Die Politik kann die Geburtenzahlen nicht steigern

Hurra, wir sterben aus

Immer mehr Menschen geht es immer besser. Sie bleiben länger gesund und leben länger. Doch anstatt sich darüber zu freuen, lamentieren Politiker und Publizisten über das Aussterben der Deutschen. Schuld an der Misere seien verantwortungslose und spaßgeile Frauen, die dem Land kein Kind schenken wollen.

Im argumentativen Dreieck zwischen demographischer Entwicklung, Sozialpolitik und weiblicher Emanzipation herrscht seit gut zehn Jahren ein ziemliches Kuddelmuddel. Welchen Einfluss hat die Zahl der geborenen Kinder auf die Sicherheit der Rente und die Produktivität der deutschen Wirtschaft? Was darf die Gesellschaft an Engagement von Frauen erwarten, sowohl im Hinblick auf ihre Bereitschaft, Kinder zu gebären, als auch auf ihre Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt? Was müssen oder können Staat und Unternehmen tun, um die sogenannte »Vereinbarkeit von Beruf und Familie« zu gewährleisten?
Den Anfang der Debatte machte 2003 eine Prognose des Statistischen Bundesamtes, die für das Jahr 2050 vorhersagte, dass die Anzahl der alten Menschen deutlich größer und die der jungen deutliche niedriger sein werde als bisher angenommen und dass die bestehenden Sozialsysteme für diesen Wandel nicht ausgerichtet seien. Es folgte auf dem Fuße der Journalist Frank Schirrmacher mit seinem Bestseller »Das Methusalem-Komplott«, der die Richtung des nun folgenden Diskurses vorgab: Der demographische Wandel, so lernten wir, ist eine Katastrophe, es wird alles ganz, ganz schlimm kommen.
Und wer ist schuld? Der medizinische Fortschritt, der dafür sorgt, dass die Lebenserwartung der Menschen seit Jahrzehnten stetig ansteigt? Nein, schuld sind die Frauen, die nicht ausreichend viele Kinder kriegen, um den Überschuss an Alten am unteren Ende der Skala wieder auszugleichen. »Deutschland hat zu wenige Kinder« ist seither das Mantra, das in den entsprechenden Debatten immer wiederkehrt.

Es scheint fast, als wäre damals ein Damm gebrochen. Im Nachkriegsdeutschland hatten demographische Überlegungen lange Zeit keine Rolle gespielt. Während Länder wie Frankreich oder Schweden schon immer aktiv Bevölkerungspolitik betrieben haben – sich also mit der demographischen Zusammensetzung der Bevölkerung anhand von Merkmalen wie Alter, Geschlecht oder Migrationshintergrund beschäftigten – war das Thema in Deutschland erstmal tabu. Was angesichts der »Rassenpolitik« der Nazis auch durchaus verständlich war. Außerdem waren in den fünfziger Jahren viele mit Bundeskanzler Konrad Adenauer einig: »Kinder kriegen die Leute sowieso.« Kinder sind Privatsache, die Politik muss sich nicht darum kümmern.
Aber dann, Mitte der nuller Jahre, kam plötzlich die Kehrtwende: Hektischer Aktionimus, die Geburtenzahlen fest im Blick. Allerdings – die Geburtenzahlen in den »richtigen« Familien. Nicht die geringqualifizierten Verkäuferinnen oder die migrantischen Familien sollten Kinder kriegen, sondern die gut ausgebildeten deutschen Frauen. Dafür gab es dann sogar eigens eine Erzählung »Akademikerinnen kriegen zu wenige Kinder«, die sich allerdings durch tatsächliche Zahlen nicht stützen ließ. Und was macht man in neoliberalen Zeiten, wenn man Leute zu etwas motivieren will? Man gibt ihnen Geld. Das 2007 eingeführte Elterngeld war im Wesentlichen eine Umverteilung staatlicher Leistungen weg von den armen hin zu den reichen Eltern. Während vorher alle Mütter nach der Geburt eines Kindes monetäre Unterstützung bekamen, werden seither die Gutverdienenden quasi für den Verdienstausfall entschädigt, während die Armen nicht mehr bekommen – Elterngeld wird ihnen von Hartz IV abgezogen.
Auf diese Weise wurde die Welt zwar ein bisschen ungerechter, mehr Geburten kamen aber nicht zustande. Denn, Überraschung: Frauen machen die Entscheidung, ob sie ein Kind haben möchten, normalerweise nicht davon abhängig, wie viel man ihnen dafür bezahlt. Es wird in der Debatte selten darauf hingewiesen, wie wenig Geburtenzahlen mit Sozialpolitik zusammenhängen. Denn vergleichsweise hohe Fertilitätsraten – also Kinder pro Frau – gibt es nicht nur in Skandinavien (wo es sehr hohe sozialpolitische Standards gibt), sondern auch in den USA und Großbritannien, obwohl Mütter dort so gut wie gar keine staatliche Unterstützung bekommen.

Für eine geringere Gesamtkinderzahl sorgt im Übrigen auch das deutlich gestiegene Gebäralter: In einer Gesellschaft, in der Frauen mit 20 Jahren Kinder bekommen, gibt es doppelt so viele Geburten pro Jahr wie in einer Gesellschaft, in der Frauen mit 40 Jahren Kinder bekommen – weil es doppelt so viele Generationen gibt. Doch so oder so ist die Geburtenzahl nicht der entscheidende Faktor der demographischen Entwicklung. Die Unterschiede in der Fertilitätsrate schwanken in den Industrieländern zwischen 1,4 und zwei Kindern pro Frau, was eine kleine Spanne ist, wenn man bedenkt, dass Frauen noch vor 100 Jahren im Schnitt rund fünf Kinder bekamen.

Viel wichtiger für die Entwicklung in Deutschland sind die anderen beiden Faktoren, die neben der Geburtenzahl die demographische Entwicklung ausmachen: Lebenserwartung und Migration. Sich bei Debatten über Bevölkerungspolitik auf die Geburtenzahlen zu kaprizieren ist schlicht und einfach dumm, weil die politischen Gestaltungsmöglichkeiten bei den anderen beiden Faktoren deutlich größer sind. Allerdings waren die Versäumnisse der Politik in den vergangenen Jahrzehnten so groß, dass der Wunsch sogar verständlich ist, alles auf die Geburtenzahlen zu schieben und es so darzustellen, als sei die demographische Entwicklung eine Art Naturkatastrophe, der die Sozialpolitik hilflos ausgeliefert sei.
Dabei würde ein Fokus auf die Lebenserwartung ins Bewusstsein bringen, dass der demographische Wandel Zeichen einer positiven Veränderung ist: Die Leute sterben einfach nicht mehr so früh, weshalb der Altersdurchschnitt der Bevölkerung logischerweise steigt – und die Geburtenrate, also die Zahl der Neugeborenen pro 1 000 Personen der Bevölkerung, zwangläufig sinkt. Denn Frauen über 50 kriegen in aller Regel keine Kinder mehr. Das alles sind doch gute Nachrichten!
Dass die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland stetig ansteigt, weiß man schon lange. Die Menschen leben im Übrigen nicht nur länger, sondern sie bleiben im Schnitt auch länger gesund und fit. Aber was hat die deutsche Sozialpolitik in den achtziger Jahren gemacht? Die Frühverrentung eingeführt. Eine absurde und kurzsichtige Maßnahme. Richtig wäre es gewesen, schon damals damit anzufangen, die Arbeitswelt so umzubauen, dass Menschen unterschiedlicher Altersgruppen sich gut und produktiv in ihr betätigen können. Stattdessen gibt es heute in Deutschland Unternehmen, die sich damit brüsten, nur Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter 50 zu beschäftigen. In vielen Köpfen grassiert noch immer das patriarchale »Senioritätsprinzip«, wonach man im Verlauf einer Berufsbiographie die Karriereleiter stetig nach oben klettern muss, weil ein Abstieg oder Kürzertreten der Ehre widerspricht.
Genauso gravierend waren die Versäumnisse in der Einwanderungspolitik. Jahrzehntelang wurde über Migrantinnen und Migranten so geredet, als wären sie eine Belastung für die deutsche Gesellschaft, obwohl sie in Wirklichkeit dringend gebraucht werden. Vorurteile und Ausgrenzungsmechanismen hatten zur Folge, dass das deutsche Bildungssystem derzeit ausgesprochen ungerecht ist. Die soziale Herkunft entscheidet in einem viel höheren Maß als in anderen europäischen Ländern über schulischen Erfolg und berufliche Chancen. Tausende junger Menschen werden jedes Jahr ohne Abschluss oder Ausbildungsplatz aus der Schulpflicht entlassen.

Auf beiden Gebieten, sowohl bei der Einbeziehung älterer Menschen in den Arbeitsprozess, als auch bei einer qualitativ guten Ausbildung für alle jungen Menschen unabhängig von ihrem Elternhaus, könnten mit relativ geringem Aufwand signifikante Veränderungen erzielt werden. Hier hätte politisches Engagement eine realistische Aussicht auf Erfolg, während der Versuch, durch politische Maßnahmen die Geburtenzahlen zu erhöhen, von vornherein zum Scheitern verurteilt sind.
Das bedeutet natürlich nicht, dass die Bereitstellung einer ordentlichen Infrastruktur für Familien mit Kindern keine genuine Aufgabe der Politik wäre. Sie ist aber eher eine Frage der Gerechtigkeit als der Bevölkerungspolitik. Und wenn Staaten auf diesem Gebiet etwas bewirken wollen, sollten sie gezielt diejenigen Frauen und Männer ins Auge fasst, die sich zwar ein Kind wünschen, diesen Wunsch aber nicht realisieren. Zum Beispiel, weil sie lesbisch oder schwul sind. Oder Singles. Oder schon vier Kinder haben und fürchten, mit einem weiteren als »asozial« angesehen zu werden. Trotz aller Bekenntnisse zum Kind geistert in deutschen Köpfen immer noch die Vorstellung einer idealen Normfamilie aus Vater, Mutter und zwei Kindern herum.
Die demographischen Herausforderungen, vor denen die Gesellschaft zweifellos steht, lässt sich aber nur dann bewältigen, wenn Normen und Normierungen wegfallen: In Bezug auf die Geburtenzahlen die Norm der heterosexuellen Zweikindfamilie, in Bezug auf die Lebenserwartung die Norm des »besten Alters« und in Bezug auf Migrationsbewegungen die Norm der »deutschen Leitkultur«.