Das Buch »Die Revolution war im Fernsehen«

Die Mafia-Revolution

Vom netten Paten zum diabolischen Krebskranken: Der TV-Kritiker Alan Sepinwall erläutert in seinem Buch »Die Revolution war im Fernsehen«, warum die Welt vor den »Sopranos« eine andere war als nach »Breaking Bad«.
Von

Der Fernsehprofi spürte sofort, dass er es hier mit Revolutionären zu tun hatte: »Sie kamen rein und sagten: Hier ist die Idee: Ein 40jähriger Mann, am Wendepunkt seines Lebens, Aufruhr in der Ehe, Aufruhr in seinem Beruf, steht vor der Aufgabe, Teenager in der modernen Gesellschaft aufzuziehen – der ganze Druck eines jeden Mannes seiner Generation. Der einzige Unterschied ist, er ist der Mafia-Boss des nörd­lichen New Jersey. Ach ja, er geht zum Seelenklempner.«
So erinnert sich der Vizepräsident des US-amerikanischen Senders HBO, Richard Plepler, an seine erste Begegnung mit den Schöpfern der Serie »Die Sopranos«. Auf Anhieb war er von der Idee angetan, und so führte diese Begegnung zur Produktion der legendären Serie, einer Mafia-Geschichte, die zwischen 1999 und 2007 alle bis dahin gekannten Familienserien in den Schatten stellte. Weil ihre Erzählstruktur stilbildend wurde und nachfolgende Serien wie »Mad Men« oder »Breaking Bad« (beides Produktionen von AMC) beeinflusste.
Einer, der diese Fernsehrevolution von Anfang an begleitet hat, ist Alan Sepinwall. Er wuchs in Pine Brook, New Jersey, auf, nicht weit vom späteren Wohnort der Soprano-Familie. Sepinwalls Vater ist Psychopharmakologe, seine Mutter Geschichtsprofessorin. Dem Sohn fiel die Schule so leicht, dass er noch genug Zeit hatte, vor dem Fernseher zu sitzen. An der Universität war Sepinwall Herausgeber mehrerer Studentenzeitungen. Außerdem war er Fan der 1993 startenden Krimiserie »NYPD Blue«, die durch ihre Episoden übergreifende Erzählweise als ein dramaturgischer Vorläufer der »Sopranos« gilt. »Ohne ›Blue‹«, sollte Sepinwall später sagen, »hätte ich nicht diese Karriere gemacht und das Leben führen können, das ich jetzt führe.«
Aber vielleicht hat alles schon viel früher angefangen. Bereits in den siebziger Jahren hatte HBO begonnen, eigene Serien zu produzieren. Titel wie die Gruselserie »Tales of the Crypt« (»Geschichten aus der Gruft«, 1989–2006) wurden zwar keine Welterfolge, sind den Fans des Genres aber bis heute ein Begriff. Die Horrorelemente schockierten ein Publikum, das noch mit »Bonanza« und den »Waltons« aufgewachsen war, an den gängigen Erzählstrukturen änderten sie so gut wie nichts.
1993 begann Sepinwall, Online-Kritiken zu schreiben. Später sagte er selbst, dass er seine Essays aus dieser Zeit überhaupt nicht mag, sie als unreif und stilistisch mangelhaft einschätzt. Seine damaligen Leser standen seiner Arbeit weitaus wohlwollender gegenüber. Das Forum Slate.com meinte, dass »Sepinwall die Grundzüge der Fernsehkritik verändert« habe, und nannte ihn den »anerkannten König der Form«.
Sicher ist, dass Sepinwall mit seinen Rezensionen in dem noch relativ jungen Medium wahrgenommen wurde. So sehr, dass der junge Kritiker 1996 von der Zeitung The Star-Ledger in Newark als Fernsehkolumnist verpflichtet wurde. Dieser Arbeit blieb er 14 Jahre lang treu. Parallel dazu betrieb er seinen bis heute bestehenden Blog »What’s Alan watching«, auf dem er die rasanten Umbrüche in der Seriendramaturgie begleiten konnte. Die Frage, ob er neben seiner Zeitungsarbeit jede Woche bis zu 15 Kolumnen ins Netz stellte, weil es sich bei ihm um einen arbeitssüchtigen Nerd handelt, oder weil er einfach so gern auf dem Sofa sitzt, ist bislang nicht beantwortet worden. Nicht einmal gestellt wurde sie.
Seine wichtigsten Kolumnen und Kritiken baute Sepinwall zu Essays aus, die 2012 unter dem Titel »The Revolution was Televised« erschienen, der Band wurde von der New York Times und dem Hollywood Reporter als eines der besten Bücher des Jahres ausgezeichnet.
Worin besteht aber das Revolutionäre, das Sepinwall erkannt und der Welt erklärt haben soll? Schon im ersten Kapitel widmet sich der Autor einer Serie, die 1997 startete, also nach »Geschichten aus der Gruft«, aber einige Zeit vor der Mafiosi-Serie. Die kommerziell nicht besonders erfolgreich war und am Ende auch keine weinenden Fans hinterließ. Die Serie hieß »OZ«, lief bis 2007 sechs Jahre lang, hatte aber nichts mit einem gleichnamigen Zauberer zu tun, sondern wurde nach dem fiktiven »Oswald Maximum Security«-Gefängnistrakt benannt. Sie revolutionierte die bis dahin gültige Erzählstruktur, so dass Sepinwall sich in seinem Buch ausführlich einem Meeting widmet, bei dem er selbst nicht anwesend war, auf dem aber »OZ« in Auftrag gegeben wurde.
»The Rolling Stones hätten ohne Muddy Waters weder einen Namen noch einen Sound«, erläutert Sepinwall die Bedeutung künstlerischer Vorbilder, die später vor dem kommerziellen Erfolg jener verblassen, die mit ähnlichen Konzepten zu Weltruhm kommen. Die Rolle von Muddy Waters übernahm im hier geschilderten Fall Tom Fontana, ein Drehbuchautor und Serienentwickler bei HBO. Der beklagte sich Mitte der neunziger Jahre bei einem Strategie-Meeting der Firma über die Ödnis der Krimiserien. Jedes Mal würden die Folgen mit der Inhaftierung eines Verbrechers enden, von dessen Schicksal im Gefängnis man aber nie etwas erfahre. HBO war damals noch auf der Suche nach einem Profil für die Eigenproduktionen, aber mit Dokumentationen über Häftlingsbiographien bereits sehr erfolgreich. Der damalige Studiochef Rob Kenneally zückte während der Sitzung sein Handy und erklärte Fontana kurz darauf: »Beweg’ deinen Arsch hier raus, ich hab jemanden gefunden, der deine Fernsehshow machen will.«
Bald galt das alte Gesetz des Genres nichts mehr. Die Regel, dass die Hauptfiguren einer Serie sympathische Menschen sein müssen, war spätestens mit dem Welterfolg der Sitcom »Married with Children« (»Eine schrecklich nette Familie«) hinfällig. Die »Sopranos« waren auf den ersten Blick natürlich netter als die dysfunktionale Familie Bundy. Allerdings verdienten sie ihren Lebensunterhalt mit Mord, Erpressung und anderen Verbrechen. Genau das war das Neue, das alle Serien zuvor nicht gekannt hatten – die »Sopranos« konfrontierten die Zuschauer mit Alltagsproblemen in einem mörderischen Leben. Und sie verzichteten völlig auf ein bis dahin unumstößliches Erzählmodell, das da lautete: Beim Abspann muss die Welt wieder so sein wie beim Vorspann. Die Bundys blieben die Bundys, nur die Schauspieler wurden von Staffel zu Staffel ein Jahr älter. Sepinwall zeigt in seinen Essays, dass diese Dramaturgie in den vergangenen zehn Jahren häufig aufgegeben wurde. An deren Stelle wurde das epische Erzählen immer wichtiger. Manchmal schlichen sich die Änderungen fast lieblich verpackt ein. »Buffy the Vamire Slayer« (1997–2003) schien eine Coming-of-Age-Geschichte zu sein, wie es sie schon dutzendfach gegeben hatte. Hauptdarstellerin Sarah Michelle Gellar hatte auf den ersten Blick die typischen Probleme eines Mädchens ihres Alters. Die Schule ist doof, die Jungs sind doof, und mit der ganzen Sexualität klarzukommen, ist schwierig. Besonders, wenn man sich nachts auch noch mit Vampiren, Werwölfen und ähnlichen Gestalten rumärgern muss.
Von 2004 bis 2010 lief die Serie »Lost«, die das Schicksal einer Gruppe von Überlebenden nach einem Flugzeugabsturz erzählt. Parallel gab es in der Regel drei Handlungsebenen zu verfolgen, ganze Episoden waren Rückblenden, die die Motivation und Vorgeschichte einzelner Figuren beleuchteten. »Lost« zu verstehen, war nicht immer einfach. Also entstanden im Internet Foren und Blogs, deren Hilfe suchende Teilnehmer sich nicht wesentlich von den Mitgliedern der Anonymen Alkoholiker unterschieden. Erfahrung und Wissen wurden ausgetauscht, manchmal während laufender Episoden. Nur, dass hier möglichst fehlerlos und bewusst weitergesoffen beziehungsweise -geschaut werden sollte. Mit »Lost« gewann der digitale Austausch der Fans an Bedeutung. Zum gleichzeitigen Anschauen einer Serie trifft man sich eigentlich nur noch bei Erstausstrahlungen. Und wartet ansonsten gebannt auf die DVD mit dem Bonusmaterial.
Eine Serie wie »24« mit ihrer Split-Screen-Technik, die verschiedene Handlungsstränge parallel erzählte, hätte nicht-epische Erzählweisen auch gar nicht mehr zugelassen.
Die aufwendigen Serien großer amerikanischer Sender, die immer auf den Weltmarkt angewiesen sind, werden noch vor der ersten Klappe vom Chefautor und seinem Kreativteam so entwickelt, als würden sie auf jeden Fall mindestens fünf Staffeln lang laufen. Dadurch können Backstories und Gegenspieler viel genauer ausgearbeitet werden. Die technischen Prozesse werden mittlerweile ebenfalls aufwendig in den DVD-Editionen ausgewertet. »Breaking Bad« erlaubt beispielsweise Einblicke in den »writer’s room«. Da sitzen eigentlich nur ein paar Autoren um einen Tisch und werfen sich gegenseitig Ideen zu. Bei den Fans ist es aber üblich geworden, diese schon im schnellen Vorlauf produzierten Szenen mehrfach zu sehen. Der Autor dieser Zeilen hat es auch getan. Gleich danach kamen übrigens acht Minuten einer Stripshow, die in den ausgestrahlten Episoden mehrfach beiläufig erwähnt wurde. Jetzt konnte man sie endlich sehen. Natürlich mit eigenem Abspann. Natürlich in Originalsprache. Man will ja auch was für seine Bildung tun.
Häufig wurden die Geschichten von Don Draper (Held von »Mad Men«) oder Walter White (»Breaking Bad«) mit den Romanen Èmile Zolas verglichen. Selten mit den Bundys.
Als eine Schwäche des Buches könnte man nennen, dass Alan Sepinwall eine andere Fernsehrevolution gänzlich ignoriert. Im Sitcom-Bereich hat es in den letzten zehn Jahren ebenfalls gewaltige Entwicklungen gegeben. Die beiden vielleicht wichtigsten Serien sind derzeit in täglicher Ausstrahlung bei Pro Sieben zu sehen. Hauptfigur der seit 2007 von Warner Bros. Television produzierten Serie »The Big Bang Theorie« ist Jim Parsons als Dr. Dr. Sheldon Cooper. Ein sozial gestörter junger Mann, der sich auf dem Weg zum Nobelpreis sieht und nebenbei plant, mit seiner platonischen Freundin den ersten Vertreter einer neuen Stufe menschlicher Evolution zu zeugen. Dass dafür Geschlechtsverkehr notwendig wäre, schockiert ihn zutiefst, und es ist nicht absehbar, ob dieser Plan bis zum Ende der Serie verwirklicht wird. Parsons hat für diese Rolle unlängst seinen dritten Emmy gewonnen.
Ein neues dramaturgisches Level im Bereich der Sitcoms erreichte die seit 2005 laufende Serie »How I Met Your Mother«. Im Jahr 2030 erzählt der New Yorker Architekt Ted Mosley seinen halbwüchsigen Kindern, wie er 20 Jahre zuvor seine Frau kennengelernt hat. Da die ganze Serie also aus Rückblenden besteht, sind die Möglichkeiten für zeitliche und auch logische Sprünge unbegrenzt. Wenn die Erzählstimme eingreift, um zu sagen »Aber davon erzähle ich euch später«, wird das auch getan. Allerdings oft erst nach drei weiteren Staffeln. Die ebenfalls hochdekorierte Serie hat gerade ihr letztes Ass ausgespielt. In Staffel neun erfährt man, wer die Mutter ist. Damit dürfte bald Schluss sein.
Man kann also sagen, dass die Sitcoms nicht etwa den großen epischen Serien zu unterliegen drohen. Sie müssen sich nur regelmäßig ein paar Kniffe ausdenken, um deren Erfolge mit ihren erzählerischen Mitteln auszugleichen. Vielleicht ein gutes Thema für Alan Sepinwalls nächstes Buch?
Bleibt die Frage, ob Sepinwall die von ihm beschriebene Revolution als abgeschlossen ansieht. In seinem Buch verneint er das. Natürlich sei er auch Kind seiner Zeit. Er weiß von älteren Kollegen, denen »The Rockford Files« (»Detektiv Rockford«) als Zukunft des Erzählens schien.
Über die neuen Serien, die Autorenteams gerade jetzt konzipieren, kann selbst Sepinwall noch nichts wissen. Aber er ist sich sicher, dass in kurzer Zeit die nächste Serie kommt, die uns atemlos vor den Fernsehschirm bannt. »Es wird weiter passieren, auch wenn Sie sich nicht vorstellen können, woher es kommen soll.« Damit wird Alan Sepinwall sicher Recht behalten.

Alan Sepinwall: Die Revolution war im Fernsehen.
Aus dem amerikanischen Englisch von Tom Bresemann, Luxbooks, 2013. 250 Seiten, 24,80 Euro