Widerstand ist zwecklos: Die Serie »The Wire» zeichnet ein Bild der Ausweglosigkeit

Wenn der Pessimissmus organisiert würde

Im Zusammenhang mit dem Tod von Freddie Gray und den darauffolgenden Unruhen in Baltimore wird häufig auf die Fernsehserie »The Wire« verwiesen.

Baltimores Polizei verhalte sich wie eine »Besatzungsarmee« und betrachte die Armenviertel als »Jagdgründe«. David Simons Worte fanden reichlich Anklang in der deutschen Presse. Von der FAZ über die Welt bis zur Taz wurde die Meinung des Drehbuchautors der US-Fernsehserie »The Wire« rezipiert, um die Tötung des 25jährigen Schwarzen Freddie Gray durch die Polizei und die mitunter gewalttätigen Unruhen zu erklären.
Seit der ehemalige Polizeireporter Simon mit »The Wire« eine Fernsehserie über den Drogenkrieg in den USA und dessen Auswirkungen auf die schwarze Unterschicht in Baltimore gedreht hat, verfügt er über mediale Deutungshoheit. Denn »The Wire« gilt nicht nur als einer der Ursprünge des heutigen Quality-TV, sondern wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung als ernstzunehmende Gesellschaftsstudie über die USA diskutiert. Ein Grund dafür ist die quasi-dokumentarische und unbeschönigende Darstellung der Institutionen des Postfordismus: Der Blick schweift über eine vorrangig an der Erfüllung von statistischen Quoten orientierten Polizei zu einer im Niedergang befindlichen Gewerkschaft von Hafenarbeitern, erfasst die Machenschaften korrupter politischer Cliquen und am marktwirtschaftlichen Gewinn interessierter Drogengangs und streift ein Bildungssystem ohne Aufstiegsperspektive sowie ein Zeitungswesen, das Berichte über relevante politische Zusammenhänge zugunsten von aufwühlenden Klatschreportagen aufgibt.
Die Stadt und ihre Institutionen seien selbst die Hauptdarsteller der Serie, so die Meinung vieler Kritiker. Doch »The Wire« ist zugleich eine Erzählung über die Niederlage des Einzelnen in seinem Aufbegehren gegen Herrschaftsverhältnisse und damit auch eine Geschichte über die rassistische Polizeigewalt in den USA.
Dabei steht das heroische und autonome Individuum im Zentrum vieler populärkultureller Selbstbeschreibungen der US-amerikanischen Gesellschaft. Mit den frühen Cop-Shows und dem Erfolg des Hollywood-Kinos betrat der Freiheitskämpfer die Bühne, der sich entgegen aller Machtstrukturen und Widerstände für die gerechte Sache einsetzte.
Im Gegensatz zu dieser Narration verweist »The Wire« auf die Unmöglichkeit autonomer Handlungen im gesellschaftlichen Gefüge. Da wäre beispielsweise der Polizist Bunny Colvin, der die Gewalt in seinem Bezirk durch eine ortsbezogene Legalisierung von Drogen unterbinden will. Als sein Experiment »Hamsterdam« an die Öffentlichkeit gerät, wird er trotz sinkender Gewaltdelikte durch die Stadtpolitik, die den Druck der Presse angesichts des bevorstehenden Wahlkampfs fürchtet, frühzeitig in den Ruhestand versetzt. Oder der Drogengangster D’Angelo Barksdale, der nach seiner Inhaftierung aus dem Kreislauf von Gewalt, Gefängnis und Drogen ausbrechen möchte – und deshalb durch Auftragnehmer seines Onkels ermordet wird. Nur einer Serienfigur gelingt es zeitweilig, seine Autonomie zu bewahren: dem homosexuellen schwarzen Straßengangster Omar Little, der bewaffnet durch die Straßen Baltimores zieht und seinen eigenen Privatkrieg mit den Drogengangs begonnen hat. Mit der Absolution durch die Polizei und Staatsanwaltschaft bewegt er sich, ohne Strafverfolgung fürchten zu müssen, auf der Grenze zwischen der legalen Welt und der Straßenkriminalität, weder gebunden an eine staatliche Institution noch an eine kriminelle Gruppierung. Little wird dadurch zu einer politischen Figur, die aus dem ansonsten funktionalen Realismus der Serie herausfällt. Zugleich ist Little von David Simon wie ein letzter Verfechter der Gerechtigkeit gezeichnet, der stets dann lenkend, respektive mordend, in das Geschehen eingreift, wenn die Polizei und das Recht an ihre Grenzen stoßen.
Doch eine entscheidende Frage lässt »The Wire« offen: was tun? Sofern man sich aus guten Gründen der Littleschen Selbstjustiz verweigert, welche Handlungsmöglichkeiten bietet das fiktionale Setting für eine Adaption in realen sozialen Kämpfen? Diese Frage war Gegenstand einer gesellschaftstheoretischen Debatte zwischen dem Literaturtheoretiker Frederic Jameson und dem Philosophen Slavoj Žižek. Jamesons im Jahre 2010 veröffentlichter Essay »Realismus und Utopie in ›The Wire‹« thematisiert die in der Serie dargestellten Handlungen, die utopische Elemente in den intendierten Realismus einfügen würden. Er benennt den Versuch des Gewerkschaftsfunktionärs Frank Sobotka, trotz des offensichtlich unaufhaltsamen ökonomischen Niedergangs des Hafens, kriminelle und geschäftliche Kontakte für dessen Erhalt zu knüpfen – wohl um den Verfall der Arbeiterbewegung wissend, die ohne den Hafen das Zentrum ihrer Organisierung verlieren würde. Auch das Projekt »Hamsterdam« ließe sich als Versuch interpretieren, über den Status quo der Drogen- und Kriminalpolitik hinauszukommen. Indem die Utopie sich nicht in Träumen oder bloßen Wünschen abspiele, sondern Teil des inszenierten menschlichen Handelns sei, verweise die Serie, so Jameson, auf deren potenzielle Verwirklichung.
Deutlich skeptischer tritt Slavoj Žižek der emanzipatorischen Rezeption der Serie entgegen. Für Žižek ist das utopische Moment in »The Wire« viel zu schwach ausgebaut: »›The Wire‹ hat die formale Aufgabe nicht gelöst, wie man in einer TV-Erzählung ein Universum wiedergeben kann, in dem die Abstraktion regiert.« Žižek zufolge hätte »The Wire« mit dem psychologischen Realismus der Serie brechen müssen, um die Spannung zwischen den Ins­titutionen und dem Einzelnen nicht in einem bescheidenen sozialdemokratischen Reformismus aufzulösen. Žižek leitet als politische Handlungsempfehlung aus der Serie einen Verzicht auf Widerstand gegen das System ab. Statt als Individuum gegen die Institutionen anzukämpfen und möglicherweise einzelne Reformen zu erzwingen, die gleichsam das System stabilisieren, müsse man aufhören, kleine Schlachten zu schlagen und stattdessen radikal das Terrain für die große kommende Schlacht vorbereiten. Bei der nebulösen Forderung nach einem radikalen Denken bleibt Žižek dann jedoch stehen.
Die realen sozialen Kämpfe in Baltimore, die auf den Tod Freddie Grays folgten, bilden einen Anknüpfungspunkt, um Jamesons utopisches Projekt menschlicher Praxis mit dem radikalen Pessimismus Žižeks gegenüber politischen Institutionen und Reformen zu vereinen. Die jüngsten Demonstrationen zeigen ein Bild der Stadt, das in »The Wire« nicht darstellbar ist und deshalb von Žižek nicht wahrgenommen wird: entschlossener Widerstand gegen Polizeigewalt und Ausbeutung insbesondere der schwarzen Unterschicht. Der Journalist Dave Zirin hatte in der linksliberalen Zeitung The Nation darauf hingewiesen, dass die erzählerische Perspektive in »The Wire« auf das isolierte Individuum verengt sei und somit insbesondere kollektive Akteure in der Serie unsichtbar blieben. Die jüngsten Proteste haben ihre Existenz der Weltöffentlichkeit bekannt gemacht.
Die Demonstrationszüge wurden von jungen schwarzen Frauen angeführt, die in den Nachbarschaftsinitiativen der Gilmor Homes aktiv sind, den Häuserblocks also, in deren Umfeld Freddie Gray verhaftet wurde. Besonders involviert ist Baltimore United, ein breites Bündnis, das aus Graswurzel-Gruppierungen besteht, die in Nachbarschaftsprojekten, an Schulen oder in der Sozialarbeit empowerment für Schwarze befördern, in der aber auch linksradikale Gruppierungen wie der Baltimore Bloc engagiert sind. Über die USA hinaus bekannt ist Black Lives Matter, eine lose Bewegung, die nach dem Mord an Trayvon Martin durch George Zimmermann über Twitter bekannt wurde und auch in Baltimore einen lokalen Ableger hat. Sie fordert ein Ende der rassistischen Polizeigewalt, eine Rücknahme der stetigen Militarisierung der Polizei und der massenhaften Inhaftierung von Schwarzen in den überfüllten Gefängnissen. Daneben engagieren sich mit der Gewerkschaft United/Here und der Black Lawyers Association etablierte Akteure.
Die Vielzahl der Gruppierungen und Netzwerke deutet auf eine Kollektivität urbaner Proteste hin, die im Gegensatz zu der institutionell produzierten Atomisierung des Individuums steht. Die zahllosen Tode von Schwarzen durch Polizeigewalt haben zu einer starken Vernetzung der lokalen Akteure, auch über ihre Stadtgrenzen hinweg, geführt. Sie haben zugleich eine Debatte über radikale Polizeikritik befördert, die auf die Alltäglichkeit polizeilicher Gewalt hinweist und strukturelle Probleme benennt. Die Baltimore Sun hatte bereits im September 2014, schon vor dem Mord an Freddie Gray, zahlreiche Opfer von Polizeigewalt interviewt. Unter ihnen waren nicht nur junge schwarze Männer, sondern auch alte und schwangere Frauen, kleine Kinder und ein älterer Kirchendekan. Alleine in den Jahren 2011 bis 2014 musste die Stadt Baltimore 5,7 Millionen Dollar Entschädigung für die Opfer von Polizeigewalt zahlen (Jungle World 19/2015).
Wenn man bedenkt, dass die Entschädigungen für schwerste Körperverletzungen knapp unter 100 000 Dollar betrugen, wird das Ausmaß der alltäglichen Polizeigewalt deutlich, wobei in dieser Statistik nur die dokumentierten und zudem rechtlich erfolgreichen Fälle aufgeführt sind. Die jüngsten öffentlich diskutierten Mordfälle an Schwarzen sind überdies kein neues Phänomen, sondern werden erst durch die Nutzung von Smartphone-Kameras öffentlich skandalisiert. Marginale Reformen, wie die Einführung von Body-Cameras für Polizisten, unabhängige Beschwerdestellen oder mehr schwarzes Personal innerhalb der Polizei, werden nicht ausreichen – zumal schwarze Beamte bei dem Mord an Freddie Gray beteiligt waren.
Der Journalist Mychal Denzel Smith sprach sich in einem Artikel in The Nation für eine Abschaffung der Polizei aus. Es bedürfe stattdessen einer vollständigen sozialen, ökonomischen und politischen Gleichheit. Smith resümiert: »Meine ehrliche Antwort ist, dass ich nicht weiß, wie eine Welt ohne Polizei aussehen könnte. Ich weiß nur, dass es weniger tote schwarze Menschen geben würde. Ich weiß, dass eine Welt ohne Polizei eine Welt ohne eine weitere Institution wäre, die für den Fortbestand weißer Herrschaft und Ungleichheit steht. Es wäre eine Welt, über die es sich nachzudenken lohnt.« Sein Kollege José Martin schlug im Rolling Stone einen Sechs-Punkte-Plan zur Abschaffung der Polizei vor, der es sogar bis in das Programm des Fernsehsenders MSNBC schaffte. Darunter die Forderungen nach der Entkrimi­nalisierung der meisten Verbrechen, die Einführung einer versöhnenden Justiz oder direkte Demokratie in den Kommunen.
Beide Artikel sind Beispiele eines breiten öffentlichen Diskurses. Die Proteste in Baltimore sind möglicherweise der Beginn einer wirkmächtigen sozialen Praxis, die auf das Projekt einer polizeifreien Welt hinarbeitet – eine reale Utopie, wie sie Jameson auch in »The Wire« vermutet. Um gleichsam die Warnungen Žižeks gegenüber einer Eingemeindung politischen Protests in den Status quo vorzubeugen und über das aktuelle Setting der gewaltvollen Ins­titutionen hinaus zu gelangen, mag ein Verweis auf Walter Benjamin weiterhelfen: Man muss den Pessimismus organisieren.