Die Armut in Deutschland nimmt zu

Auf dem Weg zum fünften Stand

Trotz wirtschaftlichen Aufschwungs nimmt die Armut in Deutschland zu. Soziale Unruhen dürften dadurch jedoch nicht entstehen.

Wenige Tage vor Weihnachten hat der Paritätische Wohlfahrtsverband seinen »Armutsbericht« veröffentlicht. Der Zeitpunkt kurz vor dem »Fest der Liebe« war eigentlich geschickt gewählt, erwies sich aber – angesichts der schon beinahe hysterischen Aufforderungen zum Konsum in der Krise und der Affäre um Bundespräsident Christian Wulff – als unglücklich: Der Bericht ging in den Medien unter. Dabei sind die Zahlen des Berichts aktuell, sie beziehen sich allesamt auf 2010, und da der Verband auch auf die »regionalen Armutsquoten der statistischen Landesämter« seit 2005, also seit der Einführung von Hartz IV, zurückgreift, lassen sich aus dem Bericht auch längerfristige Entwicklungen erschließen. Hoffnungen macht er nicht.

Die Armut ist trotz des Aufschwungs der Jahre 2006, 2007 und 2010 nicht zurückgegangen, sondern hat sich entweder verfestigt oder ist regional sogar angestiegen. Als arm – im Amtsdeutsch: »armutsgefährdet« beziehungsweise »armutsnah« – gilt, wer monatlich weniger als sechzig Prozent des durchschnittlichen Einkommens zur Verfügung hat. Die Grenze liegt für einen Single-Haushalt bei 826 Euro, für eine Kleinfamilie – zwei Erwachsene, zwei Kinder unter 14 Jahren – bei 1 735 Euro. Zwölf Millionen Menschen in Deutschland sind demnach »armutsnah«. Im Osten sind es 20 Prozent der Bevölkerung, im Westen 13,3 Prozent. In Berlin stieg der Anteil der Armen binnen vier Jahren von 17 auf 19,2 Prozent, in Nordrhein-Westfalen von 13,9 auf 15,4 Prozent. Besonders im Ruhrgebiet, einem Ballungsraum mit fünf Millionen Einwohnern, hat sich die soziale Lage verschlechtert – was aber den allgemeinen Trend bestätigt, denn die meisten Armen finden sich dort, wo die alten Industriezentren liegen, im Osten genauso wie im Westen.
Besonders besorgniserregend ist die Armutsentwicklung bei den Kindern und Jugendlichen. Viele wachsen in Familien auf, die bereits in der dritten Generation arm oder prekär sind. Sie kennen also die Möglichkeit sozialen Aufstiegs gar nicht mehr aus der eigenen Erfahrung. Psychische Erkrankungen unter Jugendlichen treten immer häufiger auf, der Deutsche Kinderschutzbund spricht bereits von Anzeichen struktureller Mangelernährung. Ein noch dramatischerer Trend zeigt sich aber erst auf den zweiten Blick: Bei den Armen handelt es sich nicht notwendigerweise um ALG-II-Empfänger. Deren Zahl blieb nämlich gleich, nahm in manchen Regionen sogar etwas ab – zum Beispiel in Berlin –, während gleichzeitig die Zahl der »Armutsnahen« zunahm. Es gibt also immer mehr »working poor«, was ein bezeichnendes Licht auf das »deutsche Jobwunder« der vergangenen Jahre wirft. Dennoch bestimmt dieses Wunder seit Monaten die wirtschaftspolitischen Nachrichten. Deutschland – das ist die Insel der Seligen mitten in der großen Euro-Krise: Es gibt immer mehr Jobs, die offizielle Arbeitslosigkeit ist auf einen historischen Tiefstand gesunken, der Konsum bricht nicht ein, so die offizielle Darstellung. Selbst für das kommende Krisenjahr wird ein Wirtschaftswachstum erwartet, gebremst freilich, aber nicht vergleichbar mit dem Niedergang Italiens oder Spaniens.

Diese Behauptungen könnte man angesichts des jüngsten Armutsberichts schnell der Haltlosigkeit überführen: Es können gar nicht »die Deutschen« sein, die die Nation angeblich aus der Krise shoppen. Trotzdem müssen die euphemisierenden Nachrichten über das Land des Konsumrausches und »Jobwunders« nicht unbedingt in einem Widerspruch zu der sich verfestigenden Armut stehen, nämlich wenn man davon ausgeht, dass die Armen ohnehin nicht mehr zur Gesellschaft zählen, jedenfalls nicht mehr zu ihrem aktiven, dynamischen und engagierten Teil. Tatsächlich hat das wirtschaftlich vom Abstieg bedrohte, aber noch ausreichend gesicherte Bürgertum – nicht nur – zahlreiche Diskurse etabliert, um die Armen als den isolierten, bloß noch zu verwaltenden Teil der Gesellschaft zu stigmatisieren. Eine ganze Unterschichtskultur wurde »entdeckt«, zu der Ekel-TV, minderwertige Discounter-Nahrung und 900 Tafeln zur Speisung der Armen zählen. Man spricht von Schulkarrieren ohne Perspektive und obendrein, auf pseudowissenschaftliche Weise, über die Vererbung von Intelligenz. Ein Indiz für die Entkopplung zwischen den Armen und der Mehrheitsgesellschaft ist auch die sinkende Wahlbeteiligung. Vor gut zwei Jahren dokumentierte eine Studie des Max-Planck-Instituts, dass ALG-II-Empfänger weit seltener zur Wahl gehen als der Durchschnittsbürger. Rechnet man die Armen aus der Statistik gesellschaftlicher Aktivität heraus, stimmt das Bild vom glücklichen, robusten Deutschland also durchaus. Zur Ausgrenzung der Armen gehört, dass sie, wenn überhaupt, ausschließlich als Opfer vorkommen – maximal als Kriminelle. Ob es Momente von Selbstorganisation, Ansätze irgendeiner Art von untergründiger Ökonomie gibt? Wir erfahren es nicht.
Dafür aber sprach Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, bei der Vorstellung des Berichts von künftigen sozialen Unruhen im Ruhrgebiet: »Wenn dieser Kessel mit fünf Millionen Menschen einmal zu kochen anfängt, dürfte es schwer fallen, ihn wieder abzukühlen.« Man kann aber dem Armutsbericht – zumindest indirekt – entnehmen, warum die immer wieder beschworenen, sicherlich ganz bald ausbrechenden »sozialen Unruhen« bislang ausgeblieben sind: Dramatischer als das Abrutschen von Teilen der Mittelschicht in die Armut ist die Blockade sozialer Mobilität für viele Menschen – einmal arm, immer arm. Für diese Leute ist die Krise ein Dauerzustand. Die notorisch beliebte und für andere Länder vielleicht auch noch zutreffende Gleichung, dass mit der Zunahme der Krise die Wahrscheinlichkeit von Riots steigt, geht an der Lage dieser Menschen in Deutschland vorbei. Die Einführung der Hartz-Regelungen war mit einer enormen und durchweg repressiven Aufwertung von Arbeit verbunden. Gesellschaftliche Teilhabe ist unwiderruflich an die Ausübung irgendeiner Art von Lohntätigkeit geknüpft. Massenhaft werden die Leute in prekäre Beschäftigungsverhältnisse abgedrängt, ein riesiger Arbeitsmarkt für Minijobs ist entstanden, die Branche der Leiharbeitsvermittler boomt.

Die Reaktion der Beschäftigten darauf ist überwiegend nicht die kollektive Gegenwehr, denn die wird durch die Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse und die Zersplitterung des Arbeitsmarkts mehr denn je erschwert. Stattdessen versuchen sie meist, die Prekarität individuell oder – ebenfalls privat – mit Hilfe der Familie zu meistern. Wo einem jeder Job, egal zu welch brutalen Bedingungen, als Reintegration in die Gesellschaft vermittelt wird, klammert man sich umso mehr an diese Option. Erst recht, wenn man aus einer der Regionen stammt, in denen noch vor 20, 30 Jahren die Industriearbeit das Leben bestimmte. So gelesen dürfte der Armutsbericht weniger auf künftige Unruhen verweisen, als auf den Fortschritt bei der Integration des vierten – oder muss man bereits sagen des fünften? – Standes. Stürmischer könnte es werden, wenn die Krise in die Kernbereiche der Industrie und damit auch in die Mitte des verbürgerlichten Proletariats durchschlägt. Dies zu verhindern, dürfte 2012 die große Anstrengung der staatlichen Politik sein.