Der Stand der Occupy-Bewegung in New York

Burn-out bei Occupy

Zero Tolerance der Polizei und die Frage »Wo steht die Bewegung?« beherrschten die Proteste zum Jahrestag der Occupy-Bewegung in New York.

Am Ende des Konzerts ähnelt die Stimmung auf dem Foley Square im Financial District in Manhattan fast der in einer Gospel-Kirche. Zum letzten Lied »We are the 99 %«, der Hymne der Bewegung, holen der ehemalige Gitarrist von Rage Against the Machine, Tom Morello, und der als Moderator fungierende Jello Biafra das Publikum auf die Bühne. Junge Punks und Friedensbewegte älteren Jahrgangs, weiße Hipster und schwarze Community-Aktivisten liegen sich in den Armen, singen, lachen und klatschen mit. Um sie herum stehen 400 weitere Demonstranten aus dem ganzen Land, die nach New York gekommen sind, um den einjährigen Geburtstag der Occupy-Bewegung zu begehen.
Am 17. September 2011 begann die Besetzung des Zuccotti-Parks in Manhattan, zum Jahrestag hat die Occupy-Bewegung zu »Drei Tagen der Aufklärung, des Feierns und Widerstands« in New York aufgerufen. Ihren Abschluss und Höhepunkt fanden die Aktionstage in der versuchten Blockade der New Yorker Börse am Montag voriger Woche. Kollektive Ermutigungen, Selbstbestätigung und die Frage »Wo steht die Bewegung?« dominierten die Aktionen zum Jahrestag.
»Wir sind immer noch hier«, steht auf einem Schild geschrieben, das eine junge Demonstrantin auf dem Foley Square vor der Bühne in die Höhe reckt. Deutlich weniger Demonstranten als im vorigen Jahr und auch deutlich weniger Menschen als von den Veranstaltern erhofft beteiligen sich an den Aktionstagen. »Der Wandel, den wir wollen, braucht eine lange Zeit.« Mit diesen Worten versucht der Protestveteran Jello Biafra dem Publikum Mut zu machen. Mit der Räumung der letzten Camps in den vergangenen Monaten ist es ruhig geworden um die Occupy-Bewegung in den USA. Neuen Schwung erhofften sich die Aktivisten deshalb von den Aktionen zum Jahrestag. »Der ›Spirit von Seattle‹ ist mit Occupy wiedergeboren worden«, ruft Biafra von der Bühne. Der ehemalige Sänger der Punkband »Dead Kennedys« will die Angst vor der Revolution wieder in die Herzen von Amerikas Kapitalisten tragen.

Etwa 1 000 Demonstrierende ziehen am frühen Montagmorgen von verschiedenen Treffpunkten im Financial District von Manhattan in Richtung der New York Stock Exchange (NYSE). Vom »Spirit of Seattle« ist wenig zu spüren. Erst langsam ertönen Sprechchöre, die meiste Zeit liefern sich die Demonstrierenden ein Wettrennen mit der ähnlich stark vertretenen Polizei. Nur selten gelingt es den Occupy-Aktivisten, auf die Straße zu kommen oder gar, wie eigentlich geplant, Straßenkreuzungen zu besetzen. Dem Kommando »Get on the sidewalk« der Beamten des New York Police Department (NYPD), verbunden mit einem deutlichen Handzeichen, kommen die meisten nach. Wer dies nicht tut, wird wegen »disorderly behavior« festgenommen. Die Aktivisten demonstrieren auf dem Bürgersteig, die Polizei begleitet sie auf der Straße. Währenddessen beobachten Heerscharen privater Sicherheitsleute vor den einzelnen Gebäuden und die zur Arbeit eilenden Banker und Analysten das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Polizei und Demonstrierenden. »Get up, get down, there’s revolution in this town«, rufen einige. Doch eine Revolution brauchen die Angestellten der Finanzindustrie an diesem Morgen nicht zu befürchten. Nur selten kommt es zu Wortgefechten, meist laufen Banker und Aktivisten friedlich aneinander vorbei – die einen durch die Polizei­sperren, die anderen von einer zur nächsten. Die geplante Umzingelung der New Yorker Börse gerät zur Umrundung der weiträumig abgesperrten Wall Street.
Am Abend sammeln sich bis zu 1 000 Menschen im Zuccotti-Park. Doch eine Wiederbesetzung des im November geräumten Parks gelingt nicht. Noch vor Mitternacht durchkämmen private Sicherheitsleute und New Yorker Polizisten immer wieder den Park und vertreiben die letzten Aktivisten mit starken Scheinwerfern. Die Bilanz der dreitägigen Proteste: über 200 Festnahmen, die meisten wegen »disorderly behavior« und wegen Behinderung des Fußgängerverkehrs. Die Veranstalter zeigen sich trotzdem zufrieden. Die Proteste seien eine »großartige Feier der Errungenschaften der Bewegung« gewesen und hätten die Bewegung »mit frischer Energie für die Kämpfe, die vor uns liegen«, versorgt, verkündet »Occupy Wall Street«.

»Occupy ist nicht so sehr eine Bewegung, es ist ein Spirit«, rief Jello Biafra am Tag zuvor beim Jubiläumskonzert von der Bühne. Das Publikum jubelte. Es folgte ein Bündel an Forderungen: »Die Reichen müssen ihren fairen Anteil zahlen, Freiheit für Pussy Riot, Freiheit für Bradley Manning, Nein zu Guantánamo, Nein zum Krieg gegen Drogen.« Erneuter Jubel.
Genau diese Mischung aus der wahllosen Artikulation diverser politischer Forderungen durch verschiedene Aktivisten und der gleichzeitigen Weigerung der »Bewegung als Ganzes«, sich auf Forderungen festzulegen, sei es zu verdanken, dass viele Menschen der Bewegung den Rücken gekehrt hätten, urteilen viele US-Medien. Zwar habe Occupy das Thema soziale Ungerechtigkeit auf die öffentliche Agenda gesetzt, die Rede von den »99 Prozent« sei Teil des politischen Vokabulars geworden. Doch abgesehen von kleinen Erfolgen wie der Verhinderung der Erhöhung von Kontogebühren bei einigen Großbanken sowie von Häuserräumungen habe Occupy kaum konkrete Ergebnisse erzielt.
Auch der Soziologe und ehemalige Vorsitzende der Students for a Democratic Society (SDS), Todd Gitlin, prophezeit, dass sich Occupy ohne konkrete Projekte und Erfolge totlaufen werde. »Gelegentliche rituelle Zusammenkünfte werden die Verhältnisse nicht umstürzen«, kommentierte der bekannte frühere Aktivist der außerparlamentarischen Linken die Proteste vorige Woche.
Diese Erkenntnis scheint sich bei den Occupy-Protagonisten immer mehr durchzusetzen. »Wir sollten mehr kleine, lokale Kämpfe austragen, die wir gewinnen können«, fordert Jello Biafra. Genau das haben diejenigen, die der Bewegung nicht den Rücken gekehrt haben, in den vergangenen Monaten getan. Mietenstreik gegen Räumungen in Brooklyn (New York), Unterstützung beim community organizing für den stadtweiten Lehrerstreik in Chicago oder eine offene Konkurrenzdebatte parallel zu den in Kürze stattfindenden Fernsehdebatten der Präsidentschaftskandidaten in Denver – Occupy im Herbst 2012 ist kleiner und lokaler.