Die Nazis und die Entstehung des Behindertensportverbands

Vom Massenmord zum Sport

Eine neue Studie zeigt, dass Nazis eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Deutschen Behindertensportverbands spielten.

Geschichtliche Aufarbeitung liegt im Trend. Ob Deutsche Bank, BMW oder der Deutsche Fußballbund (DFB), irgendwann ist jeder dran. »Wir haben unsere Geschichte aufgearbeitet«, das klingt gut und macht Schluss mit der elenden Geheimniskrämerei im Sinne von: »Da war doch was.« Seiner Geschichte auf den Grund gegangen ist nun auch der Deutsche Behindertensportverband (DBS), der kürzlich in Berlin sein 60jähriges Verbandsjubiläum beging. Die Fest­tage gingen am 9. September mit einer Feier zu Ende, auf der sich Bundespräsident Christian Wulff und andere Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gerne sehen ließen. Weit weniger gesellschaftliche Beachtung indes fand ein paar Tage zuvor in Berlin die Buchpräsentation »Vom Versehrtenturnen zum Deutschen Behindertensportverband«. Es ist die erste bundesweite kritisch-historische Studie zur Geschichte des Sports für Menschen mit Behinderung. Eine bemerkenswerte Auftragsarbeit, die der Sporthistoriker Bernd Wedemeyer-Kolwe vom Niedersächsischen Institut für Sportgeschichte für den DBS ablieferte und nun pünktlich zum Verbandsjubiläum präsentierte. In ihr weist er nach, wie eng die Entstehungsgeschichte des DBS mit Männern verknüpft war, die eine tragende Rolle im Nationalsozialismus gespielt haben.
Es geht konkret um die »Arbeitsgemeinschaft Deutscher Versehrtensport« (ADV), die sich am 4. Juli 1951 in der Bundesrepublik gründete. Dieses Datum markiert offiziell den Beginn des Deutschen Behindertensportverbands, der diesen Namen nach langen verbandsinternen und höchst kontrovers geführten Auseinandersetzungen erst 1975 annahm.
Bis weit in die siebziger Jahre hinein und nicht unbegründet eilte dem namentlichen Vorläufer des Deutschen Behindertensportverbands »der Nimbus eines Haufens Ewiggestriger« voraus, wie Wedemeyer-Kolwe ausführt. In Niedersachsen zum Beispiel wurden etwa 20 Prozent aller Versehrtensportvereine von Personen gegründet, deren Vergangenheit nachweislich durch eine hohe »NS-Belastung« geprägt. »Die personellen Kontinuitäten in dieser Höhe sind eindeutig und es gibt keinen Grund, diese Verhältnisse nicht auch auf andere Bundesländer zu übertragen«, folgert Wedemeyer-Kolwe. Der Historiker hat die Biographien von 250 Versehrtensportlern allein in Niedersachsen untersucht. 20 von ihnen gehörten der Waffen-SS, den KZ-Wachtruppen, dem Reichssicherheitshauptamt oder dem Rasse- und Siedlungshauptamt an, das für die »Umsiedlung«, Ausplünderung und Ermordung der Juden verantwortlich war. Ein späteres Landesvorstandsmitglied war als SS-Angehöriger der Warschauer Gestapo für das jüdische Ghetto zuständig. Der Mann gehörte überdies einer der besonders berüchtigten SS-Einsatzgruppen an, die sich während des Überfalls auf Polen und Russland an Massenmorden beteiligte. Im Landesvorstand Nordrhein-West­falen war in den sechziger Jahren ein ehemaliger SS-Unterscharführer Schatzmeister. Auch der Landesversehrtensportwart verfügte über eine ausgewiesene NS-Biographie. Im Jahr 1931 schon in die Hitlerjugend eingetreten, war er ab 1941 im Rang eines Obersturmführers »für die antisemitische Indoktrination der SS-Divisionen zuständig«, wie die Studie beschreibt. 1945 gründete der Mann einen Versehrtensportverein und wurde dessen Vorsitzender, 1950 wurde er Sportlehrer an einer Waldorfschule. In der Folge erhielt der Alt-Nazi zahlreiche Ehrungen und Orden des Deutschen Versehrtensportverbands, später dann vom Deutschen Behindertensportverband (DBS) und vom Land Nordrhein-Westfalen. Schließlich, im Jahr 1975, kam sogar das Bundesverdienstkreuz hinzu. Die Liste der Funktionsträger mit NS-Vergangenheit im Deutschen Behindertensport ließe sich noch endlos fortführen.
In den Versehrtensportvereinen in ganz Deutschland sammelten sich auffallend viele NS-Schergen und SS-Angehörige, die an Massenmorden beteiligt gewesen waren. Nicht selten wurden für diese Männer von »Vereinskameraden«, aber auch seitens der Verbände Spendensonderkonten eingerichtet, um etwa die Familien der wegen NS-Verbrechen angeklagten Verbandsmitglieder zu unterstützen sowie ihre Verteidiger zu bezahlen. Nazis fanden sich bis in die höchste Führungsebene, also bis in den ADV-Bundesvorstand. Sie dominierten bis in die siebziger Jahre hinein zahlreiche Vereine und Verbände und damit auch einen Teil der Verbandspolitik des Deutschen Behindertensports.
»Die Studie ist sicher starker Tobak und das im Jubiläumsjahr. Aber es war Zeit, endlich auch diesen Teil der Geschichte des Deutschen Behindertensports lückenlos und für alle transparent aufzuarbeiten. Auch wenn es nicht jedem im Verband gefallen hat«, sagte der Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS) Julius Beucher in Berlin.
Es waren vor allem kriegsgeschädigte Soldaten hohen Ranges, die bereits zu Wehrmachtszeiten Sport getrieben hatten und dann den Versehrtensport der Nachkriegszeit prägten. Als einen »männerdominierten Veteranenverband« charakterisiert die Studie »Vom Versehrtenturnen zum Deutschen Behindertensportverband« den Bundesverband in der frühen Nachkriegszeit. Hier trafen sich Waffenträger wieder, für die der Dienst in der Wehrmacht ein Ehrendienst gewesen war. Sportärzte und Sportlehrer, die in der SS gewesen waren und in den SS-»Heilan­stalten«, vor allem in der SS-»Heilstätte« Hohenlychen, ihre Fortbildung zum Versehrtensportler absolviert hatten. Diese sportlichen Kriegsversehrten sahen sich auch nach der Niederlage des NS-Regimes weiterhin in der Rolle, die ihnen das Regime zuvor zugewiesen hatte und die sie gerne angenommen hatten: »Edelversehrte«, die im Kampf für das Vaterland Arme, Beine oder das Augenlicht verloren hatten. Sie hegten, immer noch gemäß der NS-Ideologie, offen Ressentiments gegenüber Menschen mit anderen, sogenannten Zivilbehinderungen, die sie als »asoziale Elemente« oder »Schmarotzer« ansahen. Ein langjähriges Vorstandsmitglied des Verbands Nordbaden soll sich noch in den siebziger Jahren über contergangeschädigte Kinder so geäußert haben: »Diese Kinder sind Krüppel, die gehören hier nicht rein.«
Damit nicht genug. Die neuen alten Funktionsträger engagierten sich auch noch häufig in den zahllosen, offen revanchistischen Heimat-, SS-Ehemaligen- und Vertriebenenverbänden in der jungen Bundesrepublik Deutschland, vor allem in den Bundesländern Hessen und Baden-Württemberg. »Von Ausnahmen abgesehen, hielten viele von ihnen später auch im Versehrtensport offen an ihrer nationalsozialistischen Einstellung fest«, heißt es in der Studie von Wedemeyer-Kolwe. Aus diesen Gründen fühlten sich andere Behinderte in den Versehrtensportver­einen der alten Kameraden in Westdeutschland reichlich deplatziert. Sie stießen oft auf den geballten Widerstand der etablierten Funktionäre, die jede inhaltliche wie personelle Reformierung des Versehrtensportverbands lange zu verhindern wussten.
Verharmlosung und sogar bewusste Vertuschung der NS-Biographien zeichneten über lange Zeit die Politik des Behindertensportverbands aus. Dass dann langsam aber stetig »die revanchistischen Kräfte aus den Ämtern der Vereine und Verbände im Deutschen Behindertensport verschwanden, dürfte eher einem normalen Generationswechsel als einer bewussten Umgestaltung geschuldet sein«, heißt es in der Studie wenig schmeichelhaft. Immerhin ist auch das nun öffentlich.