Proteste gegen die AKP in Deutschland

Alle sind Plünderer

Die Proteste gegen die AKP beschränken sich nicht auf türkische Städte. Auch in Deutschland gehen Tausende Menschen auf die Straße, um gegen die Politik des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu demonstrieren.

Vor dem Urania-Veranstaltungshaus in Berlin wird ein gigantisches Banner mit dem Antlitz von Mustafa Kemal Atatürk ausgerollt. Es ist so groß, dass es während der Kundgebung von zwei Dutzend Personen an den Seiten gehalten werden muss, damit das Gesicht des Gründers der türkischen Republik in voller Größe zu sehen ist. Begleitet wird es von Hunderten türkischen Nationalflaggen, die vom Wittenbergplatz bis zum Ernst-Reuter-Platz spazieren getragen werden.
Anhand der Äußerungen der Demonstrantinnen und Demonstranten wird deutlich: Sie befürworten die kemalistische Staatsform, die allmäh­liche Islamisierung durch die Regierungspartei AKP geht ihnen zu weit. Auf manchen Schildern wird Erdoğan mit Hitler verglichen oder als Faschist bezeichnet. Die Flaggen Syriens und der ­Hizbollah bleiben an diesem Tag Ausnahmeerscheinungen. Die meisten Demonstrierenden haben einen türkischen Migrationshintergrund und sind politisch eher gemäßigt. Manche unterhalten sich darüber, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben auf der Straße protestieren.

Der Protestzug ist größtenteils säkular, sozialdemokratisch – und nationalistisch, wie nicht nur an den vielen roten Flaggen mit dem Stern und dem Halbmond zu erkennen ist. Viele Demonstrierende sind Anhänger der größten türkischen Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei), die 1923 von Atatürk gegründet wurde und Mitglied der Sozialistischen Internationale ist. Eine Forderung des Protestzugs ist klar: Erdoğan muss zurücktreten. Die AKP hat es sich mit den hier anwesenden Deutschtürken endgültig verscherzt.
Tags darauf, am Sonntag, findet erneut eine Demonstration statt, die vom Hermannplatz in Neukölln zum Kreuzberger Oranienplatz führt. Auch hier wehen viele rote Fahnen, allerdings sind nur die wenigsten davon mit einem Halbmond verziert. Ein Bündnis aus türkischen Migrantenverbänden, alevitischen Gemeinden, kurdischen Vereinen, linken Parteien und Gewerkschaften hat ebenfalls dazu aufgerufen, Solidarität mit den Demonstrierenden in der Türkei zu bekunden.
Hier wird die AKP nicht nur von einigen Teilnehmenden, sondern von den Veranstaltern als faschistische Organisation bezeichnet. »AKP istifa – AKP zurücktreten!« ist eine der häufigsten Forderungen. Auf anderen Schildern steht: »Lass die Finger von meinen Körper, Erdoğan!«, »Erdoğan ist und bleibt ein Faschist« oder »Wer schweigt, stimmt zu! Maul auf gegen Erdoğan«. Zwar steht auf keinem Banner geschrieben, dass die von der türkischen Regierung betriebenen Restriktionen des Alkoholverkaufs zurückgenommen werden sollen, aber da einige Teilnehmer genüsslich Bier trinken, dürften sie wohl auch mit dieser Forderung einverstanden sein. Ansonsten wird in Anspielung auf die Proteste im Istanbuler Gezi-Park skandiert: »Antifa Gezi International«. Bevor die Demonstrantinnen und Demonstranten loslaufen, wird noch eine Schweigeminute für die Menschen abgehalten, die während der Proteste in der Türkei getötet wurden, und für den französischen Antifaschisten Clément Méric, der vergangene Woche in Paris von Rechtsextremen ermordet wurde.
Viele Demonstrierende bezeichneten sich als çapulcu, Plünderer, in Anspielung auf Erdoğan, der alle Demonstrierenden so bezeichnet hat. Ein Demonstrant hat das Wort auf seine eigene Weise ins Deutsche übersetzt und durchkonjugiert, vielleicht schafft er es in die nächste Ausgabe des Duden. »Ich tschapuliere, du tschapulierst, sie tschapuliert, wir tschapulieren, ihr tschapuliert, sie tschapulieren«, steht auf seinem Schild. Es kommt auch zu einem kleinen Zwischenfall: Vor der Ertuğrul-Gazi-Moschee, die als Zentrale der Grauen Wölfe gilt, wird eine kleine Rauchbombe gezündet. Polizisten laufen daraufhin in den Demonstrationszug hinein und filmen die Demonstranten. Dennoch bleibt es friedlich.
Der Protestzug endet am Oranienplatz, wo Solidarität mit den Flüchtlingen im »Refugee Camp« bekundet wird. Nach der Auflösung der Demons­tration kommt Feierstimmung auf. Menschen fassen sich gegenseitig an die Schultern und tanzen Halay, einen traditionellen Tanz, der nicht nur in der Türkei beliebt ist.
Ece Yıldırım, 26 Jahre alt, ist eine der Organisatorinnen der Demonstration. Sie sagt der Jungle World: »Als die Polizeigewalt in Istanbul begann, haben wir uns sofort organisiert und demons­trieren seitdem auch hier gegen Erdoğan und die AKP. Gerade in Berlin ist es wichtig, seinen Protest auf die Straße zu tragen, und zwar nicht nur, weil hier viele Türkinnen und Türken leben, sondern auch weil Deutschland ein wichtiger Wirtschaftspartner der Türkei ist.« Sie fügt hinzu: »In den letzten Jahren wurde Erdoğan in erster Linie für den wirtschaftlichen Erfolg in der Türkei gefeiert. Menschenrechtsverletzungen, die Einschränkung der Pressefreiheit und Minderheitenrechte waren dabei zweitrangig. Wir wollen zeigen, dass das ein Skandal ist. Deutschland darf diese Regierung nicht weiterhin unterstützen.«
Die Aussichten für den Protest in der Türkei bewertet Yıldırım positiv: »Millionen Menschen sind auf der Straße, und das im ganzen Land. Gegen den Willen des Volkes kann die AKP nicht einfach so weitermachen. Solange sie in der Türkei weiterkämpfen, kämpfen wir auch.« Die Forderungen der Istanbuler Demonstranten teilt das Berliner Aktionsbündnis: Der Gezi-Park soll erhalten bleiben, die Pläne, das Atatürk-Kulturzentrum abzureißen, sollen aufgegeben werden. Der Einsatz von Gasgranaten und ähnlichen Kampfmitteln soll verboten werden. Alle Einschränkungen des Versammlungsrechts und der freien Meinungsäußerung sollen sofort aufgehoben werden. Zudem sollen die im Zuge der Demonstrationen Inhaftierten freigelassen und alle Verantwortlichen, die den Gewalteinsatz gegen die Protestierenden angeordnet haben, von ihrem Posten entlassen werden. Letzteres kommt einer Rücktrittsforderung an die Regierung gleich.
Es ist besonders auffällig, welche politischen Milieus sich derzeit auf diese Rücktrittsforderung einigen können. Bei den Demonstrationen in ­Istanbul, Ankara und auch Berlin waren Kemalisten, Nationalisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Linksradikale, Kurden und Aleviten auf der Straße. Die Ablehnung von Erdoğans Politik vereint, was lange Zeit unvereinbar schien. Gegen die Brutalität der Polizei und die Islamisierungspolitik der AKP opponieren Menschen, deren politische Auffassungen sich ansonsten diametral widersprechen.

Dennoch erläge man einer falschen Vorstellung in der Annahme, dass alle Türkinnen und Türken derzeit gegen Erdoğan protestierten. Das gilt weder in der Türkei noch in Deutschland. So sagte Bekir Yilmaz, der Präsident der Türkischen Gemeinde zu Berlin, in einem Interview mit dem RBB am Samstag: »Einige der Demonstranten haben eine Möglichkeit gefunden, ihrem Frust freien Lauf zu lassen. Das haben sie zehn Tage lang gemacht und jetzt, denke ich, ist auch Ruhe.« Die Geschehnisse in der Türkei beweisen eher das Gegenteil.