Klientelismus und selbstverwaltete Betriebe in Argentinien

Sie wollen einfach nicht gehen

Der konservative Bürgermeister von Buenos Aires fördert lieber Klientelismus als Selbstorganisation. Darin ähnelt er seinen politischen Gegnern in Argentinien.

Kein frohes neues Jahr: Der Ausblick auf 2012 stellte sich für die Arbeiterinnen und Arbeiter der empresas recuperadas, der selbstverwalteten Betriebe, in Buenos Aires zum Jahresende ausgesprochen trübe dar. Ende Dezember legte Mauricio Macri, der konservative Bürgermeister der argentinischen Hauptstadt, sein Veto gegen das »Gesetz Nr. 4008« ein. Dieses sollte die Geltungsdauer eines anderen Gesetzes, das bis dahin die selbstverwalteten Betriebe vor den Ansprüchen ihrer ehemaligen Besitzer schützte, bis 2017 verlängern. Das Gesetz hatte das Parlament in Buenos Aires bereits am 17. November passiert und musste vor seinem Inkrafttreten von Macri ratifiziert werden. »Die Entscheidung Macris stellt mehr als 2 000 Arbeitsplätze in Frage«, urteilte Eduardo Montes von der Vereinigung selbstverwalteter Fabriken gegenüber der argentinischen Tageszeitung Página 12. »Ohne einen solchen gesetzlichen Schutz könnte der laufende Prozess der Enteignungen zum Stillstand kommen, und die alten Besitzer könnten zurückfordern, was einst ihnen gehörte.«

Macri selbst erklärte gegenüber dem Fernsehsender TV Pública, dass die Subventionen, die angeblich an die selbstverwalteten Unternehmen gezahlt wurden, besser verwendet werden könnten. Mit diesem Geld könne die Stadt Buenos Aires zum Beispiel Computer kaufen, damit »die Kinder eine bessere Zukunft haben. Wir entscheiden uns immer für die Lösung, die gerechter ist und mehr Menschen etwas bringt.« Mit dieser Argumentation rückt er nicht vom für Argentinien so typischen Klientelismus ab, der von allen großen Parteien praktiziert wird. Der Haken in diesem Fall ist nämlich, dass die selbstverwalteten Betriebe überhaupt keine Subventionen erhalten. Das nun von Macri ausgehebelte Gesetz sah lediglich vor, dass die Stadt Buenos Aires die ehemaligen Besitzer enteignet und entschädigt. Die Belegschaften sollen der Stadt diese Kosten anschließend im Laufe von 20 Jahren zurückerstatten. In den vergangenen Jahren wurden aber nur drei der ehemaligen Besitzer entschädigt.
Die Fronten in dieser öffentlichen Auseinandersetzung sind klar: Auf der einen Seite der konservative Macri, einer der wenigen populären Politiker, den die rechte Opposition gegen die im Oktober mit absoluter Mehrheit wiedergewählte Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner aufbieten kann. Auf der anderen Seite eben jene »Kirchneristen« und die mit ihnen verbundenen Parteien, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften.

Dass die Debatte im wesentlichen zwischen zwei Parteien und ihren Verbündeten stattfindet, ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass gerade die selbstverwalteten Betriebe ein Aushängeschild und Produkt der sozialen Bewegung in Argentinien waren, die im Dezember 2001 mit dem Slogan »¡Que se vayan todos!« (»Alle müssen gehen!«) in 13 Tagen vier Präsidenten aus dem Amt jagte. Doch dem 2003 gewählten Präsidenten Néstor Kirchner gelang es mit einer Politik des divide et impera, und während einer für Argentinien günstigen weltweiten Konjunkturlage, große Teile der sozialen Bewegungen an sich zu binden. Seine Popularität verdankt er aber auch seiner progressiven Politik in Bezug auf die Menschenrechte und der Aufarbeitung der Militärdiktatur, die zwischen 1976 und 1983 herrschte.
Seit 2007 setzt seine Frau Cristina diese Politik fort. Selbst der bekannte argentinische Publizist und Anarchist Osvaldo Bayer sagte 2010 der spanischen Zeitung Diagonal: »Mit dem Ehepaar Kirchner wurden Dinge erreicht, die zuvor unmöglich erschienen. Dank der Abschaffung der Amnestiegesetze wurde es möglich, die Kriminellen der Diktatur zu verurteilen.« Bayer formuliert in demselben Artikel aber auch eine Kritik am Kirchnerismo aus linker Sicht: »Sie haben nicht alles getan, was sie hätten tun sollen, um das Land zu demokratisieren. Denn es gibt keine Demokratie, solange Elendsviertel existieren und Kinder hungern.«
Die International Labour Organisation stellte im Februar 2011 fest, dass Argentinien neben Spa­nien, Polen, Südkorea und Deutschland zu den Ländern gehört, in denen der Niedriglohnsektor in den vergangenen zehn Jahren am schnellsten gewachsen ist. Die Regierungen unter Kirchner setzten in diesem Zeitraum verstärkt auf eine Zusammenarbeit mit den peronistischen Gewerkschaftsdachverbänden, mit denen sie die Tarifpolitik in Schlüsselbranchen zentral steuerten. Die Spaltung der argentinischen Gesellschaft in Arm und Reich hat sich dadurch weiter verschärft.
Den Kirchners gelang es durch gezielte Patronage, strategisch bedeutende Akteure aus den sozialen Bewegungen und den Gewerkschaften an sich zu binden. Die Teile der sozialen Bewegungen, die auf ihrer Unabhängigkeit beharrten, erhielten nicht nur kaum noch finanzielle Mittel, sondern wurden auch im öffentlichen Diskurs delegitimiert und mit Repression konfrontiert. So wurde zum Beispiel 2004 der bekannte Piquetero-Anführer Raúl Castell verhaftet, da er sich gegen Néstor Kirchner gestellt hatte.

Die einflussreiche Piquetero-Bewegung der Arbeitslosen, die seit den neunziger Jahren mit Straßenblockaden Druck auf die politische Führung ausgeübt hatte, wurde durch diese Politik gespalten und marginalisiert. »Die Piqueteros sind in den neunziger Jahren nicht zuletzt deshalb entstanden, um sich gegen diese Praxis des Klientelismus zu wehren. Sie haben es auch geschafft, Alternativen für Erwerbslose anzubieten. Dass sie jedoch durch die von ihnen mitverwalteten Sozialprogramme Strukturen aufgebaut haben, die dem peronistischen Klientelismus ähneln, erleichtert wiederum Präsident Kirchner seine Strategie, ganze Piquetero-Organisationen zu kooptieren«, schrieb Birte Goldt 2005 treffend im Magazin iz3w.
Parallel wurden die selbstverwalteten Betriebe durch eine Politik der Legalisierung an den Staat gebunden. Das Gesetz zur Enteignung der ehemaligen Besitzer ist hierfür ein gutes Beispiel. Es wurden zwar gesetzliche Rahmenbedingungen für die selbstverwalteten Betriebe geschaffen, damit wurde ihnen eine gewisse Existenzsicherheit zugebilligt. Allerdings wurden die vorgesehenen Maßnahmen nur äußerst langsam umgesetzt, so dass eine starke Abhängigkeit der selbstverwalteten Betriebe von den staatlichen Strukturen erhalten blieb. Nun, wo der Hauptstadt ein Politiker vorsteht, der der Sympathie mit den selbstverwalteten Betrieben unverdächtig ist, rächt sich dies.
Die Repräsentanten der selbstverwalteten Betriebe rufen unterdessen zum Widerstand gegen die Politik Macris auf. »Wir werden Druck von der Straße aus aufbauen, wie wir es immer getan haben«, sagte Juan Carlos Riguini, der in dem Textilunternehmen Brukman arbeitet, dem lokalen Radiosender Radio Provincia. Vertreter und Vertreterinnen der Kampagne »Enteignung sofort!« (»¡Expropia ya!«) kündigten einen Aktionsplan für die nächsten Monate an. Bürgermeister Macri wird derweil wegen des exzessiven Einsatzes seines Vetorechts immer heftiger kritisiert. Seit seinem Amtantritt 2007 hat er bis jetzt in 101 Fällen davon gebrauch gemacht. In den meisten Fällen gegen die Stimmen seiner eigenen Partei. Zuletzt kippte er ein Gesetz, das die Einführung von akustischen Ampelsignalen für Blinde vorsah.