Sharen ist das neue Schenken. Und was ist mit Streaming? Berthold Seliger liebt Musik und nutzt »Spotify«

Streams are my reality

Streaming-Dienste wie Spotify sind für Musikliebhaber eine großartige Sache. Die grundlegenden Probleme der Kulturindustrie werden durch sie jedoch nicht gelöst.

Weiland reagierte die Stadtregierung von Paris auf den aufkommenden Automobilverkehr damit, dass sie wegen der höheren Geschwindigkeit gegenüber den gewohnten Pferdekutschen Männer mit roten Fahnen vor den Autos herlaufen ließ, um vor dem gefährlichen neuen Fortbewegungsmittel zu warnen. Die Autos fuhren demzufolge nur im Schritttempo. Wir wissen, wie die Geschichte weiterging. Man muss nicht jede technische Neuerung bejubeln, eine gewisse Skepsis gegenüber allen Möglichkeiten des Fortschritts ist sicher berechtigt. Aber, um FSK zu zitieren: Wir sagen Ja zur modernen Welt! Wir sagen Ja zum Streaming, wir sagen Ja zu Spotify!
Im bürgerlichen Feuilleton haben Streaming-Dienste (wie auch das Internet als solches) eine schlechte Presse. Eine Mischung aus Uninformiertheit, Manufactum-treuer Grundhaltung (»früher war alles besser«) und altbackenem Kulturpessimismus regiert die öffentliche Narration. Gerne wird Künstlern großzügig Raum gegeben, damit sie über angeblich schlechte Bezahlung bei Spotify barmen können. Nur: Spotify bezahlt eben nicht die Künstler (auch Apple und Amazon tun das nicht), Spotify bezahlt die Rechte­inhaber, also die Verwertungsindustrie. Wer zu wenig Geld bekommt, sollte seine Plattenfirma verklagen, wie es ja tatsächlich viele Künstler gerade tun (von den Allman Brothers bis zu den Temptations) – die Verwertungsindustrie tut so, als ob ein auf einem Streaming-Dienst gespielter Track wie eine CD zu handhaben sei, und gibt den Künstlern entsprechend nur etwa zehn Prozent der Streaming-Einnahmen ab, obwohl die Kosten der Plattenfirmen natürlich wesentlich geringer und ihr Profit wesentlich höher ausfallen als beim Verkauf physischer Tonträger. Eigentlich müssten die Künstler wie bei Lizenzen bezahlt werden, also mit wesentlich höheren Einnahmebeteiligungen (rund 50 Prozent). Vergessen wir nicht: »Das Geschäftsmodell der großen Plattenfirmen ist Diebstahl an den Künstlern.« (Bob Lefsetz) »Die großen Plattenfirmen haben nie so getan, als seien sie zu etwas anderem da, als möglichst viel Geld zu verdienen, von dem sie den Musikern möglichst wenig abgeben. Sie sind Investitionsapparate.« (John Peel)

Nein, ein »endloser Stream« ist eine schöne Vorstellung, ähnlich einem »endlosen Gedankengang«. Franz Kafka, der Grammophone hasste (»schon die Tatsache, dass sie in der Welt sind, ist eine Drohung«), schrieb 1912 an Felice Bauer: »Nur in Paris haben sie mir gefallen (…) dort hat die Firma Pathé auf irgendeinem Boulevard einen Salon mit Pathephons, wo man für kleine Münze ein unendliches Programm (nach Wahl an der Hand eines dicken Programmbuches) sich vorspielen lassen kann.«
Das »unendliche Programm« ist dank des Strea­ming heutzutage Realität geworden: Spotify stellt etwa 25 Millionen, der neue Musikdienst von Google etwa 20 Millionen Tracks ständig zur Verfügung, mehr Musik, als man in einem Menschenleben hören kann. Einer der großen Vorteile des Streaming ist die Verfügbarkeit. Ein Großteil der Musikgeschichte ist nur einen Klick entfernt. Ob die radikale Klaviermusik von Frederic Rzew­ski, die durchgeknallte »Purple Haze«-Version »Niebla Morada« der Meridian Brothers, die neuesten HipHop-Alben von Danny Brown oder Troy Ave, Stücke von Julia Holter oder Pharaoh Sanders, die historischen Eisler-Aufnahmen von Ernst Busch aus den dreißiger Jahren oder historische Songs der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung – Musik, die oft vergriffen oder nur schwer aufzutreiben ist, bleibt ständig verfügbar in einem digitalen Archiv, das wie eine immerwährende Bibliothek funktioniert. Vor allem aber: Man zahlt nicht mehr für den Besitz, sondern für die Nutzung von Musik, was ja per se eine äußerst sympathische Idee ist.

Die Redaktion stellte sich und mir die Frage: Was aber passiert mit unseren Plattensammlungen? Sollen die den nächsten Umzug überleben oder trennt man sich schweren Herzens davon, weil man Musik künftig nutzt, ohne sie zu besitzen? Eine Frage, die mir ehrlich gesagt nicht wirklich dringlich erscheint – jede und jeder handle nach eigenem Gutdünken. Ich mache es zum Beispiel so: Wenn mir ein Album, das ich auf Spotify gehört habe, wirklich gut gefällt, dann kaufe ich mir die LP – denn ein Stream ist akustisch gesehen natürlich ebenso eine Mogelpackung wie eine CD, der digitale Sound ist wegen der Datenreduzierung deutlich schlechter als der einer Schallplatte. Warum nicht beides parallel nutzen? Auf Spotify neue Musik auschecken oder im Archiv stöbern – und die besonderen Alben als LP erwerben, wenn man das möchte.
Das wahre Problem der Streaming-Dienste ist, dass sie eigentlich gar kein Interesse daran haben, dass wir in den 25 Millionen Stücken stöbern. Wenn es nach Spotify & Co. geht, sollen wir in der gated community der, sagen wir, 2 500 Mainstream-Stücke bleiben, die die Musikindustrie anbietet, die an den Streaming-Diensten natürlich Anteile hält. Doch das ist ein substantielles Problem der Kulturindustrie, das sich nicht mit der Frage lösen lässt, ob man Spotify nutzt oder nicht. Spotify also? Ja, unbedingt. Aber …