Die schlaflosen Dachsammmer

Schlaflos in den Kampf

Eine besondere Spatzenart wird vom ­Pentagon intensiv erforscht. Deren Auf­gewecktheit soll bei der Schaffung ­nimmermüder Soldaten helfen.

Alle sagen nur Gutes über ihn. »Nice guy« oder »beautiful, smart bird« lauteten die Antworten Anfang April im Lower Rio Grande Valley in Südtexas, wenn man nach ihm fragte. Dabei ist der »nice guy« keine sexistische Unterschlagung der Tatsache, dass es auch beim white-crowned sparrow, zu Deutsch Dachsammer, weibliche Tiere gibt. Es ist nur der immer zärtlich gemeinte Hinweis, dass bei diesen Spatzen die Männchen das ganze Jahr über singen, also auch jetzt im April in der Sonne von Texas.
Dachsammern, wissenschaftlich Zonotrichia leucophrys, brüten vor allem im Norden Nordamerikas, von Alaska bis über ganz Nordkanada. Ihr Hauptverbreitungsgebiet liegt aber an der Westküste. Die nördlichen Populationen sind alle klassische Zugvögel. Den Winter verbringen sie im Norden Mexikos und im Süden Kaliforniens. Die Golfküste von Texas an der Grenze zu Mexiko liegt auf ihrem Zugweg, deshalb tauchen sie dort sporadisch, aber regelmäßig auf.
Diese mit einer Länge von 14 bis 17 Zentimetern relativ großen Spatzen leben im Winter in kleinen Gruppen und sind mit ihren weißen und schwarzen Streifen am Kopf sehr gut von allen anderen Spatzen Amerikas sowie vom europäischen Hausspatzen zu unterscheiden. Letzterer, wissenschaftlich Passer domesticus, ist mittlerweile auch überall auf dem süd- und nordamerikanischen Kontinent zu Hause. Dass man die Dachsammern sehr gut wiedererkennen kann, ist neben ihrem von regionalen Dialekten durchzogenem, zwar variablen, aber stets gut als art­spezifisch zu identifizierendem Gesang einer der Gründe für ihre allgemeine Beliebtheit.

Wissenschaftliches Interesse weckt jedoch vor allem eine andere Eigenschaft des kleinen Vogels – sein aufgewecktes Wesen. Seine enorme Wachheit hat in den vergangenen 20 Jahren wissenschaftlichen Untersuchungen veranlasst, die nicht nur die sogenannte Grundlagenforschung berühren, sondern auch die Geld- und Lebensströme unserer derzeitigen Wirtschafts- und Gesellschaftsform. White-crowned sparrows sind seit einiger Zeit ein Gegenstand des Forschungsprogramms der Defense Advanced Research Projects Agency (Darpa) des US-Verteidigungsminsteriums.
Die Darpa konzentriert sich im Wesentlichen auf drei große Themen. Zum einen auf die Analyse von Texten und Erzählungen, die vor allem junge Menschen vermeintlich dazu verführen, sich revolutionär oder terroristisch zu betätigen. Ein anderes Thema ist die Entwicklung ­autonomer Roboter, die einfacher zu kontrollieren sind als Menschen und natürlich auch die Kosten für militärisches Personal senken. Nicht zuletzt aber ist die Darpa auch an Phänomenen erhöhter Kognition interessiert. Gesucht werden physiologische und neurologische Möglichkeiten, die kognitiven Fähigkeiten von Soldaten zu erweitern.
An diesem Punkt kommen die Spatzen mit der hübschen Kopfzeichnung ins Spiel. Dachsammern haben nämlich die bemerkenswerte Eigenschaft, während ihres Zuges bis zu zwei Wochen nicht zu schlafen. Tagsüber suchen die Spatzen meist am Boden Futter, im Winter vor allem kleine Samen, Knospen und Früchte. Dazu singen die Männchen, obwohl sie Weibchen damit im Winter auf dem Zug weniger anlocken wollen. Wenn man weiß, wie energieaufwendig das Singen für Singvögel ist, erscheint der Zugwintergesang als reine Energieverschwendung. Hinzu kommt, dass ihre Zugstrecke auch von Millionen Greifvögeln genutzt wird, die ebenfalls satt werden wollen. Unaufmerksamkeit können sich die Dachsammern während des Tages also kaum leisten. Nachts fliegen sie dann, in der Regel allein. Wenn auch nicht alle Spatzen 482 Kilometer in einer Nacht zurücklegen werden wie der bisherige Rekordhalter, so sind doch Strecken zwischen 200 und 300 Kilometern keine Seltenheit. Unausgeschlafen dürfen die Vögel aber auch in der Nacht nicht sein. Nachts gibt es Eulen, die ihnen nachstellen. In Texas gibt es mittlerweile sogar Windkraftwerke, die ihnen im den Weg stehen und deren Rotoren tödlich sein können. Hinzu kommt, dass sich natürlich auch in den USA Landschaften verändern und Wegmarken immer wieder neu in spontanen Reaktionen erfasst oder umflogen werden müssen. Eine Konzentrationsleistung, die viele andere Nachtflieger unter den Vögeln dazu zwingt, am nächsten Vormittag erst einmal zu schlafen oder zumindest ruhend zu dämmern. Nicht so die Dachsammern. Die sitzen morgens munter an einer Tränke in einem der kleinen Naturschutzrefugien im Rio Grande Valley, baden und putzen sich und singen dazwischen noch kurz.

Es ist also naheliegend, dass Jonathan Crary seine großartige Studie »Schlaflos im Kapitalismus«, die vergangenes Jahr auf Deutsch im Verlag Wagenbach erschienen ist, mit diesen Vögeln und den Millionen beginnt, die das Pentagon in die Erforschung von deren Leben steckt. Mit dem Strom der Forschungsgelder für die Spatzen hat sich nicht nur das Grundlagenwissen über die Vögel erweitert, auch die Grundsätze der Forschung wurden radikal verändert. Das Ziel des Programms der Darpa sei die Schaffung eines Soldaten, der sieben Tage ohne Schlaf auskommt, ohne die Konzentration zu verlieren, wie das Magazin Wired bereits 2003 in einem Bericht über die Schlafforschung des Pentagon schrieb.
Diese Veränderung steht für eine allgemeine Tendenz der heutigen Wissenschaften überhaupt. Es gibt kein Thema mehr – sei es scheinbar auch noch so entlegen wie das Schlafverhalten von mittelgroßen Spatzen –, das nicht in den Strom der kapitalistischen Verwertbarkeit gezogen wird. Die wissenschaftliche Forschung an den Spatzen, die hauptsächlich an der Universität von Madison in Wisconsin stattfindet, ist längst in ein detailliertes Studium der neurobiologischen Funktionsweise des Spatzenhirns eingetreten, das vor allem eine Unterscheidung nicht mehr braucht, falls es sie überhaupt noch kennt: die zwischen Menschen und Tieren.
Damit hat die Wirklichkeit ein philosophisches Programm eingeholt, das Gilles Deleuze und Felix Guattari bereits 1972 in ihrem Buch »Anti-Ödipus« beschrieben haben. Sie beschreiben dort am Beispiel der Sprachforschung zu Delphinen, dass das kapitalistische System Wissenschaftler nur bis zu einem bestimmten Punkt in Frieden denken lässt. Wenn dieser Punkt überschritten werde – bei Delphinen war es die Übersetzbarkeit ihrer Laute in einen für Menschen benutzbaren Code –, klopfe sofort das Verteidigungsministerum an und setze seine eigenen Forschungsziele an die Stelle der vorherigen friedlichen. Bei Delphinen war es das Ziel des perfek­tionierten Kampfschwimmers, den es so bis heute zum Glück nicht gibt. Dafür gibt es heute tatsächlich eine Axiomatik für die Sprache der Delphine, die weder dem Pentagon noch sonst irgendeinem Forschungsgeldgeber unangenehm sein muss. Die Sprache der Delphine gehört bis in ihren Gebrauch in der Esoterik in den Strom der Kapitalflüsse wie die Schlaflosigkeit der Dachs­ammern.
Im geschäftigen Südtexas führt dieser Zusammenhang zu einer weiteren Merkwürdigkeit. Wenn man in McAllen, der Metropole des Bezirks Lower Rio Grande, am Flughafen ankommt und von dort in Richtung Küste am Golf von Mexiko fährt, wird man zunächst kaum erwarten, dass man sich hier in einem Gebiet aufhält, das die moderne Ökologie als einen Hot Spot der Artenvielfalt verzeichnet. Hier wurden in den vergangenen Jahren neben den Spatzen an die 500 Vogelarten beobachtet, die besonders in den Zugzeiten jeden Dschungel an Artenvielfalt überbieten. In McAllen mit seinen 140 000 Einwohnern reiht sich eine Shopping Mall an die nächste und die ausladenden Verkaufshallen fressen sich so in die Landschaft, dass sie übergangslos den Weg in die nächste Stadt finden. Zersiedlung ist ein viel zu platter Begriff für das, was man hier beobachten kann.
McAllen samt Umland steht in der Top-Ten-Liste der Regionen der USA mit dem größten Wirtschaftswachstum. Die Stadt lebt vor allem davon, ein Einkaufsparadies auch für Mexikaner jenseits der Grenze zu sein. Außerdem wird dort jeder Zentimeter beackerbaren Bodens mit höchster Intensität und billigen mexikanischen Saisonarbeitern intensiv bewirtschaftet. Eine ­Unterscheidung von Natur und Kultur ist hier kaum mehr möglich, weil die Gegend schon so schlaflos geschäftsbereit ist wie die Spatzen nur zu ihrer Zugzeit. Insofern passen sie wirklich sehr gut an den Anfang von Crarys Studie über den Angriff des Kapitalismus auf den Schlaf. Es gibt aber auch eine weniger pessimistische Aussicht aus dem Neurodiskurs um die Spatzen und ihrem Gebrauch für das Kriegsgeschäft: Sie stehen auch in ihrer Schönheit für die Hinfälligkeit der immer noch wirkmächtigen Trennung von Kultur und Natur.