Die britische Doku-Soap »Benefits Street«

Aus den Albträumen der Mittelschicht

Die britische Doku-Soap »Benefits Street« wurde nicht nur von Kritikern und Zuschauern diskutiert, sie war auch Gegenstand einer Debatte über Sozialhilfe. Darin spiegeln sich vor allem die Ressentiments des Bürgertums.

Es sind die Freaks, die Ausgestoßenen, die Abgeschriebenen, die für sensationelle Einschaltquoten sorgen. Doch geht es nicht um verschwitzte Riesenmenschen, die als Bauern unter Anleitung Frauen suchen, oder um Zigaretten drehende Langzeitarbeitslose, deren Hauptbeschäftigung darin besteht, den Tabak auf einem Fliesentisch zu portionieren, während sie vor der Kamera die Tölpel spielen, um für ein wenig Grusel in der Wohnstube zu sorgen.
In diesem Fall begleitete ein britisches Kamerateam ein ganzes Jahr lang die Bewohner einer Straße – der James Turner Street in Birmingham. Die Voraussetzungen für ein quotenträchtiges, schockierendes Doku-Erlebnis sind ideal: Hier gibt es 99 heruntergekommene Backsteinhäuschen, auf deren Veranden die Dosenbiere und Pfeifchen geschwenkt werden. Die überwiegende Mehrheit der Bewohner soll von staatlichen Transferleistungen leben. Neun von zehn, hieß es in verschiedenen Zeitungen. Die Inneneinrichtung von deren Wohnungen wirkt zwar auf den ersten Blick kahl und langweilig, da außer Flachbildschirmen nichts an den Wänden hängt, aber immerhin herrscht hier eine gesellige Offenheit. Die Protagonisten geben gern Auskunft über ihr Leben – egal ob es um Intimitäten oder Kriminalität geht.
So könnte man die Doku-Serie »Benefits Street« des britischen Privatsenders Channel 4 auf den ersten Blick als eine Art Real-Life-Container-Szenario begreifen. Und das ist auch das Vorgehen vieler Kritiker: In Großbritannien hat sich seit der Ausstrahlung der ersten Folge Mitte Januar eine Poverty-Porn-Debatte entwickelt. Kritisiert wird, dass die Kamera menschliche Schicksale ausschlachte und das Elend instrumentalisiere. Channel 4 wird vorgeworfen, angesichts der derzeit in Großbritannien laufenden Verhandlungen über Sozialhilfekürzungen Stimmung gegen die Armen zu machen.
Einen Journalisten des Independent schüttelte es: »Da wird einfach – wie in der ganzen Debatte über den Sozialstaat – rücksichtslos und geradezu obsessiv auf die Schwächsten dieser Gesellschaft eingeschlagen.« Die Serie hat es als Thema sogar ins Unterhaus geschafft hat: Ein Konservativer wusste zu berichten, »dass es eine solche Straße in jedem Wahlkreis gibt« und dass man langfristig Sozialleistungen nur noch an wirklich Bedürftige zahlen solle.
John Bird, der Gründer der größten britischen Obdachlosenzeitung, Big Issue, kritisierte, dass die Serie nicht das »ganze Bild« zeige. »Benefits Street« sei eine Verzerrung der Realität und nur teilweise wirklichkeitsgetreu. In einem Artikel für den Mirror forderte er mehr gesellschaftliche Unterstützung für Arbeitslose, um ihnen echte Teilhabe zu ermöglichen.
Unzufrieden mit dem Ergebnis der Dreharbeiten zeigten sich auch die Bewohner der Straße, sie zogen vor das Gebäude der Produktionsfirma, um gegen die Darstellung zu protestieren. Sie fühlten sich nach der Ausstrahlung der Serie, deren fünfte und letzte Folge am 10. Februar gezeigt wurde, von den Sendeverantwortlichen ausgenützt und vorgeführt. Sie erhoben den Vorwurf, dass die Produktionsfirma ihnen zugesichert habe, eine Serie über das Gemeinschaftsgefühl, das trotz der herben Lebensbedingungen in der Communtiy existiere, zu drehen, herausgekommen sei aber eine Art Freakshow.
Den Menschen in der James Turner Street hat der kurze Starruhm nichts Gutes gebracht. Fans und Elendstouristen pilgern neuerdings in die Straße der Armen, als handele es sich um eine Filmkulisse. Fotos werden gemacht, Autos fahren im Schritttempo. »Benefits Street« ist die Vorlage zu einem Wildlife-Erlebnispark geworden. Die Boulevardpresse wühlte im Leben der Protagonisten und behandelt sie wie C-Promis der Scripted-Reality-Formate.
Doch wer kann es dem Publikum verübeln? Die Schnitte, die Kameraführung und die Verharmlosung von Elend kennt das Publikum aus den Scripted-Reality-Formaten. Die Geschichten der kleinen Drogendealer, Hehler und Diebe haben natürlich auch ihren Reiz. Und die Glucke der Straße und damit der Liebling der Zuschauer, White Dee, gilt sogar als heiße Anwärterin für die nächste Staffel von »Celebritiy Big Brother«. Dann würde sie im Container mit einem Girl von Seite 3 und einem abgehalfterten Popstar wohnen.
So etwas schürt auch Hass. Auf der Homepage des Daily Mail wurde vermeldet, dass White Dee nach einer Fernsehdiskussionrunde über Armut erkrankt sei – und sich die Macher von »Big Brother« nun sorgten. Die Meldung blieb natürlich nicht ohne Kommentare. Abermals entlud sich der Hass »gegen die faulen Schmarotzer«. Auch Drohungen prasselten auf sie ein. Mit dem Einzug einiger Roma in die Straße heizte sich die Stimmung beim Publikum ­weiter auf.
Das ist das eigentliche Verdienst dieser Serie: dass sie eine Diskussion ausgelöst hat und den Hass und die Angst der Mittelschicht sichtbar gemacht hat. Denn im Bürgertum herrscht die Angst, dass diese Menschen, die laut Bird durch das Sozialhilfesystem gleichsam zu Flüchtlingen werden, eines Tages seinen Ruin bedeuten werden. In der Krise tritt der Bürger immer noch am Liebsten nach unten.