Bodo Ramelows erste 100 Tage im Amt. Eine Bilanz

Regieren ist kein Projekt

Bodo Ramelow pflegt im Amt des thüringischen Ministerpräsidenten die großen Gesten und die Politik der kleinsten Schritte. Mehr als eine Restauration sozialdemokratischer Werte auf niedrigster Stufe ist von seiner rot-rot-grünen Regierung nicht zu erwarten.

Der Wille zur Macht, hieß es in einem ZDF-Beitrag über die ersten 100 Tage Bodo Ramelows als Ministerpräsident Thüringens, mache ihn zum Eisbrecher der Versöhnung. Schöner kann man es wohl nicht sagen, schauriger auch nicht. Das klingt nach Kolportage und passt eigentlich ganz gut. Denn Ramelow (Linkspartei) gilt als selbstverliebter, omnipräsenter Politprofi, er twittert gerne und über alles, lässt keine Gelegenheit zur großen Geste aus. Ramelow »füllt die Bühne, und die SPD kommt nicht mehr vor«, heißt es zerknirscht aus den Reihen der Sozialdemokraten, wie die FAZ zu berichten weiß. Ramelow, der Landesvater, der in seinen Reden – »Versöhnen statt spalten«, selbst auf diese Phrase mochte er nicht verzichten – immer eine Spur zu präsidial auftritt.

Das liegt zu einem gewissen Grad in der Natur der Sache: Die thüringische Landesregierung hat noch keinen Haushalt vorgelegt, die meisten Gesetzesvorhaben sind noch nicht angestoßen, viel mehr als Symbolpolitik konnte Ramelow in den ersten 100 Regierungstagen nicht veranstalten. Dennoch dürfte er kaum von seinem jovialen und großmännischen Regierungsstil lassen. Denn selbstverständlich wird in Thüringen verkappte Bundespolitik betrieben: Hält sich Ramelow – und derzeit hält er sich prima, die aktuellen Umfragewerte für ihn und seine Partei übertreffen die Ergebnisse der Landtagswahl –, dann liefert er glänzende Argumente für eine Koalition mit Sozialdemokraten und Grünen auch auf Bundesebene. Er demonstriert, dass »Die Linke« staatstragend und realpolitisch auftreten und die modernen Gesten des Souveräns jederzeit abrufen kann. Ramelow ist der personifizierte Triumph der Realos in der Linkspartei.
Für deren außerparlamentarisches Umfeld ist das freilich keine Neuigkeit. Seine Strategie beruht ja darauf, neben dem parlamentarischen Block, dem durchaus das Streben nach Regierungsbeteiligung zugebilligt wird, die Multitude sozialer Agenten zu aktivieren. Anders als das ursprüngliche Konzept der Grünen, die sich als verlängerter Arm der Umwelt- und Friedensbewegung in den Parlamenten verstanden, agiert diese Multitude autonom und somit unabhängig von parlamentarischen Vermittlungsprozessen. Die Linkspartei kann sie deswegen gar nicht »enttäuschen« oder »verraten«, weil sie sie nicht – oder nur indirekt – repräsentiert. Aber die Partei soll Adressat der Forderungen »von unten« werden, soll den sozialen Bewegungen den politisch-rechtlichen Spielraum verschaffen, der deren Autonomie vergrößert. Um offen zu sein: Letztlich geht es ums Geld, das über Strukturförderungsprogramme entweder indirekt oder über Stiftungsgelder direkt in »die Bewegung« fließen soll.
Was das mit Ramelow zu tun hat? Gar nichts. Und das wird das Problem dieser außerparlamentarischen Strategen: Ramelow tut alles, um kein Adressat zu sein. Er tritt nicht anders auf, als es Mike Mohring, sein Gegenspieler aus den Reihen der CDU, auch tun würde. Sein Politikstil ist konsequent auf die eigene Person ausgerichtet, und die Botschaft ist: Da ist jemand, der sich kümmert, der keine Scheuklappen hat, der seine Arbeit am Machbaren orientiert, bei dem Fleiß Ideologie ersetzt – und die mediale Dauerverwurstung den Streit.

Tatsächlich entspricht dieser postmoderne Personenkult haargenau einer ultrarealistischen Parteiagenda, bei der es, so Ramelows Stratege Benjamin-Immanuel Hoff, derzeit Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten und Chef der Staatskanzlei, allein aufs Handeln ankomme. Heißt: keine sogenannte Politik der Visionen, kein soziales Labor. Peinlich genau achtet man in Thüringen darauf, die rot-rot-grüne Koalition nicht »Projekt« zu nennen. Diese Politik der kleinsten Schritte – wenn sich überhaupt schon Konturen abzeichnen, dann im Bereich der Bildungspolitik – könnte, zumindest im Westen, auch ein von der CDU regiertes Bundesland betreiben, mit Ausnahme des Abschiebestopps.
Das ist keine Böswilligkeit, auch kein Selbstverrat, vielmehr befindet sich Ramelows Regierung in einer doppelten Klemme. Zum einen muss sie nolens volens als Modell einer zukünftigen rot-rot-grünen Regierung auf Bundesebene herhalten, darf sich also keine Blöße geben – so wie das in Nordrhein-Westfalen der Fall war, als Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) sich knapp zwei Jahre lang von der Linkspartei, die keine Mitte zwischen Fundamentalopposition und Realpolitik fand, tolerieren und sie schließlich eiskalt auflaufen ließ. »Die Linke« flog bei den vorgezogenen Landtagswahlen 2012 hochkant aus dem nordrhein-westfälischen Landtag.
Zum anderen hat Ramelow in Thüringen einen fast 25 Jahre lang auf die CDU eingeschworenen Beamtenapparat unter sich. Den darf er nicht brüskieren, sonst droht ihm Sabotage. Selbst wenn er vor dem 5. Dezember 2014, dem Tag seiner Wahl, kein Realo gewesen wäre, danach wäre er es auf jeden Fall geworden. Was aber am schwersten wiegt: Über beides darf er nicht offen reden. Ein Ministerpräsident, der eigentlich Bundespolitik machen will, kommt nicht gut an. Und ein Ministerpräsident, dem angesichts der schier übermächtigen Vorgängerregierung administrativ für eine lange Zeit die Hände gebunden sind, ist eine lame duck. So bleibt ihm nur die Flucht in die mediale Dauerpräsenz, für die er hektisch die Grimassen durchprobieren muss: mal ehrerbietig gegenüber Merkel, mal keck gegenüber der Dresdner Justiz, die ihm vorwirft, 2010 bei einer Demonstration gegen Neonazis gegen das Versammlungsrecht verstoßen zu haben. »Bodo« ist aber auch an Schulen und in Kindertagesstätten, er tingelt übers Land, redet mit Bauern, mit den »Mittelständlern«. »Bodo« ist notgedrungen überall – und da bleibt einfach kein Platz mehr für eine soziale Bewegung, die einige autonome Forderungen an ihn adressieren könnte.
Ramelow verkörpert eine postmoderne Variante des Charismas. Ein Tribun wie Oskar Lafontaine, der auf seine alten Tage pathetisch immer wieder auf »die Entscheidung« setzte und mit »den Massen« am liebsten über alle Gremien und Anstandsgebote hinweg direkt kommunizieren wollte – ein solcher Tribun ist Ramelow nicht. Diese Zeiten sind schon wieder vorbei. Er setzt von Anfang an die Möglichkeiten linker Politik – de facto bestünden sie in der Restauration sozialdemokratischer Werte – auf der niedrigsten Stufe an.

Die strukturellen Parallelen zu 1998 – zur rot-grünen Wende unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer – sind frappierend. Auch damals schlug die Regierung sofort einen technokratischen Stil ein, blieb als Trumpf allein die Figur des Regierungsoberhaupts, wusste Gerhard Schröder sich in den Medien ebenso geschickt wie brachial zu inszenieren. Doch ein großer Unterschied besteht: Rot-Grün galt seinen Protagonisten tatsächlich als »Projekt«, etwas, das die derzeitige Thüringer Landesregierung auf keinen Fall sein will. Sie folgt – nicht aus Opportunismus, sondern aus der Schwäche, mit der spätestens seit 1998 alle irgendwie linken Regierungen in Deutschland geschlagen sind: dass sie nämlich auf die Entwicklungen des Kapitalismus keine Antwort wissen und auch keine geben könnten – dem Politikstil Angela Merkels. Und die politischen Konflikte werden einfach vaporisiert.