Der Fall Pistorius und die Gewalt gegen Frauen in Südafrika

Die Gewalt ist ein alter Bekannter

Der Fall Pistorius zeigt die Alltäglichkeit der Gewalt gegen Frauen in Südafrika.

Mit Oscar Pistorius, der als erster beidseitig amputierter Sprinter an den Olympischen Spielen teilnahm, hatte das weiße Südafrika endlich wieder einen Helden. Einen afrikaanssprachigen christlichen Jungen aus gutem Hause, der gegen alle Widerstände triumphierte. Das war Balsam für das Selbstwertgefühl eines Bevölkerungsteils, der 20 Jahre nach dem Ende der Apartheid immer noch international mit einem erheblichen Imageproblem zu kämpfen hat.
Doch seit Anfang März steht Pistorius nun vor Gericht, weil er am Valentinstag vergangenen Jahres seine Freundin, das ehemalige Model Reeva Steenkamp, durch die geschlossene Toilettentür seines Hauses in Pretoria erschossen hat. Während Pistorius behauptet, er habe einen Einbrecher in seinem Haus vermutet, versucht die Staatsanwaltschaft ihm nachzuweisen, dass er Steenkamp absichtlich getötet hat. Dieser Prozess beherrscht, zusammen mit den Anfang Mai anstehenden Wahlen, die südafrikanischen Medien. Gleich welche Darstellung der Ereignisse den Tatsachen entspricht, werfen der Fall Pistorius und der öffentliche Umgang damit ein Licht auf den gegenwärtigen Zustand der südafrikanischen Gesellschaft.

Zum einen ist da die Furcht der Mittelschicht vor bewaffneten Raubüberfällen im eigenen Haus. Angesichts von etwa 17 000 solcher home robberies pro Jahr kann das nicht als bloße Paranoia abgetan werden, auch wenn die vom Apartheidsregime geschürte Angst vor der »schwarzen Gefahr« sicher noch eine Rolle im emotionalen Haushalt zahlreicher älterer weißer Südafrikanerinnen und -afrikaner spielt. Die Kriminalitätsrate in Südafrika, gemäß dem sogenannten Gini-Koeffizienten eines der Länder mit der weltweit höchsten sozi­alen Ungleichheit, ist extrem hoch. Deshalb ziehen immer mehr Angehörige der Mittel- und Oberschicht, wie auch Pistorius, in gated communities, Anwesen umschlossen von hohen Mauern mit Wachleuten, die auch von den Eigentümern vieler freistehender Häuser beschäftigt werden.
Ob Bildung, Gesundheitsversorgung oder eben Sicherheit: Dienstleistungen, die der Staat nur in unzureichendem Maße bereitstellt, kaufen sich die Bessergestellten im privaten Sektor ein. Die private Sicherheitsindustrie hat in Südafrika mittlerweile mehr Beschäftigte als die Polizei. Auch im Privathaushalt wird aufgerüstet. Pistorius besaß zum Zeitpunkt der Erschießung Steenkamps eine Pistole und hatte Lizenzen für weitere sechs Schusswaffen beantragt. Zuvor war er bereits mehrfach durch fahrlässigen Umgang mit Schusswaffen aufgefallen.
Die südafrikanische Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer schreibt in ihrem Roman »Die Hauswaffe« (1998), dass die Waffen der Mittelschicht zum Haushalt gehören »wie ein Haustier«. Statistisch ist es jedoch wahrscheinlicher, dass mit der Waffe statt eines Eindringlings, ein Mitglied des Haushalts getötet wird. Die Gewalt, vor der man sich schützen möchte, kommt nicht nur von außen. Der Impuls, Haus und Hof mit der Waffe in der Hand zu beschützen, ist fundamentaler Bestandteil der Rolle des Mannes in kolonialen Siedlergesellschaften und das weiße Südafrika ist keine Ausnahme. Laut Presseberichten besitzen die männlichen Mitglieder der Familie Pistorius insgesamt 55 Schusswaffen.

Zwar ist die südafrikanische Verfassung weltweit für ihren liberalen Charakter und den Schutz von Minderheitenrechten bekannt, doch über alle sozialen und ethnischen Grenzen hinweg sind konservativ-christliche Werte und traditionelle Auffassungen der Geschlechterrollen weit­gehend Konsens. Der verpflichtende Wehrdienst unter dem Apartheidsregime sowie auf der anderen Seite der Befreiungskampf gegen das Regime haben ein soldatisch-militarisiertes Selbstbild von Männlichkeit bei den heute tonangebenden gesellschaftlichen Milieus geschaffen. Zusammen mit der überlieferten Rolle des Fami­lienernährers, der ökonomisch nachzukommen viele Männer angesichts einer Arbeitslosenrate von über 40 Prozent nicht in der Lage sind, ergibt das ein gefährliches Gemisch, das sich in endemischer Gewalt gegen Frauen niederschlägt.
In einer Studie des South African Medical Research Council aus dem Jahre 2009 gaben mehr als ein Viertel aller befragten 1 738 Männer an, mindestens einmal eine Frau vergewaltigt zu haben. In den Medien wird Südafrika häufig als rape capital bezeichnet, als das Land mit den höchsten Vergewaltigungsraten weltweit. Das ist möglicherweise unzutreffend, da in Südafrika im Gegensatz zu zahlreichen anderen Ländern auch homosexuelle Vergewaltigungen und Vergewaltigungen durch den Ehepartner in die Statistik eingehen, trotzdem ist die Zahl von etwa 65 000 angezeigten Vergewaltigungen pro Jahr erschreckend hoch. Zudem wird nach Schätzungen von NGOs nur eine von neun Vergewaltigungen zur Anzeige gebracht.
Steigend ist die Anzahl der sogenannten corrective rapes, der Vergewaltigungen von lesbischen Frauen in Townships oder informellen Siedlungen, bei denen sich Gruppen von Männern zusammenfinden, um Frauen, die sich durch ihre Lebensweise patriarchaler Herrschaft und gän­gigen Geschlechternormen zu widersetzen scheinen, gewaltsam zu sanktionieren. Das findet häufig mit Duldung oder sogar unter Beteiligung von Familienangehörigen statt, die die aufsäs­sige Frau auf diese Weise bestrafen beziehungsweise auf den Pfad der Heterosexualität zurückführen wollen. Inzwischen hat Amnesty International die südafrikanische Regierung aufgefordert, entschiedener gegen diese Form des hate crime vorzugehen. Doch es geschieht wenig, denn trotz aller verbrieften Rechte von LBTQI sind 80 Prozent aller Südafrikanerinnen und -afrikaner der Auffassung, dass Homosexualität unmoralisch sei.

Im internationalen Vergleich auffällig ist auch die außerordentliche Brutalität, die viele Vergewaltigungen in Südafrika kennzeichnet und die in diesem Maße ansonsten nur im Rahmen von kriegerischen Auseinandersetzungen zu finden ist. Im vorigen Jahr ging der Fall der 17jährigen Anene Booysen durch die Medien, die in Bredasdorp in der Provinz Western Cape von fünf Männern vergewaltigt und verstümmelt wurde. Bevor sie im Krankenhaus an ihren Verletzungen verstarb, konnte sie noch den Namen eines Täters nennen – es handelte sich um ihren Exfreund. Auch das ist nicht ungewöhnlich. Während in den vergangenen Jahren die Zahl der Morde an Frauen insgesamt zurückgegangen ist, ist die der sogenannten intimate femicides sogar gestiegen. 58 Prozent aller aufgeklärten Morde an Frauen verübte der Partner des Opfers. Dieser Anteil ist insgesamt fünfmal höher als der weltweite Durchschnitt. Insofern ist der Fall Pistorius alles andere als untypisch.
Offizielle Stellen tun sich zwar durch Lippenbekenntnisse gegen die Gewalt gegen Frauen hervor, tatsächlich sind es aber in erster Linie NGOs, Aktivisten und Akademikerinnen, die sich um Aufklärung und Beratung kümmern. Von einer Regierung unter Präsident Jakob Zuma, der mit seiner Wiederwahl rechnen kann, ist wenig zu erwarten. Dieser inszeniert sich bevorzugt als chief der Zulu und hat während seiner Amtszeit immer wieder um die Sympathien der konservativen traditional leaders geworben. Diese haben einen Sonderstatus im südafrikanischen Rechtssystem und zementieren häufig in ihrem Einflussbereich die traditionelle Recht­losigkeit der Frau. Aktivistinnen hoffen nun, dass der Fall Pistorius das Thema Gewalt gegen Frauen endlich auf die Tagesordnung bringt, und nutzen die internationale Aufmerksamkeit. Doch einiges spricht dafür, dass die tragische Geschichte vom gefallenen Helden von größerem Interesse ist als der unglamouröse Alltag von Mord und Gewalt.