Die Generation Selfie

Ich, ich, ich und ich

Das Oxford Dictionary hat gewählt: »Selfie« ist das Wort des Jahres 2013. Während Kultur­kritiker über die Masse an Selbstporträts im Internet die Nase rümpfen, zücken Millionen ihre Smartphones, um zu beweisen, dass es sie wirklich gibt.

Selfie« – das Wort hat eine Entstehungsgeschichte, die aus der Feder der Macher von »Crocodile Dundee« stammen könnte: 2002 fällt ein betrunkener Australier über seine Füße, schlägt sich das Gesicht blutig und stellt ein Foto des Ergebnisses in den Online-Chat eines Fernsehsenders. Darunter schreibt er das Wort »Selfie«. So erzählen es zumindest die Verantwortlichen beim altehrwürdigen Oxford Dictionary, das den Begriff zum Wort des Jahres gekürt hat. Die Geschichte klingt plausibel, ist doch die Kombination aus Ungeschick und Alkohol eine der erfolgreichsten im Internet. Nur Katzen und Einhörner schlagen diesen Mix.
Abgesehen vom Schicksal des blutigen Aussie, ist die Verbreitung des Selfies schlicht der Popularität sozialer Netzwerke geschuldet. Auch wenn ein Profilbild das Markenzeichen eines jeden Nutzers ist, beauftragen John Doe und Max Mustermann nur selten eine PR-Abteilung damit, das eigene Porträtfoto zu liefern. Und weil es wohl nur wenige Menschen gibt, die beim Fotografieren des gemeinsamen Urlaubs mit Freunden Wert darauf legen, statt der Partymenge oder einer Sehenswürdigkeit nur das Gesicht eines Bekannten abzulichten, existieren kaum von Dritten gemachte Fotos, die als Profilbild dienen könnten. Bewerbungsfotos sind übrigens gänzlich ungeeignet. Das Profilbild darf kein unpersönliches Anzugbild mit verkrampftem, angriffslustigem und trotzdem freundlichem Lächeln sein, es soll die Illusion vermitteln, die wahre Persönlichkeit des Nutzers auszustellen.
Selbstporträts sind dermaßen populär geworden, dass die angesagte Fotoplattform Instagram ohne sie nur noch Bilder von Essen, Autos und Möbeln bereitstellen würde. Dabei setzen die technischen Voraussetzungen klare Grenzen. Denn es ist aus anatomischer Sicht unmöglich, ein gutes Selfie zu machen. Die Evolution hat dem Menschen – das einzige Wesen, das bisher auf die Idee gekommen ist, sich bewusst selbst zu fotografieren – zu kurze Arme gegeben, als dass er brilliante Selfies machen könnte. Ein Orang-Utan hätte hier die besseren Chancen.
Und selbst wenn dieser körperliche Nachteil mittels eines Kabels oder einer Fernbedienung behoben wird, ist das Ergebnis wenig beeindruckend. Das zeigt das Ur-Selfie im deutschsprachigen Raum: In Bravo präsentierten sich junge Menschen nackt, um sich und der Welt zu beweisen, dass die Geschlechtsreife auch wirklich eingetreten sei.
Daher entsteht die Hälfte aller Selfies als Porträt vor einem Spiegel. Auch wenn das Oxford Dictionary diese Form des Selfie nicht in seine Definition aufgenommen hat, zeigt eine Stichprobe im Internet, dass die Nutzer das abfotografierte Spiegelbild durchaus als solches bezeichnen. Und ähnlich wie die Fotos in Bravo geht es hier um Körperlichkeit – oder besser gesagt, um die Trainingsfortschritte in Sachen Bauch, Beine, Po. Die Smartphone-vor-den-Spiegel-Halter wollen Lob, Anerkennung und Selbstbestätigung in einer Welt, in der sie immer schwieriger zu finden sind. Schließlich wird, wer neun Stunden bei H&M T-Shirts faltet, um sie eine Sekunde später wieder zerknüllt in der Ecke der Umkleidekabine zu finden, selten ein gutes Selbstwertgefühl mit nach Hause nehmen. Die eigenen zur Schau gestellten Muskeln sind die Werbefläche des Egos, sie werden – ähnlich wie das Geschlecht auf den Fotos jungfräulicher Bravo-Boys und -Girls – kaum gebraucht, außer man legt selbst Hand an. Sixpacks existieren quasi nur, wenn sie anderen auffallen. Im Fitness-Studio Gewichte zu stemmen, ist daher auch das sportliche Äquivalent zur Masturbation: Man macht es ziemlich mechanisch, Dopamine werden ausgeschüttet, aber Resonanz gibt es keine.
Es muss aber nicht nur Körperlichkeit sein, die mit einem Spiegel-Selfie in den Mittelpunkt gerückt wird: Für die Menschen aus bildungsnahen Schichten ist es der Style. Das Anziehen der Tagesgarderobe ersetzt das Schwitzen an der Hantelbank. Im Mittelpunkt steht die Einzigartigkeit des Stils, der sich von der Masse abheben soll. Um diese Diskrepanz in die vordigitale Ära zu übersetzen: Statt Muskelblöcken auf dem Zehnmeterbrett präsentiert man lieber die neueste Badekollektion auf der Liegewiese. Bei den einen ist es vermeintlich »Sexyness«, bei den anderen »Distinktion«. In beiden Fällen aber ist es positiv, dass durch die Millionen von Jedermann-Fotos die Selfies von Stars wie Katy Perry oder Rihanna nicht nur in der Masse unterzugehen drohen, sondern auch ihrer Lächerlichkeit preisgegeben werden.
Trotz der anfangs erwähnten anatomischen Schwierigkeiten gibt es Millionen Selfies, die mit ausgestrecktem Arm gemacht werden und viel mehr über die Jugend von heute verraten als Nachrichten über Komasaufen oder Studien über die Karriereambitionen der in den neun­ziger Jahren und danach Geborenen.
Kulturpessimisten regen sich dann gerne über die Verrohung Heranwachsender auf, wenn sie Selfies mit Hashtags wie Yolo oder FunInGermany sehen, die lachende Jugendliche vor den Gedenkstätten Sachsenhausen und Auschwitz zeigen. Das darf man nicht falsch verstehen, geschmacklos und deprimierend ist das auf jeden Fall. Aber die Jugend muss nicht zwangsläufig den Intelligenzquotienten eines Fleischwurstbrotes besitzen, um dazu in der Lage zu sein, angesichts des historischen Ortes jegliches Feingefühl vermissen zu lassen. Hinter dem Selfie steckt zumeist keine Inten­tion – da sollen keine Tabus gebrochen, kein Rebellentum vorgeführt werden. Die einzige Botschaft dahinter lautet: Ich bin.
Es gibt Jungs und Mädchen, die von der Beerdigung ihrer Oma ein Selfie hochladen, das sie lachend und mit ähnlich dämlichen Hashtags zeigt. Man kann sich im Internet auch durch unzählige Bildergalerien klicken, in denen sich Teenies vor einem schlaflosen Obdachlosen »selfien« und es anscheinend total witzig finden, sich als herben Kontrast zur Umwelt zu präsentieren.
Diese Selfies zeigen, dass die Jugendlichen nicht mehr vom Ort abhängig sind, an dem sie sich aufhalten. Sie sind die erste Generation, deren Leben, deren Adoleszenz im Internet stattfindet. Resonanz auf das eigene Ich – wird man nicht beachtet, fühlt es sich an, als würde man nicht existieren – suchen sie in sozialen Netzwerken, nicht in Skateparks und Plattenläden, die in vergangenen Zeiten dazu dienten, sich von den Eltern zu distanzieren. Das Internet ist die Raucherecke von heute.
Dass es keine Rolle mehr spielt, an welchem Ort man sich gerade befindet, Hauptsache, man kann sich für das Internet fotografieren, dreht das bisherige Verständnis der virtuellen Realität um. Statt mit allen Sinnen in eine nichtreale, lediglich programmierte Welt hineingezogen zu werden, wird die Wirklichkeit dank Smartphones zu einem Erlebnisparcours, in dem man nicht existiert, sondern nur das nächste Level erreichen will. Und damit ist die Entscheidung des Oxford Dictionary, Selfie zum Wort des Jahres zu küren, vielleicht der Anfang einer neuer Ära.