Morris Hollman im Gespräch über Drogenkriege und die Dokumentarfilmerei in Kolumbien

»Legalisierung ist der einzige Ausweg«

Hollman Morris ist einer der renommiertesten investigativen Journalisten Lateinamerikas. Zu Hochzeiten des Drogenkriegs in Kolumbien etablierte er das Editorial »Menschenrechte« in der Tageszeitung El Espectador. In seinem Fernsehmagazin »Contravía« berichtete er von Vertreibungen, Massakern und hingerichteten Zivilisten im Inneren des Landes. Juan Manuel Santos, damals Verteidigungsminister, heute Präsident von Kolumbien, bezeichnete Morris als »Komplizen des Terrors«. Da Fernsehsender im Einverständnis mit der Regierung Álvaro Uribes keine Kamerateams in Konfliktzonen entsandten, sind seine Aufnahmen aus dieser Zeit nahezu einzigartig. Morris wurde überwacht, verhaftet und ging mehrmals mit seiner Familie ins Exil. Mit der Jungle World sprach er über Drogenkriege und Versuche der Legalisierung, Journalismus und Dokumentarfilm.

In Kolumbien sind Sie seit langem für Ihre audiovisuellen Dokumentationen des Kriegs bekannt. Ihr Dokumentarfilm »Impunity« (Straflosigkeit) sorgte auch international für Aufsehen. Was hat dieser Dokumentarfilm in Kolumbien ausgelöst?
In einem Land, das als älteste Demokratie Lateinamerikas bekannt ist, stellt »Impunity« das politische System in Frage. Denn der Film fragt nach vier Millionen Vertriebenen, er fragt nach 6 000 politischen Morden, er fragt nach den engen Verbindungen zwischen Politikern und paramilitärischen Gruppen. Er stellt dabei Bevölkerungsteile in den Blickpunkt, die von der Gesellschaft und den traditionellen Medien ausgeblendet werden. Er macht die Unsichtbaren sichtbar – Menschen, die Gewalt und Verfolgung erlitten haben.
Was kann der Dokumentarfilm, was andere journalistische Formate nicht können?
Der Dokumentarfilm ermöglicht es, die Opfer von Kriegen und Diktaturen nicht nur in ihrer menschlichen Tragödie darzustellen, wie dies nur zu oft im traditionellen Journalismus passiert. Zwar zeigt auch der Dokumentarfilm Menschen mit Tränen in den Augen. Aber er schafft es, ihre Trauer ins Verhältnis zu ihrem Handlungsspielraum zu setzen. Mit ihren Schmerzen und Traumata, aber auch mit ihren Rechten und ihrer Hoffnung bildet er sie als Subjekte ab – in ihrem so banalen wie grundlegenden Widerstand, selbst am Leben zu bleiben und davon zu berichten.
In Lateinamerika erlebt der Dokumentarfilm einen Boom. Bleibt er nicht dennoch einem elitären Zirkel von Kinogängern vorbehalten?
Es ist die Aufgabe der öffentlichen Fernsehkanäle, der Expansion des Dokumentarfilms im heutigen Lateinamerika nachzukommen und diesem den ihm zustehenden Sendeplatz einzuräumen. Das sage ich in meiner aktuellen Funktion als Direktor des Canal Capital, eines öffentlich-rechtlichen kolumbianischen Fernsehsenders. Denn wenn ein Dokumentarfilm im Fernsehen gesendet wird, erreicht er letztlich einem sehr viel größeren Teil der Bevölkerung. Seine dortige Ausstrahlung ist seine wahre Geburtsstunde. Der Dokumentarfilm leistet in Lateinamerika einen großen Beitrag zur Erinnerung an die direkte Vergangenheit und damit zu eder Aufarbeitung von Bürgerkriegen, Drogenkriegen, Diktatur und Putsch. Er ist das kollektive Gedächtnis der Völker. Die Geschichte muss aus Sicht der Opfer erzählt werden, nicht der Täter.
Sie nehmen für Ihre journalistische Arbeit Morddrohungen und Diffamierungen in Kauf, mussten immer wieder ins Ausland gehen. Warum machen Sie trotzdem weiter?
Alle Drohungen und alle Anschuldigungen gegen meine Person sind nichts im Vergleich zu dem, was einfache Bauern und Indigene in Kolumbien im Drogenkrieg an Verletzungen ihrer Rechte hinnehmen müssen. In der kolumbianischen Realität bin ich immer noch ein Privilegierter. Ich konnte mit der Aussicht auf Stipendien im Ausland das Land verlassen, als es zu gefährlich für mich und meine Familie wurde. Freunde von mir wurden umgebracht. Ich nehme mir ein Beispiel an der Bewegung der Opfer in Kolumbien: Bauern, Lehrerinnen, Gewerkschafter, Hausfrauen aus den entlegensten Dörfern des Landes, die trotz ständiger Todesgefahr immer wieder für Wahrheit, Gerechtigkeit und historische Erinnerung einstehen. Das ist eine große Motivation für mich. Wenn diese Menschen nicht müde werden, ihre Stimme zu erheben, will ich ebenso wenig schweigen.
Unter Präsident Santos wurde 2011 endlich ein Opfergesetz verabschiedet, das vorsieht, Tausenden Vertriebenen in den kommenden Jahren ihr Land zurückzugeben.
Das ist ein Meilenstein in der kolumbianischen Geschichte. Das Gesetz ist auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung. Auch wenn es gewiss Modifizierungsbedarf gibt. Aber seine bloße Existenz trägt zur Anerkennung der betroffenen Personen bei und stellt damit ein Empowerment für sie dar. Denn unter der Regierung Álvaro Uribe wurden die zivilen Opfer des bewaffneten Konflikts diffamiert und kriminalisiert.
Der bewaffnete Konflikt währt in Kolumbien viele Jahrzehnte. Im Jahr 2000 wurde unter der Regierung von Andrés Pastrana und mit finanzieller und logistischer Hilfe der USA der »Plan Colombia« initiiert, um den Drogenhandel zu bekämpfen. Hätte die Entwicklung des Konflikts zum Drogenkrieg verhindert werden können?
Während Pastrana Millionen US-Dollar in diesem Krieg ausgab, wurde von Seiten der kolumbianischen Zivilgesellschaft ein anderer Plan ausgearbeitet. Wolle man dem Drogenhandel anders als mit militärischen Mitteln beikommen, so müsse man die Bevölkerung, die Koka anbaue, in ihren Rechten und Nöten wahrnehmen. Das hätte geheißen, sie mit Schulen, Straßen und Kliniken zu versorgen – mit allem, zu dem sie keinen Zugang hatte. Dieser Plan war ein sehr ambitioniertes Vorhaben und hätte wahrscheinlich noch weit mehr Ausgaben erfordert. Er hätte aber im Gegensatz zur militärischen Strategie des »Plan Colombia« Aussicht auf Erfolg gehabt.
Sie haben langjährige Erfahrung damit, Journalismus in einem Land im Drogenkrieg zu betreiben. Nun befindet sich Mexiko in einer ähnlichen Situation wie Kolumbien. Welche Ähnlichkeiten sehen Sie?
Die mexikanische Regierung begeht die gleichen Fehler wie damals die kolumbianische Regierung. Der wohl am schwersten wiegende Fehler ist, das Militär in den Kampf gegen den Drogenhandel einzubeziehen. In Kolumbien war dies nicht effektiv. Stattdessen wurde ein staatlicher Akteur mehr in Korruption verwickelt. Wie zuvor die Polizeiinstitutionen korrumpierten die kolumbianischen Kartelle auch das Heer mit Geld. Generäle, Kommandeure und Angehörige des Militärgeheimdiensts begannen, für die Drogenkartelle zu arbeiten.
In Mexiko wird die Militarisierung des Landes dazu genutzt, soziale Bewegungen mit Repression zu überziehen und zu kriminalisieren. Eine weitere Analogie zu Kolumbien?
Unbedingt. In Kolumbien wurde eine ganze Reihe finanzieller und logistischer Mittel, die ins Land kamen, um den Drogenhandel zu bekämpfen, dazu genutzt, gegen Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger vorzugehen. In der Epoche Pablo Escobars wurden sämtliche gewaltsam zu Tode gekommenen Personen zu Opfern der Drogenkartelle erklärt. Polizei und Politiker machten die Drogenmafia für einfach alles verantwortlich und konnten so staatliche Repression und soziale Missstände einfach ausblenden.
Vor dem Hintergrund Ihrer in Kolumbien gemachten Erfahrungen: Wie kann Journalismus in Mexiko dazu beitragen, Gewalt zu bekämpfen?
Journalismus trägt dazu bei, Gewalt zu bekämpfen, sobald er diese nicht einfach abbildet, sondern grundlegend in Frage stellt. Hier müssen Journalisten ihre Arbeit ernst nehmen und Zeichen setzen. Zu Zeiten, in denen der Drogenkrieg in Mexiko jeden Tag Morde und Massaker hervorbringt, werden Titelseiten und Nachrichtenmagazine tagein, tagaus mit skandalösen Fotos und Geschichten gefüllt. Eine solche Blutchronik erfüllt jedoch letztlich nur voyeuristische Gelüste. Möglich, dass sich damit einige Medien bereichern können, aber auf lange Sicht wird es sie ihre Daseinsberechtigung kosten. Journalisten und Redakteure im Drogenkrieg dürfen nicht dabei stehen bleiben, Leichen zu zählen und Narco-Botschaften wiederzugeben. Sie müssen die Ursachen des Konflikts analysieren.
Ist es allein mit der Analyse schon getan?
Nein, keinesfalls, aber sie ist sehr wichtig, um eine nationale Debatte über die Verquickung von Drogenhandel und Politik anzustoßen. In Kolumbien ist erst sehr spät klar geworden, wie sehr die Drogenkartelle das politische System und seine Institutionen zerstört hatten. Der Drogenhandel hat in Kolumbien das Land übernommen. Rund 40 Prozent der politischen Funktionäre auf allen Regierungsebenen waren im vergangenen Jahrzehnt in paramilitärische Machenschaften verstrickt. Die Korruption von Abgeordneten, Bürgermeistern und Richtern fand jedoch lange keine Erwähnung in den Medien. Das ist eine journalistische Arbeit, die in Mexiko noch die nächsten Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird: die Kanäle der Geldwäsche aufzudecken und die Handelnden hinter den Kulissen bekannt zu machen. Wer hat sich am Drogenhandel über die Jahre im Stillen bereichert? Welches sind die Steuerparadiese, in die die Millionensummen geflossen sind? Das sind Hintergrundreportagen, die wir auch auf internationaler Ebene erwarten.
Währenddessen wird der Krieg in Mexiko unter der Präsidentschaft von Enrique Peña Nieto weitergeführt.
Die mexikanische Presse sollte sich mit möglichen Lösungsansätzen beschäftigen. Wie kann man diesen Krieg wieder beenden? Wenn die Medien diese Aufgabe nicht wahrnehmen, werden sie auch noch die nächsten Jahre damit verbringen, Fotos von Leichenbergen zu machen. Es geht nicht mehr darum, zu berichten, welches Kartell wie viele Menschen ermordet hat. Es geht jetzt darum, einen Ausweg aus der Gewalt zu suchen.
Leichter gesagt als getan. Welche Möglichkeiten sehen Sie?
Der einzige mögliche Ausweg ist die Legalisierung der Drogen. Lateinamerika kann nicht die Toten des globalen Krieges gegen Drogenhandel stellen. Die Medien müssen eine Vorbildfunktion einnehmen und die Debatte um eine Legalisierung voranbringen. Das ist in ganz Lateinamerika ein wichtiger und dringend notwendig gewordener Ansatz. Es ist Zeit, neue Wege zu beschreiten. Sonst werden Mexiko, Honduras und so viele andere lateinamerikanische Länder weiter in Blut baden. Und ihre Gesellschaften und Demokratien tragen immense Kosten dadurch. Währenddessen fließen die gigantischen Gewinne aus dem Drogenhandel in andere Länder: in die USA, Kanada, die Schweiz, die Europäische Union. In eben die Länder, die eine Kontrolle des Drogenhandels fordern. Es ist ein heuchlerisches Spiel, das da gespielt wird.