»Ausprobiert«, Teil 10: Tischtennis

Das Runde muss aufs Eckige

»Ausprobiert«, eine Serie über Sportarten, die unsere Autorinnen und Autoren als Kinder geliebt oder gehasst haben – oder die sie schon lange im Fernsehen faszinieren. Teil 10: Tischtennis. Damals, in der Kreisklasse Süd.

Ob militärisch-industrieller Komplex oder die Initiative Neue So­ziale Marktwirtschaft, kaum ein Geheimbund hierzulande ist so mächtig und durchtrieben wie das Sportfunktionärswesen. Nicht zufällig gehört der Sport – eine deutsche Absonderlichkeit – zum Verantwortungsbereich des ebenso verschwiegenen wie suspekten Innenministeriums. Ein Sportverband allerdings versteht es besonders subtil und beharrlich, Einfluss zu nehmen auf das öffentliche Leben, und er weist dabei mit Geschick und Raffinesse genau jene Attribute auf, die zu den Tugenden seiner Sportart zählen und diese zur Königin unter den Leibesübungen machen. Es handelt sich um den Deutschen Tischtennis-Bund (DTTB). Ist es nicht erstaunlich, dass nahezu auf jedem Schulhof, in jedem Park und neben jedem Spielplatz mindestens eine Tischtennisplatte zum Freizeitgebrauch bereitsteht? Hat man so etwas jemals anderswo auf dem Erdenrund gesehen? Merken ausländische Besucher und Zuwanderer nicht gelegentlich an, wie kurios sie dieses Faktum der organisierten Zerstreuung empfinden? Ja. Nein. Und: Doch, genau das tun sie. Dahinter steckt die findige Tischtennislobby.
Um dem geneigten Leser die Faszination des Sports nahezubringen, der wie kaum ein anderer zugleich Individual- und Mannschaftssport ist – weder prollig noch elitär, auf den ersten Blick weder sehr athletisch noch schweißtreibend, jedenfalls für eine Riefenstahl-Inszenierung gänzlich ungeeignet; um all dies zu demonstrieren, wende ich mich meiner kurzen, aber umso prägenderen Tischtenniskarriere zu: Sie dauerte etwa fünf Jahre in jener Zeitspanne vom Teenager bis zu meiner Mannwerdung, als ich das elterliche Nest verließ und auszog in die Welt, gründlich vorbereitet auf die Herausforderungen der Existenz durch die Zeit im Sportverein.
Mit 14 hatte ich keine Lust mehr, Fußball zu spielen. Unser Dorf war zu klein, um eine Großfeldmannschaft zu stellen, und in der Spielgemeinschaft mit dem Nachbarort musste man sich von irgendwelchen Leuten (Vätern!) auto­ritär belehren lassen, die man nicht einmal persönlich kannte. Außerdem kann man nicht mit Brille kicken, so dass meine Ballannahme und Spielübersicht schlampiger wurden, während gleichzeitig Aspekte wie Kampfgeist, Dis­ziplin und Ausdauer ab der C-Jugend in den Vordergrund rückten. Wo bleibt denn da das Vergnügen? Dann doch lieber Tischtennis.
Wie jeder vernünftige Fußballclub (TeBe, Werder, S04) verfügte unser Dorfverein auch über eine Tischtennisabteilung. Unter dem Motto »Vier Freunde sollt ihr sein« hatten wir auch sofort eine schlagkräftige Truppe zusammen, bestehend aus Niklas, Raimar, Martin und mir. Auf der alten Holzplatte im ehemaligen Stall hatten wir ohnehin von klein auf gespielt, zuerst noch mit meinem Opa, bis dieser nicht mehr gut genug für uns war. Zudem hatten wir 1992 selbstverständlich gebannt verfolgt, wie Jörg Roßkopf und Speedy Fetzner in Barcelona die Silbermedaille im Doppel errangen. Nun bekamen wir also Trikots und Trainingsanzüge von seltsamen Marken wie Donic, Joola oder Stiga, die der Laie allenfalls für ab­artige Energydrinks hält. Die Jugend-Kreisliga wartete auf uns.
Meine unorthodoxe Technik sorgte schnell für einige Frustration bei den Gegnern, da ich mich mangels erfolgversprechender Varianten auf monotones Schieben mit der Rückhand versteifte, bis meine Widersacher die Geduld verloren und Fehler machten. Mein wallendes langes Haar hatte ich dabei lässig mit einem roten Tribal-Bandana gebändigt, was mich zum ikonischen André Agassi der Kreisliga prädestinierte. Die Frustration machte sich bisweilen ­allerdings auch bei den Gefährten und unserem Coach bemerkbar, da mein Stil für stärkere Spieler doch ein wenig invariabel erschien und der Effet bei all meinem Rumgehacke für ihr Offensivspiel nicht ausreichte. Sprich, ich war eindeutig der Schwachpunkt unserer Mannschaft. Für den Aufstieg in die Bezirksliga reichte es trotzdem, aber es war klar, dass ich als Stammspieler das Team nun zu sehr schwächen würde. Der bezahlte Trainer, der uns fortan technische Kniffe und spielerische Perfektion beizubringen trachtete, ließ mich auch schnell links liegen, zumal mein Trainingsfleiß als durchwachsen zu charakterisieren war. Da kam es gelegen, dass Thorsten beim Training auftauchte; er war zwei Jahre jünger als wir und ungemein talentiert. Vor allem hatte er eine wirklich ekelhafte Spielweise aus Halten und Klatschen, die er schon bald durch einen unberechenbaren Noppenbelag auf der Vorhand noch verstärkte. So jemanden brauchten wir dringend für die höhere Klasse. Und ich wurde fünfter Mann, Ersatz.
Das Problem mit Thorsten war indes: Im Großen und Ganzen war er ein launischer und unzuverlässiger Idiot. Es kam vor, dass er kurzfristig absagte oder einfach nicht zum Spiel erschien, so dass ich in letzter Minute aktiviert werden musste. Anfänglich fiel dies jedoch nicht ins Gewicht und wir wurden völlig überraschend Bezirksmeister. Das Dorf stand Kopf. Was waren wir nur für Teufelskerle: der Martin, der Raimar, der Niklas – und der Thorsten. Und halt ich. Ich hatte doch auch ein paar Punkte geholt und die anderen stets total uneigennützig supportet! Aber auf den Meisterschaftsfotos wirke ich deplatziert wie bei einer photobomb. Diese Ernüchterung lag allerdings nicht am schönen Tischtennissport, sondern schlichtweg an der kalten Natur des Sports und der Menschen selbst: Spot on, wir wollen Sieger seh’n.
Nach der so erfolgreichen Saison mehrten sich Thorstens Allüren. Vielleicht war ihm der Titel zu Kopf gestiegen; wahrscheinlicher ist, dass er wie so mancher Halbstarker seinen Pubertätsjähzorn durch Egoismus und einen Hang zu nach rechts offenem Populismus kompensierte. Kurzum, er war nicht mehr tragbar – und ich kam wieder öfter zum Einsatz. Doch es zeichneten sich Auflösungserscheinungen ab. Es war ohnehin Niklas’ letztes Jahr in der Jugend, so dass unser Team danach getrennt würde.
Wir wechselten gleich alle zu den Herren, die drei anderen in die zweite Mannschaft, ich meinem Leistungsniveau entsprechend in die fünfte: Meine Genossen hießen nun Andi, Horst und Karl-Heinz, den jeder nur Kalli nannte. Horst war gerade als Tischler verrentet worden und legte seine Lebenserfahrung bei uns als Kapitän in die Waagschale, Kalli wiederum war ein Kegelbruder meiner Eltern. Man sieht, Tischtennis vereint die Generationen. Überhaupt handelt es sich um einen Sport, der viele Diskriminierungsarten eindrucksvoll nivelliert: Zwei Jungs aus unserem Jugendteam waren ziemlich dick, in anderen Sportarten hätte der Körperkult sie sicher abgewertet oder gar aussortiert, hinter der Platte konnte ihnen aber niemand etwas vormachen, ähnlich verhielt es sich bei Horst: Fat-shaming? Ageism? Nicht mit uns!
Wir brauchten jetzt auch keinen Coach mehr, wir coachten uns einfach selbst. Und im Unterschied zu einigen anderen Dorfbewohnern, deren Söhne mir bisweilen triviale Verunglimpfungen hinterherriefen – meine Frisur bestand derweil aus wüsten Dreadlocks –, fanden es die Teamgefährten gut, einen Jungspund wie mich mit dabeizuhaben, und sie bedauerten es nachdrücklich, dass ich mich nach den Spielen schon vor dem Biertrinken in der Dorfkneipe verabschiedete. Überhaupt bildete ich mit Kalli ein besseres Doppel, als dies mit Niklas jemals der Fall gewesen war. Er war noch schlaksiger als ich und konnte sogar gut mit der Vorhand schieben, so dass wir Ballwechsel um Ballwechsel umeinander herumtänzelten und unsere Kontrahenten zur Weißglut brachten. So dominierten wir die 3. Kreisklasse Süd geradezu nach Belieben. Doch es war klar: Es ist eine Idylle auf Zeit, spätestens nach dem Zivildienst würde ich verschwinden. Und das tat ich, ohne zurückzublicken.
Angekommen in der Unistadt fragten mich meine neuen Freunde bald, ob ich mit zum Tischtennisspielen kommen wolle, an einer der Platten neben dem Campus. Ich ließ mich nicht lange bitten: Schon streifte ich mein Trikot über, reinigte die Beläge meines Schlägers und wärmte mich auf, bevor ich mich auf den Weg machte. Mein Erstaunen war groß, als die anderen plötzlich in Straßenkleidung dastanden und bereits während des Spiels Bier tranken. Auch mit dem Absprungverhalten des Balles von der Steinplatte zeigte ich mich unzufrieden. Noch wenige aber verstanden diese eigentlich netten Kommilitonen, weshalb ich den Ballwechsel sofort abbrach, sobald ich eine leichte Brise spürte. Es musste ihnen doch auch klar sein, dass Tischtennis kein Outdoor-Sport ist, und wir hier nur übten, um uns dann einem richtigen Verein anzuschließen? Es war ihnen offenbar nicht klar, und vor ­allem kritisierten sie nun mein Auftreten, das ihnen angeblich den Spaß verdarb.
Manchmal radelte ich noch an ihnen vorbei, wenn sie dort im Park Rundlauf spielten. Es schien ihnen tatsächlich Freude zu bereiten, die Strategie des DTTB erwies sich also als Erfolg. In einen Verein trat ich nicht wieder ein, ohne dass ich damals bewusst hätte sagen können, wieso nicht. Aus heutiger Sicht weiß ich: Es wäre halt nicht das Gleiche gewesen, denn mir fehlten Horst und Kalli.