pseudo-konkret. Das lässt sich an einem Experiment, das in den konservativen Wirtschaftswissenschaften einige Beachtung fand, anschaulich demonstrieren: Vor anderthalb Jahren wurde an der Universität Köln ein Lehrstuhl für Wirt­schafts­ethik eingerichtet. Praktiken des Wirtschaftens sollen dort auf ihre ethischen und moralischen Implikationen hin untersucht werden. Und da Ethik niemals »neutral« ist – sonst wäre sie eben keine Ethik, sondern purer Zweckrationalismus –, sind diese danach zu bewerten, ob sie der Gesellschaft ins­gesamt schaden oder nützlich für diese sind. Der Anspruch der wirtschaftsethischen Disziplin ist es also, moralische Maßstäbe so zu operationalisieren, dass wirtschaftliches Handeln möglichst exakt – in Form von quasi-mathematischen Kalkulationen – unter sozialen Gesichtspunkten erfasst werden kann. Der Lehrstuhlinhaber, Bernd Irlenbusch, will dabei, zusammen mit seiner Kollegin Christine Harbring von der Aachener Universität, in einer Laborstudie herausgefunden haben, dass »hohe Bonuszahlungen innerhalb von Unternehmen für Schwierigkeiten sorgen (können), wenn sie aufgrund relativer Leistungsvergleiche mit Kollegen vergeben werden«, wie er gegenüber der Kölner Universitätszeitung mitteilte.

Der Laborstudie lag ein Spiel zugrunde: Innerhalb einer fiktiven Firmenabteilung wurden den 336 Probanden Bonuszahlungen für besonders gute Leistungen angeboten. Geschildert wird das Prinzip des Projekts wie folgt: »Der Mitarbeiter mit der besten Leistung erhielt den höchsten Bonus. Wie erwartet, zeigten die Anreize ihre Wirkung: Je höher ihr möglicher Bonus, desto mehr strengten sich die Mitarbeiter an.« Dieses System der Leistungsanreize erwies sich im Endeffekt als kontraproduktiv. Denn offensichtlich führt die Aussicht auf immer höhere Boni mittelfristig da­zu, dass die Kooperation unter den Mitarbeitern zerstört wird. Anstatt zusammenzuarbeiten, entscheiden sie sich, gegeneinander zu intrigieren, um für sich das individuell beste Ergebnis zu erzielen. »Die Wissenschaftler wiesen nach«, berichtete die Kölner Universitätszeitung, »dass Mitarbeiter dazu neigten, Kollegen zu sabotieren, um ihre Position innerhalb der Abteilung zu verbessern – weil alle es auf den Bonus abgesehen hatten.«
Bemerkenswert ist die Studie gerade vor dem Hintergrund, dass nach den Bankenpleiten im Herbst 2008 vor allem das Boni-System der Finanzinstitute kritisiert wurde. Denn unter anderem darauf wurden in der Öffentlichkeit die »Zocker-Mentalität« und die Entstehung der Spekulationsblase zurückgeführt. Was die Branche damals weit von sich wies, scheint nun mit der Studie so etwas wie einen wissenschaftlichen Beweis erhalten zu haben, zumal dieser aus dem Milieu der Kölner Wirtschaftswissenschaften stammt, das eigentlich als äußerst wirtschaftsfreundlich bekannt ist.
Aber auch wissenschaftsintern ist die Studie beachtlich, wurde doch Wirtschaftsethik bislang eher feuilletonistisch, bestenfalls vulgärphilosophisch grundiert. Irlenbusch, Harbring und ihr Team erweitern die Frage nach wirtschaftlichen Werten und Normen noch um Methoden aus der Verhaltensforschung: »Im Zentrum der Arbeit unseres Seminars stehen Fragen der strategischen Unternehmensentwicklung. Insbesondere in­teressiert uns die Analyse von menschlichem Verhalten in ethischen Dilemmasituationen in der Wirtschaft«, heißt es auf der Homepage des Lehrstuhls. Und ein Dilemma ist es in der Tat, wenn auf der einen Seite hohe Belohnungen für individuelle Leistungen winken, jedoch auf der anderen Seite der dadurch geförderte Individualismus die kollektive Kooperation zerstört.

Besonders innovativ ist diese Erkenntnis allerdings nicht. Dass in einer vollendeten Konkurrenzwirtschaft die ökonomischen Subjekte gegen­einander und nicht miteinander agieren und dass darin auch ein Grund für wirtschaftliche Krisen liegt, wusste die klassische politische Ökonomie schon vor Karl Marx. Tatsächlich klingen auch die weiteren Ausführungen des Lehrstuhls ein wenig so, als wolle jemand das schnurlose Telefon noch einmal erfinden: »Ausgangspunkt unserer Untersuchungen ist die Beobachtung, dass die Neigung von Entscheidern in Organisationen, un­ethisch zu handeln, sehr stark von der jeweiligen Situation und der jeweiligen Umgebung abhängt, in der Entscheidungen getroffen werden.« Wer hätte das gedacht?
Dabei werden die Bemühungen, wirtschaftliches Handeln sozial auszurichten, durch das ständige Hantieren mit den Allerweltsbegriffen »Moral« und »Ethik« in die Nähe der Banalität gerückt. So stellt das »Deutsche Netzwerk Wirtschaftsethik« seiner Selbstdarstellung ein Motto des Physikers Carl Friedrich von Weizsäcker voran: »In Wahrheit nützt mir nicht, was mir allein nützt, sondern was dem Mitmenschen, der Gemeinschaft, der Gesellschaft nützt.« Selbst der härteste Börsenzocker würde dieser Binsenweisheit nicht widersprechen.
Hinter diesen doch recht einfältigen Floskeln verbirgt sich aber eine kühle Strategie: Es geht um die Definition von »Wirtschaftsstilen«, um, wenn man so will, den Geist des Unternehmens. Wirtschaftsethik hat nichts mit einer »bürger­lichen Kapitalismuskritik« zu tun, sie bezweckt auch keine Neulegitimierung des Sozialstaats. Sie richtet sich primär an die Funktionäre des Kapitals – Manager, leitende Angestellte, Firmen­strategen –, und schlägt für diese Kooperationsmodelle vor. Solche nämlich, die auf eine inner­betriebliche Solidarität dieser Funktionäre abzielen. Das Prinzip und Motiv des Profits wird gerade nicht in Frage gestellt, dieser soll besser – also längfristig, »nachhaltiger« – garantiert werden.

Wirtschaftsethik ist die affirmative Theorie der Kooperation der Funktionäre. Dass sich der anhaltende Boom der Wirtschaftsethik parallel zur Ablösung des wirtschaftlichen Handelns von den von außen auferlegten, sozialpartnerschaftlichen, dem Wohlfahrtsstaat verpflichteten Spielregeln vollzieht, ist kein Zufall. Um die Selbstzerfleischung der Managerkaste – auch diese ist eine Konsequenz aus dem Kapitalismus der vergangenen 20 Jahre – nicht zu forcieren, bedarf es zumindest einer Selbstverpflichtung auf moralische Glaubenssätze.
Zynisch wird es dann, wenn Leute wie Wickert aus diesen Verhaltensregeln für Manager Maßhalteappelle und Besinnlichkeitsfloskeln für alle machen. Denn die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung gehört nun mal nicht zu den »Entscheidern in Organisationen«. Die Verallgemeinerung der Wirtschaftsethik zu einer weiteren Form der Alltagsmoral – gegen Egoismus und Raffgier, das Schielen auf den »schnellen Euro« –, drängt jenen Leuten einmal mehr den Schulterschluss mit den Funktionären des Kapitals auf.