Das Mittelmeer als Massengrab und die Selbstorganisation von Flüchtlingen

Zwischen Wort und Tat liegt ein Meer

Abermals sind Hunderte Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ­gestorben. Die EU-Migrationspolitik wird dennoch kaum gelockert. Die Flüchtlinge, ihre Angehörigen und Unterstützer ­müssen sich derweil selbst organisieren.

Seit zwei Wochen häufen sich erneut die Meldungen über Flüchtlinge in Seenot, über Ertrunkene und Vermisste zwischen den nordafrikanischen und italienischen Küsten sowie in der Ägäis. Am vorvergangenen Wochenende sank ein Boot, 400 Menschen starben, am Donnerstag waren es erneut 40. Seit Sonntag werden sogar bis zu 1 000 boat people vermisst, mindestens 650 von ihnen sind einem Bericht des Flüchtlingshilfswerks UNHCR zufolge wohl bereits ertrunken. Das ist die größte Schiffskatastrophe in der Geschichte des Mittelmeerraums. Damit hätte sich auch die Zahl der in den ersten dreieinhalb Monaten dieses Jahres im Mittelmeer Ertrunkenen, Erfrorenen, Verbrannten, Verhungerten und Verschwundenen in nur einer Woche von knapp 900 auf mindestens 1 500 Menschen erhöht. Vergangenes Jahr waren es 3 000, insgesamt sind seit dem Jahr 2000 fast 30 000 Menschen beim Versuch, Europa zu erreichen, gestorben oder verschwunden.
Die Toten vor Lampedusa vom 3. Oktober 2013 wurden von Medien und EU-Politikern noch als »Tragödie ungekannten Ausmaßes« verhandelt, die italienische Regierung initiierte das Seenotrettungsprogramm »Mare Nostrum«. Ausgestattet mit über neun Millionen Euro diente diese Operation der italienischen Marine und Küstenwache auch der Kriminalisierung migrantischer Unterstützungsnetzwerke. So sollten nicht nur Flüchtlinge in Seenot gerettet, sondern auch die »Schleuser auf den Schiffen und im Hintergrund identifiziert« werden. Dennoch: In nur einem Jahr rettete »Mare Nostrum« dem European Council on Refugees and Exile zufolge 140 000 Menschen.
Doch »Mare Nostrum« wurde am 31. Oktober 2014 eingestellt, weil die EU-Kommission sich weigerte, die weitere Finanzierung zu übernehmen. Stattdessen begann am 1. November 2014 die Operation »Triton«. Sie wird von der EU-Grenzschutzagentur Frontex geleitet, verfügt nicht einmal über ein Drittel des Budgets, das die italienische Regierung allein in »Mare Nostrum« investierte, und soll explizit nicht Flüchtlinge retten, sondern Europas Außengrenzen schützen. Im Unterschied zu »Mare Nos­trum« patrouillieren die Triton-Boote nicht bis in libysche Hoheitsgewässer, sondern nur vor den italienischen Küsten. Weil die italienische Küstenwache aber dennoch weiter Notrufen auch aus libyschen Seegebieten folgte, forderte Frontex-Operationsleiter Klaus Rösler die italienische Einwanderungsbehörde und Grenzpolizei im Dezember vergangenen Jahres auf, diesen Notrufen außerhalb der 30-Meilen-Zone nicht mehr nachzukommen. Eine Sprecherin der EU-Kommission antwortete am Donnerstag vergangener Woche auf eine Frage von Journalisten, Frontex sei keine Behörde zur Suche und Rettung.
Auch die mindestens 1 000 Toten von vergangener Woche haben diese Haltung der EU-Kommission zur humanitären Katastrophe im Mittelmeer nicht grundlegend verändert, obgleich ein EU-Krisengipfel stattfinden soll. Auf einer EU-Krisensitzung am Montag fand bereits ein Zehn-Punkte-Plan der EU-Kommission große Zustimmung. Neben einer Aufstockung der Seenothilfe, einer schnelleren Bearbeitung von Asylanträgen und der gerechteren Verteilung von Flüchtlingen auf Aufnahmeländer wurden dort Maßnahmen vorgschlagen wie die stärkere, selbst militärische Bekämpfung von Schleusern in Libyen, schnel­lere Abschiebungen und eine bessere internationale Zusammenarbeit zur Kontrolle von Flüchtlingsbewegungen.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière lehnte im ZDF-Morgenmagazin vom 16. April Rettungsmissionen noch ab und kündigte eine konsequentere Verfolgung des sogenannten Schlepperunwesens an (siehe auch Kommentar S. 15). Am Montag hieß es dann: »Die Seenotrettung muss erheblich verbessert werden, sie muss schnell organisiert und europäisch finanziert werden.« Außerdem wolle Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen – natürlich nur die »wirklich Schutzbedürftigen«. Der Kampf gegen Schlepper soll zudem intensiviert werden.

Bereits jetzt macht sich verdächtig, wer Flüchtlingen in Seenot hilft. Seit Beginn von »Mare Nostrum« mehren sich juristische Maßnahmen gegen Kapitäne aufgegriffener Flüchtlingsschiffe, aber auch gegen Fischer und Besatzungsmitglieder von Containerfrachtschiffen, die Flüchtlinge aus dem Wasser ziehen. Ihnen wird organisierter Menschenschmuggel oder Beihilfe hierzu vorgeworfen. Zu den bekanntesten Fällen gehört jener des sogenannten Geisterschiffs »Blue Sky M«, das am 31. Dezember 2014 mit 796 Menschen an Bord, vor allem aus Syrien, von Triton-Schiffen in den süditalienischen Hafen von Gallipoli gebracht wurde. Angeblich trieb es ohne Mannschaft vor der Küste. Dennoch wurden vier Menschen verhaftet, ein syrischer Kapitän und drei weitere professionelle Seeleute aus Syrien. Der Kapitän, selbst ein Flüchtling, sagte gegenüber der italienischen Staatsanwaltschaft aus, man habe ihn angefragt, gegen Entgelt das Schiff zu steuern. Der Fall zeigt, dass es immer häufiger Flüchtlinge sind, die Boote und Schiffe steuern, um sich und anderen die Flucht zu ermöglichen.
Während die EU durch die Kriminalisierung der Fluchthilfe im Mittelmeer aktive Sterbehilfe leistet, haben Aktivisten und Aktivistinnen aus Europa und Nordafrika selbst mit der Seenotrettung begonnen. Dazu riefen sie im Oktober 2014 das Notruftelefon-Netzwerk »Watch the Med« ins Leben, das seither rund um die Uhr betrieben wird. Am Freitagabend vergangener Woche brachten italienische Rettungsschiffe und Hubschrauber ein von Libyen aus in See gestochener sinkendes Boot mit rund 600 Menschen, mehrheitlich aus Eritrea, in Sicherheit. Vorausgegangen waren seit dem Morgen Anrufe der Bootsinsassen von einem Satellitentelefon aus bei Abba Mussie »Pater Moses« Zerai, der die italienische Küsten­wache informierte und den Fall an »Watch the Med« weiterleitete. Der katholische Geistliche ist vor fast 25 Jahren selbst aus Eritrea geflohen und lebt derzeit in der Schweiz. Seine Kontaktdaten finden sich in libyschen Lagerhallen, in denen Zehntausende unter menschenunwürdigen Bedingungen auf die Überfahrt nach Europa warten, in italienischen Aufnahmelagern und auch auf Schlauchbooten und an Metallwänden der Frachter, die Richtung Italien starten. Seit Jahren telefoniert Zerai mit Flüchtlingen in Seenot, verzweifelten Angehörigen, Fischern, Rettungsdiensten, Küstenwachen, Politikern und Priestern. Er stellt Listen von Vermissten zusammen, hat Rettungsaktionen angeschoben und juristische Ermittlungen gegen die italienische Küstenwache wegen unterlassener Hilfe­leistung im Fall der 390 Toten vom Oktober 2013 vor Lampedusa gefordert.
Den Tag über setzten die Aktivisten von »Watch the Med« die maltesischen und italienischen Küstenwachen unter Druck, die aber zunächst keine Zusage machen wollten, überhaupt eine Rettungsaktion einzuleiten. Die Initiative alarmierte ihre Netzwerke über Mailinglisten, Facebook und Twitter mit der Aufforderung, per E-Mail ebenfalls Druck auf die Küstenwachen auszuüben. Am Abend schließlich setzte sich die italienische Küstenwache in Bewegung.

Maurice Stierl ist erschöpft. »Wir sind als aktivistisches Netzwerk angetreten, um politischen Druck auf die EU in der Flüchtlingsfrage auszuüben, doch womit wir derzeit hauptsächlich ­beschäftigt sind, ist humanitäre Hilfe, die die EU nicht leistet«, fasst der Mitbegründer von »Watch the Med« das Dilemma der Initiative zusammen. In den vergangenen 18 Monaten hat das spendenfinanzierte Netzwerk die Nummer des Notruftelefons im Internet verbreitet, in Europa und Nordafrika Informationsveranstaltungen und Schulungen für Interessierte organisiert, eine eigene Kartierung des Mittelmeers erarbeitet und Kontakte zu Küstenwachen, Rettungsdiensten und Fluchthelfern aufgebaut. Die Aktivisten haben sich mit promigrantischen NGOs, Flüchtlingsgruppen und deren Angehörigen und Freunden in Frankreich, Italien, Tunesien und Marokko getroffen. »Wir sind schon von Gruppen angerufen worden, die in den geheimen Camps in den Wäldern im Norden Marokkos sitzen und wissen wollten, was mit ihren Leuten ist, die über das Mittelmeer Richtung Europa aufgebrochen sind«, berichtet Stierl. »In einem Fall konnten wir die Namen einem gesunkenen Boot zuordnen und mussten dies dann den Wartenden in Marokko mitteilen. Das ist traumatisch für alle Beteiligten und auch für uns schwer zu bewältigen.«
Für Angehörige und Freunde verschollener Flüchtlinge ist jedoch das sichere Wissen über den Tod oft leichter zu bewältigen als die jahrelange Ungewissheit und das ohnmächtige Warten darauf, ob der oder die Vermisste doch noch lebend irgendwo auftaucht. Dennoch haben sich seit 2012 im Zuge der Vorbereitung und Ausrichtung der beiden Weltsozialforen in Tunis Angehörigengruppen aus Marokko, Algerien, Tunesien, dem Senegal, Eritrea, Frankreich, Spanien, Italien und sogar aus Mexiko organisiert, um das lange verschwiegene Thema der Vermissten öffentlich zu machen und zu politisieren. Größere Treffen der Angehörigen, an denen inzwischen auch Juristen teilnehmen, gab es unter anderem im marokkanischen Monastir, in Lampedusa und zuletzt während des diesjährigen Weltsozialforums in Tunis. Auch hier ist »Watch the Med« tätig. Neben der Möglichkeit, die eigene traumatische Geschichte zu erzählen und mit anderen zu teilen, werden auf diesen Treffen Datenbanken der Vermissten und Toten erarbeitet, die den EU-Behörden mit der Forderung nach Klärung des Verbleibs übergeben werden sollen. Geplant ist auch ein internationales Tribunal sozialer Bewegungen, das juristische Schritte gegen die EU beziehungsweise gegen einzelne Mitgliedstaaten ­wegen des Verschwinden- und Sterbenlassens vorbereiten soll.

Doch nicht nur im Mittelmeer verschwinden Flüchtlinge. Insbesondere auch in Libyen verliert sich die Spur ungezählter Transitmigranten. Das nordafrikanische Land, von dem aus derzeit die meisten Flüchtlingsboote nach Europa aufbrechen – Stierl zufolge allein in den vergangenen beiden Wochen mit rund 10 000 Menschen an Bord –, ist für die extreme Brutalisierung des Transits bekannt. Hier organisieren Schlepper, Ordnungskräfte und Warlords das Migrations­geschäft mit unbeschreiblicher Gewalt. Unter anderem halten sie Ausreisewillige teils ohne Versorgung in leerstehenden Fabriken fest und erpressen von den Angehörigen Geld. Auch die libyschen Seehoheitsgebiete seien, wie Stierl meint, eine »Black Box«, in der Schlepper die offenbar knapp werdenden Boote inzwischen mit Waffengewalt gegen italienische Rettungsdienste und Fischer verteidigen, wenn Flüchtlinge von diesen in Sicherheit gebracht wurden.
Hier leistet die EU ebenfalls indirekte »Beihilfe zum Tod Tausender Menschen«, wie es Günter Burkhardt, der Geschäftsführer von Pro Asyl, ausdrückt. Denn bis zum vergangenen Jahr stachen auch zahlreiche Flüchtlingsboote aus dem politisch weniger unübersichtlichen und gewalt­tätigen Nachbarland Tunesien in See. Doch seit die EU im März 2014 eine sogenannte Mobilitätspartnerschaft mit Tunesien abgeschlossen hat, sind es nur noch wenige. Denn seither kann einfacher nach Tunesien abgeschoben werden. Zudem wurden die Grenzkontrollen verschärft und an den Küsten wird engmaschig patrouilliert, um die irreguläre Migration einzudämmen. Hierfür wurde ein neues Gesetz erlassen, das die undokumentierte Ausreise unter Strafe stellt.
Seit Jahren fordern Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl und Amnesty International die Einrichtung eines humanitären Korridors im Mittelmeer. UN-Flüchtlingskommissar António Guterres sagte, erforderlich seien neben verstärkten Rettungsmissionen auch »legale Möglichkeiten, Europa zu erreichen«. »Watch the Med« geht einen Schritt weiter und fordert unter der Parole »Ferries not Frontex« die Einrichtung eines regulären Fährbetriebs für Flüchtlinge in die EU.