Die Debatte über die neue Asylpolitik

Unter Deutschen

Die kontinuierliche Linie der deutschen Außenpolitik verbindet wirtschaftliche ­Interessen, nationales Gespür und sozialdemokratischen Geist. Im Bezug auf die Flüchtlingspolitik verheißt das den Ausbau deutscher Hegemonie in Europa.

Der Politiker muss nach nationaler Souveränität, nach Vermehrung des Reichtums seines Staates (auch und gerade auf Kosten anderer) streben – sonst hat er seinen Beruf verfehlt, schrieb vor kurzem Manfred Dahlmann in der Jungle World (30/2015). Welche besonderen Möglichkeiten dazu eine Währungsunion bietet, führen die deutschen Politiker im Zusammenhang mit der Krise des griechischen Staats vor. Deutschland vermag zwar nicht einen europäischen Souverän zu stellen und über ganz Europa zu herrschen, es baut aber stattdessen seine hegemoniale Stellung in der Reihe der europäischen Staaten aus.
Zur nationalen Souveränität und zur Vermehrung des Reichtums gehört die Flüchtlingspolitik. Wäre der Staat der »ideelle Gesamtkapitalist«, wie Friedrich Engels meinte, sähe diese Politik anders aus: die Staaten würden miteinander ­darum konkurrieren, möglichst viele Arbeitskräfte, teure und billige, ins Land zu holen, um die Löhne zu drücken. Der Souverän ist darum besser als die politisch reelle Seite des Gesamtkapitals zu bezeichnen – reell darin, dass er als organisierte Zwangsgewalt an ein bestimmtes Territorium gebunden ist und so nur im zumindest potentiellen Kriegszustand mit anderen Staaten überhaupt existiert. Das heißt: Er beruht auf Ausgrenzung. Die Schwierigkeit, der seine Repräsentanten sich gegenübersehen, ist deshalb stets, kraft einer Art nationalen Gespürs den Punkt zu finden, an dem sich ideeller Gesamtkapitalist und ideeller Gesamtproletarier die Hand reichen können wie Fredersen und Grot in Fritz Langs »Metropolis«, oder genauer gesagt: an dem die wichtigsten Fraktionen der Gesellschaft, die vielfältigen Eigentümer und Vermittler von Produk­tionsmitteln und Arbeitskraft, in der Frage übereinstimmen, wie groß denn die industrielle Reservearmee in einem Land jeweils sein soll. Wer also, mit Carl Schmitt gesprochen, sich mit dem Staatsvolk identifizieren darf und wer nicht – einmal abgesehen davon, dass die zwischen den Nationen durchaus differierende Art und Weise dieser Identifikation selbst identitätsstiftend ist.
Nun gibt es zwar innerhalb der EU eine Währungsunion, die Deutschland zum Profiteur der Finanzkrise macht, doch eine Union zu geregelter Einwanderung und Asylpolitik, die Deutschland aus der »Flüchtlingskrise« heraushält, auch und gerade auf Kosten der anderen Staaten, scheint nicht möglich. Denn die Deutschen (­einschließlich ihrer Vasallen, beispielweise der Österreicher) haben zwar ziemlich verlässliche Mittel, den Export zu finanzieren und damit die Arbeitslosigkeit im eigenen Land gering zu halten zuungunsten der südlichen Länder, nämlich den Euro und die EZB, aber es gibt kein probates Mittel dagegen, dass die Flüchtlinge, die gerade auch in diesen Ländern ankommen, nach Deutschland weiterreisen, um dort am Reichtum mehr zu partizipieren und die industrielle Reservearmee stärker zu vergrößern, als es ­jenem nationalen Konsens entspricht.

So kommt die Schwungmasse des deutschen Souveräns wieder in größere Bewegung und der Mob marschiert auf gegen die Flüchtlinge wie in den frühen neunziger Jahren. Doch die europäische Integration, das heißt: Desintegration ist ­inzwischen fortgeschritten: Der Mob bleibt derselbe, die Politik stellt sich um. Dies lässt sich an dem »europäischen Asyl-Kodex« ablesen, den Frank-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel in ihrem jüngst veröffentlichten Zehn-Punkte-Plan fordern: Da so viele Flüchtlinge wie nie zuvor »Schutz bei uns in Europa« suchen, brauche es eine neue, viel »ehrgeizigere Integration der eu­ropäischen Asylpolitik«. Und damit kommen die beiden SPD-Politiker auch schon auf den zentralen ihrer zehn Punkte zu sprechen: »eine faire Verteilung von Flüchtlingen in Europa«. Man kann an Gabriel und Steinmeier studieren, wie feinfühlig es sich bei uns in Europa mit dem gröbsten Mob drohen lässt – die Attacken auf Flüchtlingsheime müssen gar nicht zur Sprache kommen, im Gegenteil: »Wie nie zuvor engagieren sich Bürgerinnen und Bürger in unserem Land bei der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen. Diese Solidarität wird langfristig aber nur Bestand haben, wenn alle sehen, dass es in Europa gerecht zugeht. Eine Lage, in der – wie heute – nur einige wenige Mitgliedstaaten die ganze Verantwortung tragen, ist genauso wenig tragbar wie ein System, das Lasten einseitig auf die Länder verteilt, die zufällig die Außengrenze der EU bilden.« Noch untragbarer ist für den deutschen Politiker, dass »Lasten« einseitig auf die Länder verteilt werden, die zufällig die mächtigsten und reichsten sind. »Wir brauchen verbindliche und objektiv nachvollziehbare Kriterien für die Aufnahmequoten aller Mitgliedsstaaten entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit.« Doch die Richtung der Flüchtlingsströme ist objektiv genug, was die Leistungsfähigkeit der Mitgliedsstaaten betrifft: sie weist stets dorthin in Europa, wo eben der Reichtum konzentriert wird und sozialstaatlich noch am besten verteilt ist. Die Berufung auf die schwierige geographische Lage Italiens und Griechenlands an der »Flüchtlingsfront« ist nur ein Vorwand, um politisch dagegen etwas zu unternehmen, dass über 40 Prozent der Flüchtlinge nach Deutschland kommen – ähnlich wie in den Verhandlungen mit Griechenland über die Hilfspakete der Hinweis auf die Armut großer Teile der Bevölkerung etwa der Slowakei dazu diente, griechische Ansprüche zurückzuweisen.
Aber womit kann Deutschland hier Druck ausüben auf andere EU-Länder? Das ist das eigent­liche Problem für den deutschen Politiker bei uns in Europa. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) hat sich bereits von Pegida und Jürgen Elsässer inspirieren lassen und droht mit Schließung der Grenzen: »Kontrollfreie Grenzen könnten ohne eine wirkliche europäische Asylpolitik keinen Bestand haben.«

Neben der Umverteilung der Flüchtlinge geht es vor allem auch um ihre »Rückübernahme« in den Herkunftsländern, die nicht als »Verfolgerstaaten« gelten. Hier nun zeigt sich die Bedeutung, der Beitrittskandidaten: Die Deutschen in Europa brauchen solche Kandidaten stets, um ein verbindliches Kriterium zu haben, welche Flüchtlinge nicht als Asylsuchende einzustufen sind, und um es allen anderen EU-Staaten zu oktroyieren. Was aber, wenn die Herkunftsländer nicht bereit sind, die Flüchtlinge zurückzunehmen? Wie lässt sich eine derartige »Rücknahmepflicht« außerhalb der EU diktieren, abgesehen davon, dass der Beitritt in Frage gestellt wird? »Dafür müssen wir die Rückübernahme zu einem zentralen Anliegen in unseren Beziehungen mit den Herkunftsstaaten machen und auch dazu bereit sein, technische und finanzielle Unterstützung für diese Staaten von einer konstruk­tiven Zusammenarbeit abhängig zu machen. Bestehende Anreize wie Visaerleichterungen könnten ausgebaut werden«, heißt es im Zehn-Punkte-Plan. Die spezielle Lage der Roma in Südosteuropa wird im »europäischen Asyl-Kodex« naturgemäß nicht zur Sprache gebracht. Über die Staaten jedoch, die (noch) nicht EU-Beitrittskandidaten sind, hatte auch schon de Maizière nachgedacht. Damit Länder wie Tunesien, Marokko oder Senegal, in denen keine Verfolgung herrsche, ihre Landsleute auch zurücknähmen, müsse die Bereitschaft mit anderen »Politikfeldern, etwa mit Entwicklungshilfe«, verknüpft werden. Dies bedeute dann: »Hilfe nur bei Rückübernahme.«
Das typisch Linke an den Vorschlägen von Gabriel und Steinmeier ist jedoch die eminente Heuchelei: nicht nur, dass man von »europäischem Menschenbild« spricht, wenn es in Wahrheit um die Umverteilung und Rückübernahme der Flüchtlinge geht und wenn etwa Österreichs Außenminister Sebastian Kurz ein Blitzverfahren zur Abschiebung fordert, sondern vor allem, dass über die zentrale ideologische Frage der Flüchtlingspolitik kein Wort gesprochen wird. Denn wie die Desintegration Europas fortgeschritten ist, so auch die der Flüchtlinge. Die Ursache der Flucht reist vielfach mit, und unter den Asylsuchenden brauchen besonders diejenigen Asyl, die aus religiösen oder politischen Gründen von anderen Flüchtlingen bedroht und verfolgt werden. Es gibt eine unbekannte Zahl islamischer Eiferer und veritabler Jihadisten unter ihnen, und dem Mob, der alle von außen bedroht, tritt ein Mob zur Seite, der in den Flüchtlingsunterkünften selbst sein Unwesen treibt.

Im Erstaufnahmeheim in Suhl hatte bekanntlich ein Flüchtling aus Afghanistan in mutiger Weise Religionskritik praktiziert und Seiten aus dem Koran herausgerissen. Er wäre beinahe zum Opfer einer jihadistischen Lynchjustiz geworden. Gäbe es noch einen Sinn für das »Minimum an Freiheit« (Franz Neumann), wie es ein Souverän westlichen Typs gewähren kann – ohnehin immer nur für die begrenzte Anzahl derer, die in einem bestimmten Staat jeweils eine Chance auf Asyl und Einwanderung erhalten –, der Religionskritiker wäre nicht erst in letzter Sekunde gerettet worden und der Vorfall hätte hinterher nicht als »Massenschlägerei« abgetan werden können. Gegen solche Barbarei bereits in den Asylunterkünften mit den zur Verfügung stehenden Mitteln vorzugehen, die organisatorischen Bedingungen des Asylverfahrens darauf auszurichten, dass die von ihr unmittelbar Bedrohten geschützt werden können, wäre zugleich Voraussetzung und erste Maßnahme zur Reeducation in Sachen bürgerliche Gleichheit.
Aber was projektiert ein deutscher Politiker wie der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke), der unmittelbar mit der Lage in Suhl konfrontiert scheinbar nicht so gut heucheln kann wie Gabriel und Steinmeier? Er setzt Religion mit Ethnie gleich und schlägt nach diesem Kriterium eine Trennung der Flüchtlinge vor – wer innerhalb derselben Ethnie von deren eigenen religiösen Tugendwächtern terrorisiert wird, hat Pech gehabt. Dabei fügt Ramelow entschuldigend hinzu: »Sie sind alle Opfer.« Im konkreten Fall muss er aber doch bekennen, was bei den Deutschen in Europa als die eigentliche schuldhafte Tat zu gelten habe: Er toleriere nämlich überhaupt nicht, »dass man einen Koran zerreißt und in eine Toilette schmeißt«.