Elke Hartmann im Gespräch über die deutsche Verantwortung am Genozid

»Verschweigen, verdecken, vergessen«

Die Historikerin und Islamwissenschaftlerin Elke Hartmann forscht seit vielen Jahren zur modernen osmanischen Geschichte und dem Völkermord an den Armeniern. Sie ist zudem Mitgründerin des Projektes Houshamadyan, das die armenische Lebenswelt vor dem Völkermord dokumentiert. Mit der Jungle World sprach sie über den deutschen Umgang mit der eigenen Verantwortung am Genozid.

Können Sie kurz skizzieren, wie sich die Debatte über die deutsche Verantwortung beim Völkermord historisch entwickelt hat?
In Deutschland herrscht eine Ambivalenz. Man weiß seit den Ereignissen, dass ein staatlich organisierter, intendierter, geplanter und systematisch durchgeführter Völkermord an den Armeniern stattgefunden hat. Das weiß man aus den eigenen Quellen, den Konsularberichten des Auswärtigen Amtes, das ist deutsches Staats- und Regierungswissen. In vielen amtlichen Berichten wird auch die türkische Gegendarstellung – die sich bis heute nicht geändert hat –, wonach es sich etwa um eine zeitweilige Umsiedlung der Armenier gehandelt habe, sehr klar widerlegt und unmissverständlich festgestellt, dass es sich bei den Maßnahmen um eine Deportation der Armenier zum erklärten Zweck ihrer Ausrottung handele. Die damalige Reichsregierung beschloss, trotz dieses Wissens um den Völkermord nicht zu intervenieren. Ziel war es, den türkischen Kriegsverbündeten »bis zum Ende an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht«, wie es der damalige Reichskanzler Bethmann-Hollweg in einem Aktenvermerk formulierte. Es wurde eine Pressezensur verhängt, die deutsche Öffentlichkeit vom Schicksal der immerhin christlichen Armenier nicht übermäßig aufgewühlt würde. Der Theologe Johannes Lepsius hatte schon während des Kriegs seinen »Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei« verfasst, der dann beschlagnahmt wurde.
Nach dem Krieg nahm das Ganze eine weitere Wendung. Das Deutsche Reich hatte verloren, das Osmanische Reich ebenso und die Alliierten hatten schon angekündigt, die Verantwortlichen für die Verbrechen an der Menschheit zur Rechenschaft zu ziehen. Deutschland hatte plötzlich große Angst, mitverantwortlich gemacht zu werden. Lepsius wurde also beauftragt, eine Quellenedition herauszugeben, die dokumentieren sollte, dass die Deutschen nicht gutgeheißen hatten, was passiert war. Nach der Gründung der modernen Türkei 1923 war dann verschweigen, verdecken, vergessen die Strategie, sowohl in Deutschland als auch in der Türkei.
Was hat sich im Umgang mit dem Völkermord seitdem geändert?
In Deutschland haben sich erst seit den späten siebziger Jahren zunächst einige Menschenrechtler und Journalisten zu Wort gemeldet. Sie forderten die Anerkennung des Völkermords, da sich die genozidale Politik in der Verleugnung fortsetzt. In den neunziger Jahren wurde das Thema in neuem Kontext aufgegriffen, als es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zum Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan und zu Massakern an Armeniern in Baku und in Sumgait kam. Bis heute ist es aber so geblieben, dass die Auseinandersetzung mit dem Völkermord sich auf der zivilgesellschaftlichen Ebene bewegt, während sich das offizielle Deutschland schweigt.
Indem die deutsche Regierungen durchgehend die unumwundene Benennung der Ereignisse als Völkermord verweigern, verlängern sie die Leugnung. Selbst die enorme Medienberichterstattung und der dadurch entstandene öffentliche Druck in diesem Jahr, der eine ganz neue – und hoffentlich nachhaltig veränderte – Atmosphäre in Deutschland geschaffen hat, hat daran nichts Grundsätzliches geändert und bislang nur zu einer indirekten Verwendung des Begriffs Völkermord geführt. Unter diesen Bedingungen hat sich abgesehen von den engagierten publizistischen Beiträgen hierzulande die Fachforschung – mit der einzigen Ausnahme des Bochumer Genozidforschers Mihran Dabag – nicht entwickelt.
Wenn man aber eine historische Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern will, wenn man Neues über die Zusammenhänge, die lokalen Ereignisse und Akteure herausfinden und die Strukturen, Handlungsmotivationen und -optionen oder auch ideologische Aspekte verstehen will, muss eine breitere Forschung in den relevanten Fachdisziplinen ankommen: in der Turkologie, Osmanistik, Islamwissenschaft. Man muss Osmanisch – das alte, in arabischer Schrift geschriebene Türkisch – und vor allem auch Armenisch lesen können und die vielfältigen Quellen der Beteiligten und Betroffenen in den Mittelpunkt rücken.
Warum wird in Deutschland zu diesem Thema nicht geforscht?
Das hängt mit der offiziellen Haltung zusammen, die die wissenschaftliche Aufarbeitung nicht fördert. 2005 wurde eine Bundestagsresolution verabschiedet, die explizit forderte, sich der deutschen Mitverantwortung für den – auch hier detailliert beschriebenen, aber nicht als solchen benannten – Völkermord zu stellen, insbesondere dadurch, dass man sich um Aufarbeitung, Dialog und Versöhnung bemüht. Passiert ist seitdem in Bezug auf die historische Forschung nichts Substantielles. Leider hat sich auch das Lepsiushaus in Potsdam, das ja eigentlich genau zu diesem Zweck als Forschungseinrichtung und Begegnungs- und Gedenkstätte gegründet wurde, eben dieser notwendigen Fachforschung gerade nicht verschrieben, sondern fokussiert sich auf Deutschland. Bei aller öffentlichen Aktivität, die das Haus entfaltet, sind keine Forschungsbeiträge zu erwarten, die neues Licht auf die historischen Ereignisse in ihren osmanischen Zusammenhängen werfen, etwa zu den lokalen Verwerfungen und Konflikten im Zusammenhang mit dem osmanischen Modernisierungsprozess, zur Landfrage am Vorabend des Völkermords, zu ideologischen Entwicklungen innerhalb der jungtürkischen Bewegung, zur Struktur der osmanischen Provinzverwaltung und den Sicherheitsorganen, zur politischen Selbstverortung der Armenier und vielem anderen mehr, zu dem noch so gut wie nichts bekannt ist.
Ein erstes zaghaftes Umdenken findet aktuell bei einigen Turkologen und Osmanisten statt, was sich hoffentlich in vermehrter Forschung an diesen Instituten niederschlagen wird. Die Aufarbeitung der deutschen Holocaust-Verbrechen hat doch gelehrt, dass es keine Alternative zu konsequenter wissenschaftlicher Forschung gibt. Es kann ja nur auf der Grundlage der detaillierten Kenntnis der historischen Ereignisse und ihrer Zusammenhänge und Ursachen den von der Politik eingeforderten Dialog und Versöhnung geben. Menschenrechtsarbeit, engagierter Journalismus oder künstlerische Auseinandersetzungen können die historisch wissenschaftliche Aufarbeitung nicht ersetzen. Es ist auch ein Trugschluss zu meinen, man könne Dialog, Verständigung und Versöhnung in Gang setzen und dabei die Auseinandersetzung mit Schuld oder die Benennung des Verbrechens als Verbrechen ausklammern. Ein Dialog wird doch nicht dadurch möglich, dass man die schwierigen Fragen, um die es geht, nicht anspricht, sondern nur dadurch, dass man versucht, sich ihnen gemeinsam und von allen Perspektiven her zu nähern.
Spielt die Angst vor Rassissmusvorwürfen im offiziellen Diskurs eine Rolle?
Das ist in der Tat ein Problem, denn es gibt einen gar nicht mal so unterschwelligen, sehr lebendigen Rassismus in der Mitte unserer Gesellschaft, der sich immer noch gegen »die Türken« oder »die Muslime« richtet. Gerade in der Linken befürchtet man, dass die Anerkennung des Völkermordes antitürkische oder antimuslimische Ressentiments verstärken könnte. Das ist aber ein grandioser Fehlschluss, denn umgekehrt wird ein Schuh draus: Aus der Geschichte des Völkermordes könnte man ein wunderbares Anschauungsstück machen und zeigen, wohin Rassismus und Vorurteile führen. Eine eindrucksvolle und überzeugende Demonstration hierfür liefert uns gerade das Berliner Maxim-Gorki-Theater. Unter seiner Intendantin Şermin Langhoff wurde hier über 44 Tage hinweg ein überbordendes, vielschichtiges Programm zum Thema des Völkermords an den Armeniern zusammengestellt. Für 44 Tage ist das Maxim-Gorki-Theater ein Ort der intensiven Auseinandersetzung zwischen Deutschen, Armeniern, Kurden und Türken geworden, die schmerzhaft war, weil sie nie gezögert hat, die Dinge beim Namen zu nennen, Verbrechen, Völkermord, Schuld, Vergebung, Erinnerung, Widerständigkeit und Lebensmut zu thematisieren, und gerade dadurch Dialog und Versöhnung zu ermöglichen.
Mit einer klaren Benennung des Völkermordverbrechens auch auf der politischen Ebene würde man auch in der Türkei die immer zahlreicher werdenden, mutigen Vertreter der Zivilgesellschaft in ihrem demokratischen Engagement stärken, die sich dort ebenso schon längst mit dem Völkermord an den Armeniern beschäftigen. Dies würde der deutschen Verantwortung eher gerecht als die politische relativistische Zurückhaltung, die sich als kontraproduktiv erwiesen hat.
Was streben Sie mit ihren Projekt Houshamadyan an?
Das Projekt richtet sich darauf, die Lebenswelt der Armenier im Osmanischen Reich vor der Vernichtung zu rekonstruieren. Wir arbeiten derzeit vor allem mit armenischen Quellen, auch um zu zeigen, wie reich und wichtig diese weitgehend unbeachteten Quellenbestände sind. Aus ihnen lernen wir immens viel über die osmanische Geschichte insgesamt. Wir sehen, wie die Steuereintreibung in den Dörfern ausgehandelt und abgewickelt wurde. Wir erleben, wie in den Provinzen armenische Fabrikanten moderne Produktionstechniken einführten, zu neuem Reichtum und Selbstbewusstsein gelangen, das für die Muslime zur Provokation wurde und so in Gefährdung umschlug. Wir gewinnen Aufschluss über das Zusammenleben der Gemeinschaften, über die lokalen Konflikte über die Hoffnungen der Armenier und letztlich ihre Vergeblichkeit.
In dieser lokalen Mikrogeschichte finden sich nicht nur die Armenier wieder, sondern auch die zahlreichen kurdischen und türkischen Leser unserer dreisprachig armenisch-englisch-türkischen Website. Houshamadyan wird damit zu einer Initiative der Verständigung gerade durch rückhaltlose historische Aufarbeitung.

www.houshamadyan.org