Österreich und die »Flüchtlingskrise«

Auf zur Schlepperhatz

Österreich will angesichts toter Flüchtlinge und überbelegter Asylzentren vor allem Schlepper bekämpfen und die Grenz­kontrollen verstärken.

Zuerst war die Rede von etwa 50 Toten, dann wurde zeitweise von 20 gesprochen, später stellte sich heraus, dass es 71 Menschen waren. Am Donnerstag vergangener Woche wurde publik, dass in einem Lastwagen auf der österreichischen Autobahn nahe der ungarischen Grenze die Leichen von Flüchtlingen gefunden wurden, die beim Versuch, die Grenze von Ungarn nach Österreich zu überqueren, erstickt waren. Auf einer Pressekonferenz bekundeten der österreichische Bundeskanzler Werner Fay­mann (SPÖ) und seine für die Westbalkan-Konferenz angereiste deutsche Kollegin Angela Merkel sogleich ihre Betroffenheit und erneuerten ihre Forderung nach einem koordinierten, gesamteuropäischen Vorgehen gegen Schlepper und nach asylpolitischer Zusammenarbeit innerhalb der EU. Ähnlich äußerte sich die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) bei einer Pressekonferenz am selben Tag. Sie erhob das Vorgehen gegen Schlepperbanden zum zentralen Punkt in der Asylfrage und sagte zugleich, dass jenen, die jetzt noch immer Schlepper zu harmlosen Fluchthelfern verniedlichen, nicht mehr zu helfen sei. Noch am Wochenende begann die Polizei an der österreichischen Ostgrenze die Aktion »Scharf gegen Schlepper«. Des Weitern fordert Mikl-Leitner von dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR betriebene Anlaufstellen an den EU-Außengrenzen, wo Asylsuchende schon vor der Einreise in die EU sortiert und anschließend jene mit Aussicht auf einen positiven Bescheid anhand von Quoten auf die EU-Länder aufgeteilt werden sollen.

Seit Wochen scheint es in Österreich kaum ein anderes Thema als die Asylproblematik zu geben. Vor dem Fund der Leichen vergangene Woche konzentrierte sich die Aufmerksamkeit vor allem auf das völlig überfüllte Asylerstaufnahmezentrum im niederösterreichischen Traiskirchen (Jungle World 33/2015). Am 5. August wurde dort ein Aufnahmestopp verhängt. Mikl-Leitner machte für die Zustände im Lager die Bundesländer verantwortlich, die »keine tragfähigen Konzepte auf den Tisch« gelegt hätten, wie sie es in einem Fernsehinterview formulierte. Mitte August legte dann Amnesty International einen Bericht über die menschenrechtliche Situation im Lager vor, der katastrophale Zustände offenbarte: Hygienemängel, unzureichende Lebensmittel- und Gesundheitsversorgung, unbeglei­tete Kinder und Jugendliche ohne ausreichendes Betreuungsverhältnis, Schwangere und Kleinkinder, die auf dem Rasen schlafen müssen – die Liste der Zumutungen ließe sich noch fortführen. Heinz Patzelt, Generalsekretär von Amnesty International Österreich, sprach von einem »selbsterzeugtem Pseudonotstand« und konstatierte ein »weitreichendes strukturelles Versagen« des Staats.
Die unter Druck gesetzte Regierung versucht nun durch eine Verfassungsänderung die Position des Innenministeriums gegenüber den Bundesländern im Bereich der Flüchtlingsunterbringung zu stärken. Im stark föderalistisch organisierten Österreich lag bisher die Hauptverantwortung bei der Versorgung von Asylsuchenden bei den Ländern, während dem Bund lediglich eine koordinierende Funktion zukam. Ende September soll ein »Durchgriffsrecht« beschlossen werden, das dem Bund die Möglichkeit gibt, Flüchtlingsunterkünfte über die Gemeinden hinweg zu installieren und damit die Länder zu zwingen, ihre Quoten zu erfüllen. Bundeskanzler Faymann spricht von einem »schweren Eingriff« in die Verfassung, sagt jedoch, dass man mit diesem Gesetz ein wichtiges Instrument schaffen würde, das auch präventiv Zustände wie jene in Trais­kirchen verhindern könne.

Der Notstand in Traiskirchen schadet den Umfragewerten der Regierungsparteien, der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) und der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), was angesichts der anstehenden Landtagswahlen in Oberösterreich und Wien für sie ungünstig ist. Deshalb sehen sie sich nun gezwungen, mit einer Verfassungsänderung Kompetenz und Entscheidungsstärke zu signalisieren. Dabei haben sie die Unterstützung der Grünen, der liberalen Partei Neos sowie von Teilen des Team Stronach. Lediglich die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) unter Heinz-Christian Strache stellt sich gegen die Verfassungsänderung und will eine Volksabstimmung über diese beantragen. Strache sprach davon, dass kein Durchgriffsrecht des Bundes, sondern ein »Aufgriffsrecht gegenüber Schleppern« nötig sei und man nicht über die Bundesländer »drüberfahren« dürfe. Diese Ablehnung hat System. Die FPÖ profitiert von den Zuständen in Traiskirchen, da sie die Propaganda von der angeblich nicht zu bewältigenden »Asylflut« perfekt illustrieren. Zwar gibt es in der Bevölkerung viel Betroffenheit und zivilgesellschaftliche Hilfsinitiativen für die Flüchtenden, doch gleichzeitig steigen in den Wahlumfragen die Werte der rechtsextremen FPÖ immer weiter an. Den jüngsten Meinungsumfragen zur Nationalratswahl zufolge liegt sie mit fast 30 Prozent der Stimmen auf dem ersten Platz.
Anstatt dem Siegeszug der FPÖ argumentativ und praktisch etwas entgegenzusetzen, reagieren die Regierungsparteien damit, eine Forderung der FPÖ nach der anderen zu erfüllen. Jetzt, wo sich durch die Schreckensnachricht von den Toten auf der österreichischen Autobahn die Debatte wieder in Richtung Schlepperei und Grenz­sicherung bewegt, was der Regierung ganz gelegen kommen dürfte, wird ein entschiedenes Vorgehen gegen Schlepper durch verstärkte Grenzkontrollen zur Maxime. Die FPÖ forderte bereits vor Monaten Kontrollen an der ungarischen Grenze und nutzt nun die Gelegenheit, die Debatte noch weiter nach rechts zu drücken. Strache plädierte in der Montagsausgabe der Oberösterreichischen Nachrichten für die Errichtung eines Grenzzauns zu Ungarn, wie es das Nachbarland bereits an seiner Grenze zu Serbien vormacht, und dürfte damit bei vielen in der österreichischen Bevölkerung Zustimmung ernten. Dass die rassistische Stimmung in Österreich, anders als in Deutschland, bisher nicht zu Gewalttaten geführt hat, liegt zuvorderst daran, dass sich der poten­tielle Mob parlamentarisch durch die FPÖ sehr gut repräsentiert fühlt und daher die Dinge vorerst nicht in die eigene Hand nimmt.

Die Intention der vom Innenministerium aus­gerufenen Aktion »Scharf gegen Schlepper« sowie des Drängens auf Auffang-/Anlaufstellen an den EU-Außengrenzen ist relativ eindeutig. Nicht dass Flüchtlinge sterben, sondern dass sie vor der Haustür sterben ist das Problem, für das die Regierung jene verantwortlich macht, die aus der vorhandenen Nachfrage nach Fluchthilfe ein gewinnorientiertes Geschäftsmodell entwickelt haben. Die Opfer der europäischen Abschottungspolitik werden zum Argument umfunktioniert, die Abschottung noch zu verstärken und die Verantwortung weiter von sich zu schieben. Die toten Flüchtlinge an der Grenze zu Ungarn bieten die Möglichkeit, dies als praktischen Humanismus zu verkaufen. Als wäre das Problem, das der österreichische Staat mit dem Schlepperwesen hat, das Leid der Flüchtenden und nicht, dass die geleistete Fluchthilfe in vielen Fällen erfolgreich ist und er sich dann um die unerwünschten Menschen kümmern muss. Wie ungern der österreichische Staat dieser Aufgabe nachkommt, lässt sich in Traiskirchen nach wie vor beobachten, wo trotz einer leichten Entspannung der Lage noch immer rund 3 400 Asylbewerber im für lediglich 1 800 Menschen ausgelegten Lager auf engstem Raum untergebracht sind. Wie schnell Österreich seine Grenzen öffnen kann, wenn es darum geht, Flüchtende lediglich durchzuwinken, zeigte sich jüngst. Nachdem die ungarischen Behörden sich am Montag kurzzeitig vom Budapester Bahnhof zurückgezogen hatten, konnten Hunderte Flüchtlinge in Züge nach Österreich steigen, von wo aus sie weiter nach Deutschland reisen wollten. Laut einem Polizeisprecher können österreichische Bahnhöfe lediglich stichprobenartig kontrolliert werden. Der Großteil der Flüchtenden konnte somit ungehindert nach Deutschland weiterreisen.