Falsche Solidarität und Selbstzensur

»Je suis Charlie«? Es ist etwas zu spät

Über die Solidarität mit den Opfern des Anschlags in Paris und die Verteidigung der Meinungsfreiheit.

»Je suis Charlie«. Eine Phrase, die in der vergangenen Woche in jeder Zeitung, jedem Twitter-Feed, auf Demonstrationen in ganz Europa zu lesen war. Die Solidarität mit den Opfern des Anschlags auf Charlie Hebdo ist beeindruckend. Sie kommt allerdings zu spät. Hätten Journalisten und politische Aktivisten in den vergangenen 20 Jahren eine dezidiertere Position für die Meinungsfreiheit eingenommen, würden wir möglicherweise heute nicht hier stehen.
Stattdessen haben sie dazu beigetragen, ein neues Klima der Selbtszensur zu erzeugen. Teilweise hat das mit der Angst zu tun, die Risiken einzugehen, dem die Herausgeber von Charlie Hebdo ausgesetzt waren und wofür sie einen so hohen Preis bezahlen mussten. Aber Angst ist nur ein Teil der Erklärung. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich eine moralische Verpflichtung zur Zensur entwickelt, die Überzeugung, dass wir, weil wir in einer pluralen Gesellschaft leben, den öffentlichen Diskurs über verschiedene Kulturen und Religionen zügeln und die Meinungsäußerung so einschränken müssen, dass sie nicht beleidigend wirkt. Mit den Worten des britischen Soziologen Tariq Modood: »Wenn Menschen denselben politischen Raum ohne Konflikt teilen müssen, müssen sie den Umfang der Kritik einschränken, die sie an den grundlegenden Überzeugungen der jeweils anderen ausüben.«
Dieser Gedanke hat sich so tief verankert, dass auch Verteidiger der Meinungsfreiheit ihn verinnerlicht haben. Vor sechs Jahren veröffentlichte das Magazin von »Index on Censorship«, einer der weltweit wichtigsten Organisationen, die sich für Meinungsfreiheit einsetzen, ein Interview mit der dänisch-amerikanischen Akademikerin Jytte Klausen über ihr Buch zum dänischen Karikaturenstreit. Die Organisation verweigerte aber dem damals zuständigen Redakteur die Erlaubnis, die Karikaturen als Illustration zum Interview zu veröffentlichen. Ich war damals Vorstandsmitglied bei Index und kritisierte als einziger diese Entscheidung. Wenn Index sich weigert, die Karikaturen zu drucken, so mein Argument, trägt die Organisation nicht nur dazu bei, das Klima der Zensur zu stärken, sie schwächt auch ihre eigene Legitimation, genau diese Kultur herauszufordern. Heute betont Index rühmlich, Meinungsfreiheit sei nicht verhandelbar, und appelliert an »alle, die an das Grundrecht der Meinungsfreiheit glauben, die Karikaturen oder die Titelseiten der Charlie Hebdo zu veröffentlichen«. Aber die Selbstzensur hat sich mittlerweile fest etabliert. Viel zu oft wird Meinungsfreiheit mit zweierlei Maß verteidigt.

Ironischerweise sind diejenigen, die am meisten unter diesem Klima der Zensur leiden, die Minderheiten selbst. Sozialer und gesellschaftlicher Fortschritt erfordert den Bruch mit bestimmten tief verankerten Sensibilitäten. »Du darfst das nicht sagen!« ist oft die Antwort der Mächtigen, wenn sie ihre Macht bedroht sehen. Zu akzeptieren, dass bestimmte Sachen nicht gesagt werden dürfen, bedeutet zu akzeptieren, dass bestimmte Formen von Macht nicht in Frage gestellt werden dürfen.
Kaum hatten sich erste Nachrichten über den Anschlag in Paris verbreitet, gab es bereits Stimmen, die Charlie Hebdo als »rassistisch« bezeichnen und befanden, dass die Karikaturisten es zwar nicht verdient hätten, aber aufgrund ihrer wiederholten Attacken gegen den Islam selbst schuld daran seien. Wirklich rassistisch ist an diesem Argument die Idee, dass nur gebildete, weiße Liberale Religion kritisieren wollen und mit Satire und Spott umgehen können. Wer behauptet, es sei »rassistisch« oder »islamophob«, sich über den Propheten lustig zu machen, ist offenbar wie die Rassisten davon überzeugt, dass alle Muslime reaktionär sind. Hier verbindet sich linker »Antirassismus« mit rechter muslimfeindlicher Hetze.
Was häufig als »Beleidigung einer Community« bezeichnet wird, ist meistens eine Auseinandersetzung, die innerhalb einer Community stattfindet. Es gibt Hunderttausende Menschen, innerhalb der muslimischen Communities im Westen und den Ländern, in denen es eine muslimische Mehrheit gibt, die reaktionäre, religiöse Gedanken, Politik und Institutionen kritisieren: Schriftsteller, Karikaturisten, politisch Engagierte, die täglich ihr Leben aufs Spiel setzen, indem sie gegen Blasphemiegesetze verstoßen, für Gleichberechtigung einstehen und für demokratische Freiheiten kämpfen. Menschen wie der pakistanische Karikaturist Sabir Nazar, die Schriftstellerin Taslima Nasreen aus Bangladesh, die in Indien im Exil lebt, weil sie mit dem Tod bedroht wird, oder der iranische Blogger Soheil Arabi, der vergangenes Jahr zum Tode verurteilt wurde, weil er den »Propheten beleidigt« hatte. Was in der Redaktion von Charlie Hebdo passiert ist, war zutiefst schockierend, aber diejenigen, die in der nichtwestlichen Welt für ihre Rechte einstehen, sind jeden Tag einer solchen Gefahr ausgesetzt.

Was die Reaktionäre stärkt – sowohl in den muslimischen Communities als auch außerhalb – ist die Verzagtheit vieler sogenannter Liberaler, ihre mangelnde Bereitschaft, für grundsätzliche liberale Prinzipien einzustehen und ihre Bereitschaft, die Progressiven innerhalb der Minderheiten zu verraten. Auf der einen Seite gibt dies muslimischen Extremisten Handlungsraum. Je mehr eine Gesellschaft Menschen dazu berechtigt, beleidigt zu werden, desto mehr Menschen werden die Gelegenheit nutzen, sich beleidigt zu fühlen. Und desto tödlicher wird der Ausdruck dieses Beleidigtseins werden. Es wird immer Extremisten geben, die so reagieren wie die Killer von Paris. Ihr wirkliches Problem ist, dass ihre Aktionen von den Liberalen fälschlicherweise legitimiert werden, die behaupten, es sei inakzeptabel zu beleidigen. Der liberale Kleinmut trägt auch dazu bei, antimuslimische Ressentiments zu fördern. Die rassistische Idee nämlich, dass Muslime an sich das Problem darstellten, dass muslimische Immigration eingedämmt und muslimischen Communities strenger polizeilich kontrolliert werden sollten. Das ermöglicht Parteien wie dem Front National, die Gesellschaft zu vergiften. Ob es nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo einen antimuslimischen Backlash geben wird, wird sich zeigen. Sich über Religion lustig zu machen und Meinungsfreiheit zu verteidigen, bedeutet nicht, Minderheiten zu attackieren. Ganz im Gegenteil, wenn man darauf verzichtet, ist es unmöglich, Freiheiten zu verteidigen, die von Muslimen oder jedem anderen. Also, lasst uns die Islamisten und die Reaktionäre in den muslimischen Communities bekämpfen, lasst uns die antimuslimischen Reaktionäre bekämpfen. Aber lasst uns auch die falschen Liberalen zur Rechenschaft ziehen.

Redaktionell gekürzte und bearbeitete Fassung des Textes: »Je suis Charlie? It’s a bit late«, erschienen am 8. Januar auf dem Blog des Autors »Pandaemonium«: (kenanmalik.wordpress.com)

Aus dem Englischen von Federica Matteoni.