Besuch bei ukrainischen »Patrioten« in Odessa

»Patriotismus ist zur Mode geworden«

Viele ukrainische »Patrioten« verstehen sich nicht als Rechte, sondern als Verfechter der ukrainischen Nation. Vor allem der Kampf gegen die Korruption sei ihnen wichtig, sagen sie. Ein Besuch in Odessa.

Ein Knall. Die Situation ist vielleicht zu offensichtlich, um als das erkannt zu werden, was sie ist: ein Bombenanschlag. Die zwei Soldaten in Camouflage, die noch zwischen den üblichen fünf Fernsehern einer Bar im Zentrum Odessas Bier trinken, springen hoch und anschließend auf die Straße. Einer von ihnen trägt ein Emblem des Bataillon Asow, einer im Zuge der Ukraine-Krise gegründeten rechtsextremen Miliz.
Wir treffen die beiden gut 20 Minuten später auf der Straße wieder, als wir der Vermutung nachgehen, die militaristischen Heißsporne hätten in einem unbedeutenden Knall eine Aufgabe gerochen. Tatsächlich aber finden wir Absperrbänder, Milizbeamte und jede Menge zersplitterte Fensterscheiben vor. Eine überschaubare, erstaunlich gelassene Anzahl von Leuten betrachtet einen Laden, dessen Eingangstür herausgesprengt wurde und dessen Fensterläden sich nach außen wölben. Die Miliz verliert ihre Autorität zusehends, als hektisch rauchende Jungs in Tarnanzügen auftauchen. Sie bestimmen, wer am Absperrband vorbeikommt und wer nur aus der Distanz schauen darf. Ziel des Anschlags, so erklären die Herumstehenden, sei ein Koordinierungszentrum für die Unterstützung der Ukrainischen Armee und ihrer »Antiterroroperation« im Osten des Landes. Je nach eigener Parteinahme im aktuellen Konflikt wird auch von »Bürgerkrieg« oder »Krieg« gesprochen.
Der Anschlag reiht sich in eine Serie ähnlicher Angriffe in den vorangegangenen Wochen ein, für die bisher niemand die Verantwortung übernahm. Bei einer Explosion Ende Dezember starb ein Mann, der vermutlich selbst den Sprengsatz zünden wollte. Am heutigen Abend wird niemand verletzt.
Anfang Januar wurde die Ukrainische Nationalgarde nach Odessa verlegt. Zusammen mit der Polizei und der Armee führt sie derzeit sogenannte »Antiterrormaßnahmen« in der Stadt durch und vor allem: Sie zeigt Präsenz. Wesentlich stärker bemerkbar macht sich jedoch in diesen Tagen der Schnee, der in Form eines hier eher unüblichen Sturms fällt und innerhalb eines Tages die Straßen meterhoch bedeckt. Krankenwagen und Räumfahrzeuge kommen kaum durch, überall schaufeln und hacken Menschen den Weg frei. In den folgenden Tagen wird jeder Gang auf der Straße zu einem Balanceakt durch Schnee, Eis, Matsch und Wasser.
Besonders schwierig ist die Lage in den Vororten von Odessa. Im südlich gelegenen »Kiewer Bezirk« befindet sich das »Ehrenmal für die heldenhafte Verteidigung Odessas« im Zweiten Weltkrieg. Der Busfahrer der Linie 187 sollte seinen Bus eigentlich bis dorthin lenken, dreht jedoch bereits einige Kilometer vorher ab und um. Wütende Passagiere beschweren sich lauthals bei ihm, sie müssen sich nun selbst ihren Weg durch die nicht geräumten Straßen bahnen. Taxifahrer, so erzählt man sich, kassieren in dieser Situation horrende Preise.

Für Tanya Nepomyashcha, eine ukrainische Aktivistin der »Selbstschutzeinheiten«, hat sich der Umgang mit Situationen wie dieser allerdings seit den Umwälzungen des vergangenen Jahres verändert. Dies, so sagt sie, sei auf einen Mentalitätswandel vieler Menschen zurückzuführen: »Die Auswirkungen der Selbstorganisationsprozesse lassen sich auch während des Schneesturms beobachten. Die Menschen helfen beim Schippen, bringen Tee und koordinieren sich über soziale Netzwerke.« Das Ablegen der Sowjetnostalgie und -traditionen wie auch das »Schaffen von etwas Neuem« seien Bedingungen für die Prozesse, an denen sie sich beteiligt. Ukrainische Selbstschutzeinheiten wurden in Odessa ebenso wie in Kiew ursprünglich als Begleiter der Euromaidan-Demonstrationen gegründet. »In Odessa versteht man sich jedoch seit der Annexion der Krim durch Russland und dem Beginn der Konflikte im Osten des Landes als patriotische wie auch als zivile und paramilitärische Organisation«, sagt die Aktivistin.
Die Mitglieder der Einheiten sind mit Schildern, Knüppeln und Körperschutz ausgerüstet und in Zehnergruppen unterwegs. »Da man in Odessa nicht von einer akuten Bedrohung durch russische separatistische Milizen ausgeht, widmet man sich nun anderen Aufgaben, wie der Bekämpfung der Korruption«, sagt Nepomyashcha. Als vor kurzem ein Parkplatz direkt an der Küstenpromenade der Stadt ohne offizielle Genehmigung gebaut werden sollte, habe man zunächst protestiert. »Niemand wusste, wer dafür zuständig ist, es war absolut anonym.« Die Proteste wurden von Politik und Verwaltung ignoriert, und so schritt man zur Tat und demolierte den im Bau befind-lichen Parkplatz.
Als »Lustration« wird in der Ukraine das Vorgehen gegen Menschen in bestimmten Positionen bezeichnet, denen Korruption vorgeworfen wird. Im vergangenen Jahr ist mit dem Gesetz über die »Säuberung des Regierungsapparates« die Entlassung als »belastet« geltender Staatsbeamter, vor allem der vorigen Regierung, beschlossen worden. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu eine Million Menschen von diesem Gesetz betroffen sein könnten.
In den vergangenen Monaten hat sich auch der rechtsextreme »Rechte Sektor« an der Bekämpfung von Korruption beteiligt, allerdings mit wesentlich brutaleren Methoden, nämlich mittels »Müll-Lustrationen«. Am 6. September wurde ein vermeintlich korrupter Staatsbediensteter buchstäblich in einen Müllcontainer geworfen. Die Aktion fand Nachahmer auch in anderen Städten, teilweise unter Anwendung massiver Gewalt.

In einer belebten Kneipe im Zentrum Odessas sitzen Angehörige der »Selbstschutzeinheiten«. Es sind offene, junge Menschen, die an internationaler Politik interessiert sind und sich gut auf Englisch unterhalten können. Sie wirken kompromisslos proukrainisch und geben sich als Verfechter der ukrainischen Nation. Dennoch bleibt ihre politische Verortung recht undeutlich.
»Patriotisch zu sein«, sagen sie, »ist allgemein zur Mode geworden.« Die Gefahr liege darin, dass eine Mode ebenso schnell wieder verschwinden könne, sagt Gleb. Zum allgemeinen Trend gehört auch der Kult um Stepan Bandera, den einstigen Führer der Ukrainischen Nationalisten, der in diesen Kreisen als »nationaler Befreier« angesehen wird. Sein Kampf gegen die Sowjetunion ist ein Anknüpfungspunkt, während man über Opfer der Aktionen seiner Organisation, vornehmlich Juden und Polen, und die mehrfache Kooperation mit den deutschen Nationalsozialisten ungern spricht. Im Zweifelsfall, wenn man explizit danach fragt, ist die Sache »kompliziert« und »nicht eindeutig zu beurteilen«.
Folgerichtig geht es in den Gesprächen viel um die Sowjetunion und das heutige Russland. Einig ist man sich dabei in der Ablehnung Russlands. Euphorie über politische Veränderungen im Nachgang der Umwälzungen des vergangenen Jahres ist kaum zu verspüren. Geprägt ist alles, wie sollte es anders sein, von den Kriegsereignissen im Osten des Landes. Zur ungebrochenen Herrschaft der Oligarchen in der Ukraine herrscht Ratlosigkeit. Vielleicht könne man dieses Fass noch nicht aufmachen, weil die dann entstehenden Konflikte nicht abzuschätzen seien, vermutet ein Gesprächspartner. Die Aktivisten sehen sich vor allem als Kontrollinstanz für »gute Politik«, für die die neue Regierung Verantwortung zu tragen habe. Die Erinnerung an die Ereignisse auf dem Maidan sollten Politiker stets im Hinterkopf behalten und gut überlegen, was sie tun und ob sie im Interesse des »Volkes« handeln. »Ein Präsident sollte ein Manager eines Landes sein, bisher sahen sich die Präsidenten jedoch als dessen Eigentümer«, sagt Gleb. Von den offen rechten Gruppen wie dem »Rechten Sektor« distanziert man sich, es sei ohnehin nur eine kleine und unbedeutende Gruppe: »Das sind nur ein paar Kinder.«
Während Gleb zur Happy Hour Arme wedelnd weitere Cocktails bestellt – eine nicht ganz einfach zu bewältigende Aufgabe – möchte er wissen, ob die Ukrainerinnen und Ukrainer aus europäischer Sicht denn »gute Europäer« seien. Auch wollen alle Anwesenden wissen, ob es in Deutschland noch Menschen gibt, die die Sowjetunion guthießen. So etwas habe man von der Partei »Die Linke« gehört.
Der wohl bedeutendste Bezugspunkt in Gesprächen über die politische Situation in Odessa sind die Ereignisse, die auch international wahrnehmbar waren: Anfang Mai 2014 kam es zu gewalttätigen Konflikten zwischen ukrainischen und russischen Parteigängern, bei denen mehr als 50 Menschen starben. Die meisten von ihnen im brennenden Gewerkschaftshaus, in das sich russische Kräfte zurückgezogen hatten. Vor dem Haus befand sich seit Wochen ihre »Anti-Maidan«-Zeltstadt. Bereits früher am Tag starben bei Aus­einandersetzungen im Zentrum ukrainische Aktivisten. Mehrere wurden erschossen, als ein Marsch rechter Gruppen und Fußballfans angegriffen wurde. Eine genaue Rekonstruktion der Ereignisse erscheint kaum möglich, so dass unklar bleibt, wer die Verantwortung für die Morde trägt. Unterschiedliche Schilderungen sind meist eng verknüpft mit der eigenen Haltung im Ukra­ine-Konflikt. Einige sprechen von einem Pogrom, andere von einem Massaker, die jungen Leuten rund um die ukrainischen Selbstschutzeinheiten lediglich von einer »Tragödie«, die eine Folge der Gewaltdynamik gewesen sei.
Vitali, einer unserer Gesprächspartner, wird von russischen Aktivisten beschuldigt, für die Toten im Gewerkschaftshaus mitverantwortlich zu sein. Auf Plakaten und im Internet wurden Collagen verbreitet, die die Opfer des 2. Mai neben einem Foto von ihm abbilden und ihn so in Zusammenhang mit den Toten bringen. Er und seine Freunde finden das schlichtweg absurd. Unter denjenigen, die die Gewalt nicht rechtfertigen, kursieren Theorien über den Einsatz von Provokateuren wahlweise durch Russland oder das Kiewer »Regime«. Bei einem Ende November angelaufenen Gerichtsprozess müssen sich diejenigen Angeklagten beider Seiten rechtfertigen, die noch nicht untergetaucht sind. Angeklagt sind 20 prorussische Aktivisten, aber nur einer aus dem ukrainischen Lager. Geklärt werden soll zudem die Rolle der Polizei und der Feuerwehr, die erst nach 40 Minuten am brennenden Gewerkschaftshaus erschien. Auch die Frage, ob Menschen im Gewerkschaftshaus durch Giftgas gestorben seien, soll erörtert werden. Vertrauen in die Aufarbeitung der Ereignisse durch den Prozess hat indes kaum jemand. Dessen Auftakt war laut dem Nachrichtenportal dumskaya.net geprägt von Platzproblemen in einem viel zu kleinen Gerichtssaal.
Olga*, die in Odessa eine Ferienwohnung vermietet, hatte Bekannte unter den Ermordeten, die sie »Genossen« nennt. Ihr ist das Entsetzen anzusehen, wenn sie über diesen Tag spricht und ihn schlichtweg als »grausam« beschreibt. Vor dem leeren Gewerkschaftsgebäude wird heute mit einer Fotowand und Blumen der Gestorbenen ­gedacht, nicht unähnlich dem Gedenken an die »Gefallenen« vom Maidan.

Die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ostukraine begleiten Anna Makarenkova*, die für einen Ausflug nach Odessa gekommen ist, bis in die Stadt Krywyj Rih, in der sie inzwischen als Binnenflüchtling lebt. Entgegen ihrer Erwartungen ist sie dort immer wieder Vorurteilen und Anfeindungen ausgesetzt. Menschen aus dem Osten des Landes wird immer wieder pauschal unterstellt, die Separatisten zu unterstützen. Von dem Wunsch, nach Donezk zurückzukehren, hat sie sich mittlerweile verabschiedet. Das Schlimmste sei jedoch die Ungewissheit: »Nie zu wissen, was die Zukunft bringen wird, wo man sein wird, was man tun wird, das ist wirklich schwer zu ertragen.« Dem Interesse an den Umbrüchen ist der Wunsch nach Normalität jenseits von Propaganda und polarisierten Positionen gewichen.
Touristische Attraktionen sind in diesen Tagen wegen des vielen Schnees schwer zu besichtigen. Schließlich findet sich ein freigeschaufelter Weg in ein kleines Jüdisches Museum. Eine Sammlung diverser Exponate, vor allem aus der jüdischen Community, die bis zum Zweiten Weltkrieg fast ein Drittel der Einwohner Odessas ausmachte, wird von einem sympathischen, euphorischen Betreuer mit lebendigen Geschichten untermalt. Wie wir denn von dem Museum gehört hätten, möchte er wissen. Die Ausstellung beinhaltet auch jüngere Exponate, darunter antisemitische Flugblätter. In Odessa, so erzählt er uns, gebe es jedoch weniger besorgniserregende und antisemi­tische Tendenzen als in Frankreich oder Deutschland. Dennoch benutzten Politiker hin und wieder antisemitische Stereotype, außerdem werde viel über vermeintliche oder tatsächliche jüdische Hintergründe von Politikern wie Julia Timoschenko und Präsident Pjotr Poroschenko geredet.

Ein pittoreskes Bild erhalten wir schließlich, als wir zu klassischer Musik aus Lautsprechern bei Schneefall in den Nachtzug nach Lwiw einsteigen. Dort erwartet uns zum Abschied eine zum orthodoxen Weihnachtsfest von Touristen überfüllte Stadt. Der Tourismus in Lwiw scheint einer der wenigen Nutznießer des Konfliktes zu sein. Die Massen ziehen uns mit in das Freilichtmuseum »über volkstümliche Baukunst und ländliches Leben«. Gegründet in den sowjetischen siebziger Jahren, erfreut es sich auch in Zeiten der Wiederbesinnung auf »ukrainische Traditionen« großer Beliebtheit. Zwischen Tänzen, inszenierten Inneneinrichtungen und Bogenschießen entdecke ich eine Theaterszene. Eine Bekannte kennt diese traditionellen Weihnachtsaufführungen aus ihrer eigenen Kindheit. Die Guten gewinnen über die Bösen. Die Guten, das sind das Christkind, Maria und Joseph, die drei Könige, Engel, einfache Menschen, Schäfer. Die Bösen, das sind Herodes, der Tod, der Teufel, Roma, das üblicherweise durch eine Frau dargestellte Böse, und – das ist auch im lauten Klamauk nicht schwer zu erkennen – ein Jude. Nachempfundene Stereotype antisemitischer Darstellungen, versteht sich. Umso besser gefällt es uns, im Laufe des Tages kritische Menschen zu treffen, die eine Verabredung am 2012 errichteten Denkmal für Stepan Bandera im Herzen Lwiws damit kommentieren, nun es habe endlich mal einen Sinn.

* Name von der Redaktion geändert.