Ein Bericht aus Syrisch-Kurdistan

Am Rande des Bürgerkriegs

Im Zuge des Bürgerkriegs konnten sich die syrischen Kurden eine prekäre Autonomie erkämpfen. Bedroht ist diese nicht nur durch das Regime, sondern auch durch Angriffe der Freien Syrischen Armee und jihadistischer Milizen sowie durch innere Konflikte zwischen unterschiedlichen kurdischen Parteien. Ein Bericht aus Syrisch-Kurdistan.

Seit Mitte Januar hat der Bürgerkrieg in Syrien auch die kurdischen Gebiete im Norden des Landes erreicht. Nicht syrische Soldaten sind es jedoch, die in Serê Kaniyê (Arabisch: Ras al-Ain) auf kurdische Kämpfer und Zivilisten schießen, sondern Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA) und ihrer sunnitisch-jihadistischen Verbündeten.
Kämpfer der al-Nusra-Front (Unterstützerfront), des Katibat al-Ghuraba (Bataillon der Fremden), der Liwa al-Tawhid (Brigade der Einheit) und einiger anderer Gruppen, die sich als Teil oder Verbündete der FSA verstehen, kämpfen seither mit schweren Waffen gegen kurdische Einheiten, die sich vor allem aus den Volksverteidigungseinheiten (YPG) der PKK-Schwesterpartei PYD, aber auch aus Milizen anderer kurdischer Gruppen, zusammensetzen. Videos, die im Internet zu sehen sind, dokumentieren auch schwere Übergriffe auf kurdische Zivilisten durch die Kämpfer der FSA und ihrer jihadistischen Verbündeten.
Bereits im Dezember war es hier zu Kämpfen in einer ähnlichen Konstellation gekommen. Ein Waffenstillstand hielt nur wenige Wochen. Derzeit wird über einen neuen Waffenstillstand zwischen der FSA und den Kurden verhandelt, ob das zu einem Ergebnis führt, das auch vor Ort respektiert wird, ist nicht klar und hängt davon ab, wie viel Kontrolle die Führung der FSA über ihre Kämpfer vor Ort hat. In der Zwischenzeit führt die al-Nusra Front in den von ihr kontrollierten Gebieten lokale Sharia-Gerichte ein, als ersten Schritt zum von ihr angestrebten »islamischen Staat«.

Viele Kurden, die im vergangenen Sommer aufgrund des Rückzugs der Armee in die umkämpften arabischen Städte dieses Gebiet kampflos übernehmen konnten, werfen der Türkei vor, hinter dem Angriff der FSA und ihrer Verbündeten zu stehen. »Das ist ein schmutziges Spiel der türkischen Regierung«, meint etwa Hassan Mohamed Ali, der außenpolitische Repräsentant der PYD, der die Türkei beschuldigt, diese Gruppen zu finanzieren, um gegen die YPG in den Krieg zu ziehen.
Die YPG ist seit dem 9. Januar bei der Stadt Gir Zîro (Arabisch: Tall Adas) mit Truppen der regulären syrischen Armee in Kämpfe um ein Erdölfördergebiet verwickelt. Syrisch-Kurdistan wird damit zu einem weiteren Schauplatz des Bürgerkrieges.
Dabei hatten die Einheiten der Partei der Demokratischen Union, die 2003 als syrische Schwesterpartei der PKK gegründet worden ist, zunächst völlig kampflos die meisten kurdischen Gebiete Syriens übernommen. Anfang des Sommers 2012 hatte die syrische Armee ihre Truppen aus den umkämpften arabischen Städte abgezogen und nur an einzelnen strategisch wichtigen Orten, wie am Flughafen Qamishli, der informellen Hauptstadt Syrisch-Kurdistans, Truppen belassen. Die PYD war zwar lange Zeit nur eine von vielen kurdischen Parteien in Syrien gewesen. Durch ihre im Guerillakampf der PKK trainierten militärischen Einheiten und ihre noch aus der Zeit der syrischen Unterstützung für die PKK stammenden Verbindungen nach Damaskus gelang es ihnen jedoch im Laufe des Sommers, zur entscheidenden militärischen und politischen Kraft in der Region zu werden.
Im Juli einigte sich die PYD schließlich durch Vermittlung des Präsidenten der Kurdischen Regionalregierung im Irak, Massoud Barzani, auf die Bildung eines gemeinsamen Obersten Kurdischen Komitees mit anderen kurdischen Parteien Syriens, die dem Kurdischen Nationalrat (KNC) angehören.
Was für die beteiligten Parteien ein wichtiger Schritt zur Errichtung einer kurdischen Selbstverwaltung in Syrien darstellte, stimmt Abdulbaset Sieda weniger glücklich. Der Präsident des Syrischen Nationalrates (SNC), der als parteiloser Kurde zwar über keine Hausmacht verfügt, aber wohl genau deshalb zum Präsident dieses heterogenen Bündnisses der arabischen Exilopposition gewählt wurde, beklagt, dass die Zusammenarbeit mit dem Kurdischen Nationalrat in Syrien (KNC) seither schwieriger geworden sei, »da der Nationalrat nun auch auf die PYD achten muss«. Die PYD gilt dem studierten Philosophen, der bis vor wenigen Monaten noch als Lehrer in Schweden arbeitete, schlicht als »Verbündete des Ba’ath-Regimes«. Der Syrische Nationalrat konnte sich bislang nicht einmal darauf einigen, den Kurden nach dem Sturz Assads eine vage Zusage für Autonomie zu machen, was für Ärger auf Seiten der Kurden sorgte.

Vor Ort zeigt sich die politische Spaltung der syrischen Kurden deutlich. Etwa in Amûdê, der rund 50 000 Einwohner zählenden Heimatstadt Siedas, wo jeden Freitag gleich drei rivalisierende Demonstrationen stattfinden. Die eine sympathisiert mit dem Syrischen, die andere mit dem Kurdischen Nationalrat und die dritte wird von der PYD organisiert.
Bei der ersten Demonstration sieht man vor allem die grün-weiß-schwarzen Fahnen der Oppositionsallianz. Auf jener des Kurdischen Nationalrats dominiert die kurdische rot-weiß-grüne Fahne mit einer Sonne in der Mitte und auf der Demonstration der PYD überragen die Bilder des PKK-Führers Abdullah Öcalan die Parteisymbole der PYD und der YPG. Frauen treten lediglich bei der PYD-Demonstration als Rednerinnen auf, die Partei gilt als Vorkämpferin für Frauenrechte. Doch finden sich auch bei den anderen beiden Demonstrationen Frauengruppen ein. Alle drei Demonstrationen richten sich gegen das Regime in Damaskus, darüber hinaus gibt es jedoch wenige Gemeinsamkeiten.

Während es den Anhängern des Syrischen Nationalrats vor allem um eine gesamtsyrische Lösung geht und nach deren Vorstellungen alle Fragen über die Zukunft der Kurden nach dem Sturz des Regimes diskutiert werden sollten, geht es den Parteien des Kurdischen Nationalrates eher um die Absicherung einer kurdischen Autonomie. Die PYD wiederum verfolgt ihr eigenes ideologisches Konzept des »demokratischen Konföderalismus« und orientiert sich in ihren politischen und strategischen Entscheidungen stark an der PKK-Zentrale in den irakischen Qandil-Bergen.
»Die Zusammenarbeit mit der Türkei ist eine rote Linie für die PYD«, sagt Hassan Mohammed Ali. So wie Sieda die PYD als verlängerten Arm des syrischen Regimes betrachtet, sieht Ali den SNC als verlängerten Arm der Türkei: »Wir sind bereit, mit allen syrischen Oppositionskräften zusammenzuarbeiten. Diese dürfen aber nicht von ausländischen Mächten benutzt werden.« Für den Fall einer Militärintervention der Türkei oder der Nato droht der PYD-Führungskader, der zugleich Mitglied des Obersten Kurdischen Komitees ist, offen mit militärischem Widerstand.
Die im Guerillakampf der PKK geschulten »Volksverteidigungseinheiten« der PYD sind derzeit mit Abstand die stärkste militärische Kraft in Syrisch-Kurdistan. Bei der Konferenz des Kurdischen Nationalrats, die im Januar in Qamishli stattfand, beschlossen die Mitglieder des KNC allerdings die Einrichtung eines eigenen militärischen Komitees. Ziel ist es, eine gemeinsame syrisch-kurdische Armee aufzubauen, der sich dann auch die YPG unterordnen sollen. Ob diese dabei mitspielen, ist allerdings fraglich. Hassan Mohammed Ali bestreitet, dass es sich bei den YPG um eine Parteimiliz der PYD handle. Im Konzept des »demokratischen Konföderalismus«, das seit einigen Jahren die früheren marxistisch-leninistischen Vorstellungen der PKK abgelöst hat, sind die »Volksverteidigungseinheiten« und die als Verwaltungsstrukturen gedachten sogenannten »Volksräte Westkurdistans« (TEV-DEM) keine Organe der PYD, sondern »Institutionen des Volkes«. Dem von den anderen kurdischen Parteien erhobenen Vorwurf, autoritär zu agieren, widerspricht Hassan Mohammed Ali mit dem Hinweis auf den angeblich basisdemokratischen Charakter dieser Organe: »Es sind ja nicht wir als Partei, die Westkurdistan regieren, sondern die vom Volk gewählten Volksräte. Wie könnten diese autoritär sein?«

Genau das werfen die anderen kurdischen Parteien der PYD jedoch vor. Zardasht Mohammed vom Politbüro der Kurdischen Demokratischen Unionspartei glaubt nicht, dass es jemals zu einer Einigung mit der PYD kommen werde, weil diese sich nicht an Abmachungen halte. Dabei ist seine Partei unter der Führung von Muhiyuddin Sheikh Ali noch eine der PYD-freundlicheren Parteien innerhalb des Kurdischen Nationalrats. Gemeinsam mit der Schwesterpartei der irakisch-kurdischen Puk, der Kurdischen Demokratischen Fortschrittspartei unter der Führung von Abdul Hamid Hajji Darwish gilt die Demokratische Unionspartei als relativ PYD-freundlich. Bereits im Irak hatte Jalal Talabanis PUK über lange Zeit hinweg bessere Beziehungen zur PKK als Barzanis KDP. Die beiden der Puk nahestehenden Parteien gelten heute auch innerhalb des Kurdischen Nationalrats als relativ kooperationsbereit gegenüber der PYD.
Dem gegenüber stehen jene Mitgliedsparteien des KNC, die sich derzeit um die Schwesterpartei von Barzanis KDP, die Demokratische Partei Kurdistans in Syrien unter Abdul Hakim Bashar sammeln. Gemeinsam mit der PDKS haben sich die beiden erst im Oktober 2011 in zwei Parteien gespaltenen Azadî-Parteien und die Kurdische Unionspartei am 15. Dezember zu einer Dachorganisation zusammengeschlossen, die einmal zu einer einzigen Partei zusammenwachsen und groß genug sein soll, der PYD Konkurrenz zu machen.
Hassan Salih, der 2003 bis 2007 den rotierenden Vorsitz der Kurdischen Unionspartei innehatte und derzeit im Parteivorstand sitzt, kritisiert die PYD entsprechend scharf: »Sie hat eine Ideologie, die nur auf dem eigenen militärischen Kampf aufbaut. Wir haben zwar immer wieder das Gespräch gesucht, aber wegen des Monopol­anspruchs der PYD war es einfach nicht möglich, gute Beziehungen zueinander aufzubauen.« Von der PYD verlangt der ehemalige politische Gefangene, dass diese ihre Einheiten unter ein gemeinsames Kommando mit den Parteien des Kurdischen Nationalrats stellt.

Keine der Mitgliedsparteien des Kurdischen Nationalrats will eine Eskalation des Konflikts mit der PYD. Die Furcht vor einem innerkurdischen Bürgerkrieg ist schließlich auch der Hauptgrund, warum jene Peshmerga, also kurdischen Kämpfer, die Massoud Barzani in Irakisch-Kurdistan in den vergangenen Monaten ausbilden ließ, von Barzani zurückgehalten werden und die Grenze zu Syrien bislang nicht überschritten haben. Der Präsident der kurdischen Regionalregierung im Irak betont, dass diese Einheiten nur für den Notfall gedacht seien, um im Falle eines Sicherheitsvakuums die kurdische Zivilbevölkerung Syriens zu schützen, keineswegs, um gegen die »Volksverteidigungseinheiten« der PYD zu kämpfen.
Unter den etablierten kurdischen Parteien kritisieren zwar viele die Untätigkeit der »internationalen Gemeinschaft«, allerdings fordert keine der Parteien des Kurdischen Nationalrats eine Militärintervention.
Genau das wünscht sich allerdings Munzur Eskan, Gründer und Sprecher der 2005 im Untergrund entstandenen parteiunabhängigen »Kurdischen Jugendbewegung«. Nachdem die kurdischen Oppositionsparteien aus Sicht der Jugendlichen in den vom Regime brutal niedergeschlagenen Protesten 2004 versagt hatten, organisierten sich die Jugendlichen erneut gegen das Regime. Die derzeit in zehn Städten aktive Bewegung ist eine der wenigen Gruppen, in denen junge Frauen und Männer zusammenarbeiten.

Eskan, der bereits im Alter von 16 Jahren verhaftet und gefoltert wurde und erst im Jahr 2010 wieder freikam, wünscht sich nicht nur ein militärisches Gegengewicht zur PYD. Im Gegensatz zu den meisten kurdischen Parteien fordert seine Jugendbewegung auch eine internationale Militärintervention gegen das syrische Regime.
In der kurdischen Gesellschaft geht nicht nur ein Riss durch die Parteien, sondern auch durch die Generationen. Ein großer Teil der Aktivitäten der syrischen Opposition wird nicht mehr von den Parteien, sondern von unabhängigen Jugendgruppen und anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen getragen. Hisham Shei­kho vom Koordinationsrat der Kurdischen Jugend in Amûdê, einer anderen Jugendbewegung, fordert ebenfalls ein militärisches Eingreifen des Westens. Die Zurückhaltung der kurdischen Parteien kann er nicht verstehen.
Von Kulturgruppen über Frauenvereine bis zu Schülergruppen haben sich in den vergangenen Monaten Hunderte lokaler Organisationen in den kurdischen Städten Syriens gebildet, die oft unabhängig von den Parteien unterschiedliche Initiativen ins Leben rufen und mit unterschiedlichen Strategien gegen das Regime kämpfen.
Einstweilen wird die Versorgungslage der Bevölkerung allerdings auch in jenen Regionen immer schlechter, in denen noch nicht gekämpft wird. In den kurdischen Städten gibt es nur noch rund eine Stunde pro Tag Strom. Benzin und Heizmaterial sind ebenso knapp wie Medikamente. Die ohnehin schon notleidende Bevölkerung muss zudem mittlerweile rund 500 000 intern Vertriebene, die aus anderen Regionen Syriens kommen und in den noch relativ sicheren kurdischen Gebieten Schutz suchten, versorgen. Hierher kommen bislang keine internationalen Hilfsorganisationen. Die Grenze zur Türkei ist geschlossen und wer Waren in die Region bringen muss, kann es entweder über den Irak versuchen oder einen illegalen nächtlichen Grenzübertritt wagen. Drei Millionen Menschen allein in den kurdischen Regionen werden sich auf diese Weise nicht versorgen lassen.
Die einzige Hoffnung bleibt ein baldiges Ende des Krieges. Kaum jemand erwartet allerdings, dass mit dem Sturz Assads auch die bewaffneten Konflikte zu Ende sind. Die Kämpfe in Serê Kaniyê lassen derzeit zumindest die kurdischen Parteien zusammenrücken. Ein innerkurdischer Konflikt wird damit im Moment unwahrscheinlicher.