Aycan Tekin im Gespräch über Proteste und Repression in Izmir

»Nichts wird so bleiben, wie es war«

Nicht nur auf dem Taksim-Platz in Istanbul wird gegen die türkische AKP-Regierung demonstriert. In Izmir kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, die Wasserwerfer und Tränengas gegen die Protestierenden einsetzte. Seit dem 31. Mai ruft in der Stadt im Westen der Türkei neben anderen Gruppen auch die linke Organisation Halkevleri zu Protesten auf. Die Jungle World sprach mit Aycan Tekin, seit vier Jahren Aktivistin bei »Halkevleri«, über die Proteste und Repression in Izmir.

Halkevleri wurde einst als kemalistische Organisation gegründet. Was genau macht sie heute aus? Spielt die kemalistische Ideologie noch eine wichtige Rolle?
Vor 81 Jahren wurde Halkevleri als künstlerische und kulturelle Organisation in aufklärerischer Absicht gegründet. Zu diesem Zweck wurden Bibliotheken und Theater im ganzen Land aufgebaut und dadurch etablierte sich die Organisation in der türkischen Gesellschaft. Halkevleri stützte sich auf die kemalistische Ideologie und spielte eine wichtige Rolle in der Aufklärungsbewegung. Die nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs gegründete Türkische Republik hatte als einen ihrer Grundpfeiler den Wandel von einer religiösen zu einer säkularen Politik. Diesen Wandel zu unterstützen wurde eine der Hauptaufgaben Halkevleris. Nach und nach verlor die kemalistische Ideologie aber an Bedeutung, da während der revolutionären Bewegung von 1968 vor allem junge Menschen sich bei Halkevleri sammelten und die Gemeindezentren der Organisation in demokratischere Orte verwandelten, was auch heute noch Halkevleris Ausrichtung sehr beeinflusst.
Welche Schwerpunkte hat Halkevleri heutzutage?
Halkevleri-Zentren kämpfen für kostenlose Bildung, wissenschaftlich begründet und auch in anderen Sprachen als Türkisch, zum Beispiel Kurdisch. Wir sind gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitssektors und für kostenlose und bessere öffentliche Gesundheitsversorgung. Ein anderes Ziel ist kostenloser öffentlicher Personenverkehr. Außerdem bekämpfen wir die Kommer­zialisierung der Wasserversorgung. Wir kritisieren Ungleichheit, reaktionäre Ideen und Sexismus und fordern Gleichheit und Freiheit für alle Menschen.
Wie haben Sie die Proteste aufgenommen, die sich von Istanbul auf die ganze Türkei ausbreiteten?
Der Protest richtete sich zunächst gegen die Zerstörung des Gezi-Parks und innerhalb kürzester Zeit wurde daraus eine Demonstration gegen die AKP-Regierung. Der Tag des Beginns der Proteste ist ein interessanter Zufall, denn der 31. Mai ist auch der Jahrestag der Ermordung Metin Lokumcus, eines Lehrers, der während der Proteste gegen die AKP-Regierung 2011 in Hopa in der Provinz Artvin von der Polizei getötet wurde.
Auf das aggressive Vorgehen der Polizei gegen die Menschen, die bei den derzeitigen Protesten ihre Rechte und ihre Freiheit einfordern, folgten wichtige Reaktionen aus Istanbul und aus der ganzen Türkei. Die Menschen riefen Slogans gegen die AKP-Regierung wie »Die Regierung soll gehen« und »Tayyip, tritt zurück«. Wir in Izmir gingen aus Solidarität mit den Protestierenden in Istanbul auf die Straße und organisierten große Demonstrationen und Proteste. In anderen Städten ist die Lage ähnlich. Linken Organisationen und Gewerkschaften fehlte es meistens an Unterstützung und Macht. Jetzt sind ganz unterschiedliche Menschen auf den Straßen und kämpfen gegen die Polizei. Das ist wirklich ungewöhnlich für die Leute in der Türkei. Sie zeigen ihren Unmut mit der AKP-Regierung und verlassen die Plätze und Straßen nicht.
Welche Gruppen beteiligen sich an den Protesten?
Viele: Kommunisten, Demokraten, Kemalisten, Feministinnen, Homo- und Transsexuelle, Kurden, Studierende, Schüler, Fußballfans, Nationalisten und sogar Faschisten. Auf den Hauptplätzen der Stadt geht es revolutionärer zu, weil kommunistische und linke Gruppen sich an den Protesten beteiligen. Aber von Viertel zu Viertel gibt es Unterschiede. Zum Beispiel ist in Karşıyaka die Mehrheit der Protestierenden kemalistisch-nationalistisch und ihr einziger Slogan ist »Wir sind die Soldaten von Mustafa Kemal«. In Konak und Üçyol sind die Faschisten der MHP und ihre Jugendgruppen. Dennoch ist der meistgehörte Spruch der Proteste »Überall ist Taksim, überall ist Widerstand«.
Was wollen die Nationalisten?
Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was sie wirklich wollen, weil ich nicht dort war, wo sie protestieren. Aber wie viele andere Gruppen haben sie ihre Fahnen und wollen, dass die AKP-Regierung geht.
Am Sonntag gab es im Protestcamp in Izmir Auseinadersetzungen zwischen Nationalisten und Kurden. Wie gehen Sie damit um?
Der Unmut über die AKP hat viele verschiedene Gruppen zusammengebracht. Während diese Vielfalt die Proteste in Istanbul und Antakya bereichert, führt sie zu Konflikten unter den Protestierenden in Gegenden, in denen die nationalistische Bewegung stark ist, wie in Izmir. Wegen der Masse an Demonstrierenden ist es für die Linke überlebenswichtig, ein Bewusstsein für die Vielfalt und die aufeinandertreffenden Meinungen zu haben, um angemessen und vernünftig zu handeln. So etwas von den Nationalisten und Faschisten zu erwarten, wäre naiv.
Bei dem Konflikt vom 9. Juni auf dem Gündoğ­du-Platz in Izmir wurden Unterstützer der kurdischen »Partei für Frieden und Entwicklung« (BDP), die Plakate von Abdullah Öcalan trugen, von organisierten und unorganisierten Faschisten und Nationalisten mit Steinen und Flaschen beworfen. Während der kurzen Spannungen versuchten wir, weitere Leute davon abzuhalten, die BDP-Unterstützer anzugreifen. Wir kamen aber nicht näher heran, weil wir sonst unser Protestcamp hätten verlassen müssen und die Faschisten unsere Zelte hätten plündern können, oder schlimmer, der Konflikt hätte eskalieren können. In solchen Momenten muss man spontan entscheiden, und die Entscheidung wird die folgenden Tage beeinflussen. Unser Ziel ist es, dass so viele Menschen wie möglich sich an den Protesten beteiligen können und dass auch über Antifaschismus diskutiert wird.
Was wollen Sie mit den Protesten erreichen?
Unsere politische Linie stand immer gegen die der AKP. Wir organisieren die Leute gegen die konservative, frauenverachtende, kriegerische Politik der AKP. Das wahre Gesicht der AKP wird immer deutlicher. Jetzt kämpfen die Leute auf der Straße gegen Gewalt und Repression. Wir haben vier Forderungen an die Regierung: Erstens sollen alle für die Gewalt gegen die Protestierenden Verantwortlichen zurücktreten, unabhängig von ihrem jeweiligen Posten; zweitens sollen die verbotenen Plätze für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden; drittens sollen die wegen der Proteste Verhafteten freigelassen werden; und viertens: Fasst den Gezi-Park nicht an!
Soziale Medien spielten eine wichtige Rolle für die Proteste. Nun wurden mehrere Menschen wegen ihren Twitter-Postings verhaftet. Hat das die weitere Organisation der Proteste beeinflusst?
Seit Beginn des Widerstands wurden kaum Nachrichten darüber im türkischen Fernsehen veröffentlicht. Die Zensur war umfassend. Während die Polizei Menschen angriff, zeigten Fernsehsender Dokumentarfilme über Pinguine. Wegen der Zensur verbanden sich die Menschen über das Internet. Sie riefen Ärzte für Verwundete und Anwälte für Verhaftete, zeigten sofort, was die Polizei tat und wo genau die Aktionen stattfanden. Twitter-Nutzer machten die Ereignisse unter dem Hashtag #direngezi weltweit bekannt. Als Antwort ließ die Regierung wissen, sie hätte die Internetverbindung trennen können, wenn sie gewollt hätte. In Izmir wurden mehr als 30 Personen verhaftet für die »Aufstachelung von Menschen über das Internet«. Die meisten wurden nun wieder freigelassen, aber auch das zeigte, wie viel Angst die AKP-Regierung vor den Leuten hat. Aber sie hat es nicht geschafft, uns einzuschüchtern.
Wann, denken Sie, werden die Proteste auf­hören?
Ich weiß nicht, wann dieser Widerstand aufhört, aber letztlich wird nichts so bleiben, wie es war. Die Menschen, die gegen die Politik der AKP auf die Straße gegangen sind, denken, das Ende der AKP sei gekommen. Mit den nahenden Wahlen werden wir sehen, was mit der AKP passieren wird.