»Der Staat übt selbst Gewalt aus«

In Mexiko wurden seit der Ausrufung des »Kriegs gegen den Drogenhandel« durch den ehemaligen mexikanischen Präsidenten Vicente Fox über 40 000 Menschen getötet, mehr als 10 000 Menschen gelten als »verschwunden«. Die Jungle World sprach mit Marta Durán de Huerta und José Reveles über die Ursachen für die Eskalation der Gewalt und die Reaktionen darauf.

Ende der Neunziger gab es in Mexiko viel Hoffnung auf einen politischen Wandel, es herrschte Aufbruchstimmung. Es gab die zapatistische Bewegung, die »Otra Campaña« und andere Initiativen. Es scheint, als ob das alles in den vergangenen zehn Jahren verschwunden ist. Was war der Grund dafür?

Reveles: Wir kamen damals vom Regime des PRI, einer Einheitspartei, die das Land 71 Jahre lang autoritär regierte. Der Staat versuchte sich durch Beziehungen zum Ausland ökonomisch zu stabilisieren und unterdrückte systematisch soziale Bewegungen. Indem Mexiko sich durch Beitritt zum Freihandelsabkommen Nafta mit den USA und Kanada mit zwei wirtschaftlichen Giganten zusammenschloss, verlor es seine Unabhängigkeit. Das war der Auslöser der zapatistischen Bewegung, obwohl die eigentlichen Ursachen Jahrhunderte zurückreichen. Es gab zwei weitere Gründe: Wir erlebten eine ernste ökonomische Krise, die sogenannte Tequila-Krise während des Übergangsphase von Präsident Carlos Salinas de Gortari zu Ernesto Zedillo. Und vor allem die Ausplünderung des Landes, da viele sich während der Krise bereicherten. Als Ernesto Zedillo, der letzte PRI-Präsident, an der Macht war, wurde die Situation noch schlimmer. Dank seiner schlechten Regierungsführung gewannen die Rechten an Einfluss und 2000 kam die Partei der Nationalen Aktion (PAN) mit Vicente Fox an die Macht. Er war ein ehemaliger Manager von Coca Cola, der sich der Partei anschloss und eine exzellente PR-Kampagne inszenierte. Aber als er an die Regierung kam, war es ein Desaster, über das jedoch kaum geredet wurde. Der konservative rechte PAN, der 1939 gegründet worden ist, war stets gegen alle progressiven Entwicklungen, die das postrevolutionäre Regime angestoßen hatte. Die Rechten waren jahrzehntelang in der Opposition, und als sie schließlich an die Macht kamen, waren sie nicht vorbereitet. Aber nicht die alten Panistas, also die anerkannten rechten Ideologen der Partei, kamen an die Macht, sondern die jungen Leute, die die Partei im letzten Moment übernommen hatten. Sie haben eine beschränkte Sichtweise, sind sehr pragmatisch, möchten schnell Geschäfte machen, verfolgen nur ihre Interessen und haben kein Verständnis von Staat und Regierung. Auch viele Linke begrüßten den konservativen Wandel, weil zumindest die Herrschaft des PRI beendet wurde. Aber es veränderte sich nichts. Der alte Apparat wurde nicht aufgelöst und kein neuer geschaffen. Gleichzeitig wurden die kriminellen Organisationen stärker, weil die Regierenden nicht wussten, wie sie sie aufhalten sollten.

Die Gewalt und das Chaos sind also aufgrund der ineffizienten Regierungsführung entstanden. Betrifft der Drogenkrieg das gesamte Land oder sind nur bestimmte Regionen oder Städte betroffen?

Huerta: Meiner Meinung nach ist es kein Krieg gegen den Drogenhandel oder die organisierte Kriminalität, sondern ein Krieg zwischen verschiedenen Gruppen des Drogenhandels. Jedes Kartell hat seine Angestellten und Unterstützer in der lokalen Polizei oder Teilen des Militärs oder unter halbkriminellen Jugendbanden. Präsident Calde­rón behauptete, dass er die Gewalt im Norden Mexikos bekämpfen werde. Aber obwohl er Tausende Soldaten und Polizisten etwa nach Chihuahua oder Tamaulipas entsendete, hat die Gewalt dort zugenommen und sich in andere Regionen ausgebreitet. Früher gab es Gegenden, wo die Menschen vor Langeweile starben, jetzt sterben sie durch Gewehrkugeln. Die organisierte Kriminalität und die Regierung waren im gesamten 20. Jahrhundert immer miteinander verbunden. Die PRI-Regierung war eine Art »Linienrichter«, der sagte: »Dir gehört diese Route, du hast diese andere, du diesen Hafen …« Die Kartelle bezahlten an die Regierenden eine Art »Steuer«, und so gab es Ordnung. Aber als im Jahr 2000 der PRI die Wahlen verlor, hinterließ er eine Leere, die von der organisierten Kriminalität gefüllt wurde. Die Strategie von Vicente Fox und später von Calderón war es, das Kartell von Sinaloa, das älteste und offensichtlich stärkste Kartell, zu bevorzugen. Sie sagten ihm: »Du kontrollierst die kleineren Gruppen, und wir werden mit dir verhandeln. Du garantierst uns Regierbarkeit und wir erlauben dir freimütig bestimmte Geschäfte.« Aber die »kleinen Brüder« hielten nicht still, sondern sie wurden stärker und schufen richtige Armeen. Es ist ein schrecklicher Krieg mit viel Gewalt. Alle kämpfen gegen alle. Deshalb gibt es Leute, die meinen, dass man verhandeln muss. Aber andere sagen, man kann nicht mit Drogenhändlern und Kriminellen verhandeln, weil das den Staat endgültig zerstören würde.

Von Seiten der »Bewegung Sicilia«, die der Journalist Javier Sicilia nach der Ermordung seines Sohnes ins Leben rief, gab es den Versuch, mit dem Staat zu verhandeln.

Huerta: Mehr als um Verhandlungen ging es darum, vom Staat zu verlangen, dass er seinen Verpflichtungen nachkommt, Gerechtigkeit für die Opfer schafft, korrupte Staatsangestellte bestraft; dass alle ihre Arbeit machen, dass korrupte Polizisten entlassen werden. Das forderte die zivilgesellschaftliche Bewegung von Anfang an. Reveles: Man kann das, was passiert, nicht verstehen, ohne den Einfluss der USA zu berücksichtigen. Vor einigen Monaten wurde Jesús Vicente Zambada-Niebla, bekannt als »Vicentillo«, gefasst. Das ist der Sohn von Ismael Zambada García, »El Mayo«, einem wichtigen Anführer des mächtigen Kartells von Sinaloa, das in fast 50 Ländern auf vier Kontinenten aktiv ist. Er wurde von der mexikanischen Regierung an die USA ausgeliefert und dort sagte er vor Gericht, dass es von Ende der neunziger Jahre ein Abkommen zwischen dem Kartell von Sinaloa und der US-amerikanischen Regierung gab, wonach das Kartell in Ruhe gelassen werden sollte, wenn dieses die Anführer anderer Kartelle ausliefert. Das bestärkt mich in der Annahme, dass Mexiko ein hegemoniales Kartell schaffen wollte. Das Ziel: Man muss nicht mit sieben Kartellen verhandeln, sondern nur mit einem einzigen. Die Idee vertraten auch zwei enge Berater von Vicente Fox, der 2006 abtrat. Jorge Castañeda und Rubén Aguilar rieten, mit den Drogenhändlern zu verhandeln und sich mit ihnen zu einigen, damit sie nicht außer Kontrolle geraten. Aber um zu verhandeln, muss man in einer Machtposition sein. Der mexikanische Staat ist jedoch derzeit schwach, politisch, ökonomisch und sozial. Er ist schwach und korrumpiert. Hinzu kommt, dass Mexiko nichts machen kann, wenn die USA nichts machen.

Die Regierung befindet sich in der Situation, dass sie offiziell den Drogenhandel bekämpft, sich aber gleichzeitig daran bereichert. Hat der Staat überhaupt ein Interesse daran, die Gewalt zu beenden?

Huerta: Der Staat übt selbst Gewalt aus, weil Gewalt ein Mittel zur Kontrolle ist und gleichzeitig ein Vorwand, um einen Polizeistaat zu errichten. Die mexikanischen Staatsangestellten und Unternehmen und die mexikanischen und nordamerikanischen Banken, alle bereichern sich durch die Geldwäsche. Also wäre eine Bekämpfung der Geldwäsche und der organisierten Kriminalität gegen ihre Interessen. Für mich ist das eine Kriegssimulation, es ist kein echter Krieg gegen den Drogenhandel und die organisierte Kriminalität. Die mexikanische Zivilgesellschaft war immer ein starker Faktor. Wie reagiert sie im Moment? Huerta: Ich würde sagen mit Panik. Und Stillstand. Es gibt einige sehr tapfere Organisationen, die Verbrecher denunzieren, nationale Foren veranstalten, und später zahlen sie den Preis dafür. Ganze Familien wurden verfolgt und ausgelöscht. Und sie haben keine Verbrechen der organisierten Kriminalität angezeigt, sondern die der Soldaten. Angehörige der Opfer fangen in einigen Gegenden an, sich zu organisieren. Zuerst, um zu weinen und zu beten. Und später, um Anzeigen zu erstatten und nach Angehörigen zu suchen. Diese Opfer, die zuerst aus Angst nichts erzählt haben, bilden langsam eine nationale Bewegung. Am 8. Mai gab es eine große Veranstaltung auf dem Zocalo von Mexiko-Stadt, die von der »Bewegung für Frieden mit Gerechtigkeit und Würde« organisiert wurde und zu der rund 150 000 Menschen kamen. Ich interviewte damals Leute für das Radio und sie erzählten Dinge, die sie sich nie getraut haben, bei der Polizei zu erzählen. Reveles: Es gibt viele Menschenrechtsorganisationen in Mexiko, manche verfolgen Fälle des gewaltsamen »Verschwindenlassens« seit 40 Jahren, seit dem »Schmutzigen Krieg«. Die meisten »Verschwundenen« waren Guerilleros, aber auch deren Familienangehörige oder einfach nur Verdächtige. Jetzt gibt es eine zweite Generationen von »Verschwundenen«, das sind mehr als 10 000. Aber es sind keine Guerilleros mehr, sondern Leute, die das Pech hatten, am falschen Ort zur falschen Zeit zu sein. Bei den Teilnehmern an den Karawanen zum Beispiel, die seit drei Jahren ihre Angehörigen suchen, kenne ich keinen einzigen Fall, der aufgeklärt wurde. Ich bin sehr pessimistisch. Aber das heißt nicht, dass man aufgeben sollte.

Und die Idee, Calderón vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag anzuklagen? Denken Sie, dass dies zur Internationalisierung des Themas beitragen wird?

Huerta: Ich hoffe es. Falls es wirklich zum Prozess kommt, wird die mexikanische Regierung sich erklären müssen. Falls nicht, ist es auf jeden Fall ein Schlag gegen Präsident Calderón, der immer behauptet, es geschehe nichts Schlimmes in Mexiko. Calderón mag keine internationale Kritik. In Mexiko kann man sagen, was man will. Aber auf internationale kritische Medienberichte reagiert er sehr sensibel. Reveles: Die Regierung spricht von »Kollateral­schäden«, die jedoch durch sie selbst provoziert werden. Viele Entführungen von Menschen, das »Verschwindenlassen«, wurden von staatlichen Autoritäten oder Paramilitärs verübt. Leidet die Zivilbevölkerung in Mexiko mehr unter der staatlichen Repression und Gewalt oder unter der der Kartelle? Reveles: Gleich viel. Huerta: Man weiß manchmal nicht, wer wozu gehört. Es kommt auch auf die Region an, im Norden sind es vielleicht eher Kartelle. Ich glaube, mit dieser Frage hat sich die Mittelschicht und die Stadtbevölkerung erst seit kurzem auseinandergesetzt, da die Soldaten immer sehr brutal zu den indigenen Gemeinden waren, obwohl sie selbst oft Indigene waren.