Berichtet über die Proteste in der Türkei

Starrsinnig bleiben

Die türkische Regierung geht bislang nicht auf die Protestbewegung zu. Doch selbst in konservativen Medien wird immer deutlicher Kritik am Umgang mit den Protesten geübt.

Der türkische Ministerpräsident spricht vor seinen Anhängern immer wieder Drohungen gegen die Millionen Protestierenden im ganzen Land aus. Die Türkei erlebt gerade die größte innenpolitische Krise in der zehnjährigen Amtszeit von Recep Tayyip Erdoğan. In Istanbul mied die Polizei eine Woche lang den Bezirk Beyoğlu, in dessen Mitte der Taksim-Platz liegt. In Ankara griffen die Sicherheitskräfte jedoch Demonstrierende an, die am Sonntag zwischen dem Kızılay-Platz und dem Kuğulu-Park protestierten. Die Vandalen würden noch sehen, was es heißt, sich gegen die vom Volk gewählte Regierung aufzulehnen; während sie ein paar Hunderttausende auf die Beine stellten, könne er Millionen mobilisieren, sagte Erdoğan. Gespräche der Regierung und der Staatsbürokratie mit den Protestierenden im Gezi-Park kamen bislang nicht zustande. Denn wenn der Ministerpräsident einen persönlichen Kleinkrieg gegen Demonstrierende führt, denen er kein demokratisches Recht auf zivilen Widerstand zugesteht, welche Staatsdiener sollen dann vermitteln?

Die Forderungen, die die Plattform des Widerstands im Gezi-Park formuliert hat, hängen in Form von Plakaten auf dem Taksim-Platz. Gefordert wird unter anderem ein Ende aller Bauprojekte im Gezi-Park; der Rücktritt der Gouverneure und Polizeipräsidenten von Istanbul, Ankara und Hatay, wo die Proteste am brutalsten niedergeschlagen und drei Menschen getötet wurden; das Verbot des Einsatzes von Reizgas in der Türkei; die Freilassung und Straffreiheit der vielen Festgenommenen, deren Anzahl niemand genau kennt; und Demonstrationsfreiheit auf öffentlichen Plätzen in der Türkei, denn seit dem Massaker vom 1. Mai 1977 auf dem Taksim-Platz sind Demonstrationen an eine Sondererlaubnis der Provinzgouverneure gebunden. Die Demonstrierenden fordern außerdem eine Politik, die öko­logisch, antisexistisch, antirassistisch und laizistisch ist. Die neue Verfassung, die gerade von unterschiedlichen Expertenteams entworfen wird, müsse sich an den Anforderungen der heutigen Zeit orientieren und nicht am Wunsch des Ministerpräsidenten nach Machterhalt.
Die Regierung Erdoğan hatte in den vergangenen Monaten für viel Unmut gesorgt, da ihre konservativen Entscheidungen, etwa die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes, in der Praxis oft zu Menschenrechtsverletzungen führten. Vor allem dass Vergewaltigungsopfer in staatlichen Frauenhäusern daran gehindert wurden, frist­gerecht einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen, sorgte immer wieder für Schlagzeilen. Doch auch die Einschränkungen für den Konsum von Alkohol stoßen auf Unmut. Im Viertel Beyoğlu, der beliebtesten Ausgehmeile der Stadt, dürfen seit zwei Jahren keine Tische und Stühle mehr vor den Lokalen stehen, mit der Begründung, Alkoholkonsum dürfe nicht zur Schau gestellt werden. In der Innenstadt wird diese Politik als Schikane empfunden, denn gerade am Wochenende feiern hier traditionellerweise Menschen, die in der Woche nicht trinken, in den Tavernen bis in den frühen Morgen. Ein Gesetzentwurf zur Eindämmung des Alkoholkonsums sieht weitere lästige Beschränkungen vor, etwa das Verbot des Alkoholverkaufs in Geschäften von 22 bis sechs Uhr morgens. Das würde neben den Konsumentinnen und Konsumenten vor allem die kleinen Alkohol- und Zigarettengeschäfte in der gesamten Stadt schädigen, die bislang meist bis Mitternacht geöffnet haben und am späten Abend ihr bestes Geschäfte machen.

Doch nicht nur die laizistischen Einwohnerinnen und Einwohner Istanbuls rebellieren. Auch eine Gruppe, die sich »antikapitalistische Muslime« nennt, hielt am Freitag ihr Mittagsgebet im Gezi-Park ab. Ihre Mitglieder gehören zur Protestbewegung, die über soziale Medien kommuniziert. Nach einer sehr einseitigen Berichterstattung der konventionellen Medien, die immer mehr von der regierenden »Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt« (AKP) kontrolliert werden, beginnen nun auch die besseren konservativen Zeitungen, vor allem deren einflussreiche Kolumnisten, Kritik zu äußern und etwa Falschmeldungen über die Protestierenden zu berichtigen. Die auflagenstarke Zeitung Zaman titelte vergangene Woche: »Verbohrtheit schafft keine Lösungen«. Damit war keineswegs der Protest auf dem Taksim-Platz, sondern Erdoğan gemeint. Süleyman Gündüz, Kolumnist der islamisch-konservativen Tageszeitung Yeni Şafak, beschrieb einen Besuch in der Dolmabahçe-Moschee, in dem er die Behauptung des islamistischen Kampfblattes Yeni Akit widerlegte, dort sei während der Proteste Alkohol getrunken worden. Verletzte Demonstranten hatten vergangene Woche Schutz in der Moschee gesucht. Der Gebetsrufer Fuat Bey hatte die Polizei von dort ferngehalten, und Ärzte wurden gerufen. Bei den Verletzten handelte es sich um junge Menschen, viele von ihnen Fußballfans, die vom Stadtteil Beşiktaş zum Taksim-Platz laufen wollten, um sich mit den Demons­tranten dort zu solidarisieren. Gündüz spricht in seinem Kommentar von einem historischen Moment der Gemeinsamkeit: »Der Muezzin Fuat Bey ist sich nicht dessen bewusst, vor was für einer Gefahr er dieses Land gerettet hat, und diejenigen, die sich als Provokateure gebärden, wissen nicht, was für einer Gefahr sie uns alle aussetzen«. Erdoğan ignorierte diese Information und behauptete am Sonntagabend erneut, die Demonstranten seien mit Schuhen und Bierflaschen in die Moschee eingedrungen und hätten seine Kopftuch tragenden Schwestern und Töchter beleidigt.

Die türkische Demokratie erlebt gerade eine belastungsprobe. Während in der vergangenen Woche die Stimmung auf dem Taksim-Platz gelöst war, abends im Gezi-Park Konzerte stattfanden, eine aus Backsteinen errichtete Bibliothek neben dem Springbrunnen und ein Widerstandsmuseum in der Polizeibarracke entstanden, marschierten auf der Kundgebung am Sonntag die verschiedenen Oppositionsparteien mit ihren Fahnen und eigenen Forderungen auf den Taksim-Platz. Erstmals kam es auch zwischen den Protestierenden zu Rempeleien, als Ultranationalisten und Kemalisten auf die kurdischen Anhänger der »Partei für Frieden und Demokratie« (BDP) trafen, von denen viele Konterfeis Abdullah Öcalans hochhielten und eine Veranstaltung für den PKK-Führer auf dem Platz initiieren wollten. Doch weiter passierte in Istanbul nichts. Es kam zu keiner Eskalation, was bei vielen zu dem Schluss führte, dass Demonstrationen viel ruhiger ohne die Präsenz der Polizei ablaufen. Die bedient sich nur zu gern des Mittels der Provokation, um dann bei Ausschreitungen hart durchgreifen zu können. In Izmir waren vergangene Woche Schlägertrupps, die mit Holzknüppeln Demonstranten verprügelten, als Zivilpolizisten identifiziert worden.
Vielleicht erlebt die Türkei gerade eine Zäsur in ihrer politischen Geschichte: einen Aufstand der unideologischen Zivilgesellschaft, der die Auseinandersetzung zwischen ethnischen, religiösen und ideologischen Gruppen aus den gewohnten Bahnen bringen und ihre Instrumentalisierung durch die zentrale Staatsmacht beenden könnte. Dann könnte endlich die Demokratisierung einsetzen, nach der sich die Mehrheit der Menschen sehnt. Vasif Kortun ist Direktor zweier zeitgenössischer Museen in Istanbul, die unter dem Namen »Salt« (türkisch für »pur«) international erstklassige zeitgenössische Kunst und ein an der jüngeren Stadtgeschichte Istanbuls orientiertes Programm zeigen. Salt Beyoğlu liegt auf dem Istiklal Boulvard, der vom Taksim-Platz nach Galata führt. Ein kleiner Stadtgarten im vierten Stock dient als Treffpunkt für Museumsbesucher und Angestellte. An einem großen Holztisch wird zwischen Thymiansträuchern, Granatapfelstauden und Erdbeerbeeten diskutiert. Kortun gehört seit Oktober zu den Organisatoren von Protesten im Gezi-Park, die sich ursprünglich gegen die Abholzung der letzten Bäume und das Verschwinden der letzten Grünfläche aus der Innenstadt richtete. »Wir waren nie mehr als 100 Leute«, erinnert er sich schmunzelnd, um dann sehr ernst hinzuzufügen, dass die plötzliche breite Unterstützung sich vor allem gegen die gewalttä­tige Polizei als Repräsentanten einer autoritären Staatsmacht richte. »Die Leute haben plötzlich keine Angst mehr und können das erste Mal seit 33 Jahren wieder frei durchatmen«, sagt er. Vor 33 Jahren folgte auf den letzten Militärputsch eine restriktive Verfassung. Die wollte die AKP eigentlich ändern, sie hatte Demokratisierung versprochen. Doch die Zustimmung zur Regierung hat durch den despotischen Stil des Ministerpräsidenten stark gelitten.
Fatal wäre es jedoch, wenn sich auch die Spannungen zwischen rivalisierenden Gruppen erhöhten, die bislang auf dem Taksim-Platz noch nicht prägend sind. Dann würden die Ausschreitungen nicht mehr nur zwischen Protestierenden und der Polizei stattfinden. Ein Teil des islamisch-konservativen Lagers fürchtet derzeit einen Sturz der gewählten Regierung, wie er 1997  in aller Stille stattfand, als der vom Militär dominierte Na­tionale Sicherheitsrat die Regierungskoalition von Tansu Çiller und Necmettin Erbakan mit Putschdrohungen zum Rücktritt zwang. Doch diese Befürchtungen sind abwegig, denn das Militär wurde in den vergangenen zwei Jahren weitgehend entmachtet. Blitzumfragen der Istanbuler Bilgi Universität haben außerdem ergeben, dass die Mehrheit der Demonstrierenden keinen Putsch in der Türkei mehr wünscht. Eine Gegendemonstration am 16. Juni, zu der Erdoğan aufruft, wird es aber wohl geben.