Über ost- und westdeutsche Rassisten

Very German Specialities

Was die Debatte um die neonazistischen Morde der »Zwickauer Zelle« über den ­ost-, west- und gesamtdeutschen Rassismus verrät.

250 000 Straftaten mit rassistischem Hintergrund gab es nach offiziellen Angaben der Bundesregierung seit 1990 im vereinigten Deutschland. Mehr als 180 Tote und ungezählte Verletzte sind zu beklagen. Um das politische Ausmaß dieser Barbarei zu verstehen, ist es unumgänglich, sich mit der Geschichte dieses Rassismus zu beschäftigen. Genauso wichtig ist es aber auch, sich die Frage zu stellen, warum die Zahlen der rassistischen Straftaten im östlichen Teil der Bundes­republik seit vielen Jahren mehr als doppelt so hoch sind wie im Westen. Die Aufdeckung der neonazistischen »Zwickauer Zelle« hat in den vergangenen Monaten dazu geführt, dass das Thema in den Blick der Öffentlichkeit geraten ist. Denn die Herkunft der Mitglieder des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) verweist auf zwei für jenen Rassismus konstitutive Momente: die frühe Sozialisation in der DDR und den Eintritt als junge Erwachsene in die sozialen und politischen Verhältnisse des vereinigten Deutschlands im Bundesland Thüringen.
In der DDR gab es seit den sechziger Jahren einen institutionellen und gesellschaftlichen Rassismus, von dessen Existenz niemand wissen sollte. Diese Tatsache wird heute noch von vielen angezweifelt, wie auch im Zuge der Debatte um die »Zwickauer Zelle« deutlich wurde. Infolge der öffentlichen Diskussionen über die Ursachen für das Entstehen des NSU wurden die Defizite der gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen sichtbar, in deren Verantwortung es liegt, das rassistische Übel zu bekämpfen.

Auf einer Podiumsdiskussion der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur behauptete Bernd Wagner vom »Zentrum Demokratischer Kultur« vergangene Woche etwa, der erste polizeiinterne Bericht über nazistische Umtriebe in der DDR habe erst 1985 vorgelegen. Dokumente verschiedener staatlicher Stellen, die damals als »vertraulich« behandelt wurden, beweisen hingegen, dass rechtsextreme Vorfälle und Gruppen den Behörden der DDR schon viel früher bekannt waren. Einige Beispiele: 1960 schlug eine »Bande« von acht Jugendlichen in der Gemeinde Schalkau im Kreis Sonneberg zwei Volkspolizisten sowie den Sicherheitsbeauftragten der SED-Kreisleitung zusammen und schmierte Hakenkreuze an ein Schulgebäude. In Berlin-Hohenschönhausen waren in den sechziger Jahren mehr als 40 Neonazis im Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit inhaftiert. Sie wurden beschuldigt, in Potsdam-Nedlitz eine »rechtsradikale Untergrundbewegung« aufgebaut zu haben. In Leipzig wurden ebenfalls in den sechziger Jahren 18 Jugendliche wegen neonazistischer Schmierereien festgenommen. In den siebziger Jahren gab es weitere rassistische Vorfälle. In Freiberg in der Nähe des damaligen Karl-Marx-Stadt kam es 1978 an der Bergakademie während der FDJ-Studententage zu Schlägereien zwischen Deutschen und algerischen Arbeitern. Nach diesem Vorfall verschärfte sich die rassistische Stimmung eines Teils der FDJ-Mitglieder, doch die örtliche FDJ-Leitung unternahm nichts gegen die Hetze. In Magdeburg gab es 1978 an einzelnen Polytechnischen Oberschulen und an Kinder- und Lehrlingswohnheimen »provokato­rische Äußerungen und aggressives Auftreten mit politischer Tendenz«. Gemeint waren damit wieder Hakenkreuze, der Hitlergruß und Hetze gegen die Sowjetunion. Diese Liste mit rassistischen Vorkommnissen in der DDR lässt sich von den sechziger Jahren bis zum Ende der DDR im Jahr 1990 verlängern.
Auch in der BRD gab es in dieser Zeit immer wieder rassistische Vorfälle und Angriffe, die ihren Höhepunkt am 26. September 1980 erreichten, als die Bombe eines Neonazis auf dem Oktoberfest in München 13 Menschen tötete und 211 Personen zum Teil schwer verletzte.
Die demoskopische »Sinus-Studie« enthüllte 1981, dass etwa 13 Prozent der westdeutschen Bevölkerung ein »geschlossenes rechtsextremes Weltbild« hatte, dass sie sich von Ausländern »bedroht« fühlte und ein »Führerstaat« für nötig hielt. Diese Umfragen sind in verschiedener Form bis in die Gegenwart fortgesetzt worden. In drei Studien aus dem Jahr 2006 wurde festgestellt, dass sich in Deutschland bei etwa 50 Prozent der Bevölkerung ein rassistischer und na­tionalistischer Konsens herausgebildet habe. Eine Studie des Instituts für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena mit dem Titel »Politische Kultur im Freistaat Thüringen«, die im Auftrag der Landesregierung Thüringen im vergangenen Jahr erstellt wurde, ergab, dass 56 Prozent der Thüringer der Meinung sind, Deutschland sei »in einem gefährlichen Maße überfremdet«.

Die Rassismusforschung hat in Deutschland bisher keine der Situation angemessene Aufklärung zustande gebracht. Sogar der Begriff »Rassismus« wird konsequent gerügt, beispielsweise vom Bundestagspräsidium, wie aus Wolfram Stenders Aufsatz »Ideologische Syndrome. Zur Aktualität des sekundären Antisemitismus in Deutschland« (2011) hervorgeht. Darin schreibt Stender: »Wenn man sich den öffentlichen Umgang mit Rassismus in Deutschland anschaut, trifft man tatsächlich auf ›very german specialities‹. Dazu gehört, dass über Rassismus jahrzehntelang nur mit unmittelbarem Bezug auf den Nationalsozialismus gesprochen werden konnte.« Stender stellt fest: »Selbst nach den rassistischen Pogromen zu Beginn der neunziger Jahre wurde im politischen, wissenschaftlichen und medialen Mainstream bagatellisierend von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus gesprochen, aber fast nie von Rassismus.« Und weiter führt er aus: »Wenn man erklären will, warum sich bis heute – im Unterschied zu anderen europäischen Ländern und den USA – keine Rassismusforschung in Deutschland etablieren konnte, wird man sich mit Irrationalitäten dieser Art beschäftigen müssen. Wie der sekundäre Antisemitismus ist auch der sekundäre Rassismus Symptom einer ›unbewältigten Vergangenheit‹ (Adorno). Er ist Teil des spezifisch deutschen ideologischen Syndroms.« Dieses Syndrom des verleugnenden Verdrängens der rassistischen Verbrechen im Nationalsozialismus prägte die kollektive Bewusstseinslage der Deutschen nach 1945, in der DDR wie in der BRD.
Die Morde der Zwickauer Zelle haben die verheerenden Konsequenzen dieses Verdrängens veranschaulicht. Das deutsche ideologische Syndrom des Nationalismus und Rassismus bzw. Antisemitismus ist nach 1945 nicht verschwunden, und sein Fortleben wurde aufgezeigt: Aus »völkisch« wurde »ethnisch«, aus »Rasse« wurde »Kultur«, und aus Antisemiten wurden Anti­zionisten. Nicht nur Antisemitismus, sondern auch Nationalismus und Rassismus durften ­öffentlich nicht stattfinden, überdauerten aber sowohl auf der gesellschaftlichen Ebene wie auch in der Form eines institutionellen Rassismus. Mit den ersten »Gastarbeitern«, die ab Mitte der fünfziger Jahre aus dem Süden Europas in der BRD kamen, und mit den »Vertragsarbeitern«, die mehrheitlich aus afrikanischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Ländern ab Mitte der sechziger in die DDR einwanderten, fand der verleugnete deutsche Rassismus konkrete Angriffsziele.