Politik und Fußball in Argentinien

Der Apache schlägt zurück

Kaum nach Buenos Aires zurückgekehrt, hat Carlos Tévez eine Debatte über die Armut in Argentinien angestoßen. Die Reaktionen waren heftig, denn mit Fußball wird Politik gemacht.

Wenn Fußballspieler Interviews geben, dann äußern sie sich zumeist in Allgemeinplätzen, die wenig später schon wieder vergessen sind. Oder sie treten mit unbedachten oder einfach nur ignoranten Äußerungen ins sprichwörtliche Fettnäpfchen, so wie der frühere deutsche Nationalspieler Berti Vogts, der nach einem Testspiel im damals von einer Militärjunta diktatorisch regierten Argentinien ein Jahr vor der Fußball-WM 1978 an selbiger Stätte angesichts der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen im Land erklärte: »Wenn wir als Mannschaft ein Leben hätten retten können, hätten wir es getan. Aber wir waren nicht in der Lage dazu, wir wussten es nicht.«
Alles andere als ignorant dagegen waren die Äußerungen des argentinischen Nationalspielers Carlos Tévez, der bei vielen seiner Landsleute sogar noch beliebter als Lionel Messi ist, in einem Fernsehinterview nach einem Pokalspiel mit seinem neuen alten Verein Boca Juniors in Formosa, im Norden Argentiniens. Tévez entfachte eine polemische Debatte über die Armut im Land. »Die Ungleichheit ist immer noch sehr groß. Vor zehn Tagen haben wir in Formosa gespielt. Und die Armut, die es in Formosa gibt, ist gewaltig. Plötzlich kommen wir an eine Mauer und sind in einem Fünf-Sterne-Hotel. Las Vegas! Las Vegas mit Casino und allem drum und dran. Und außerhalb dieser Mauer sind die Leute vor Hunger fast gestorben«, sagte der Fußballer vor Millionen von Fernsehzuschauern und legte damit den Finger in eine Wunde, die es dem offiziellen Regierungsdiskurs zufolge so gar nicht gibt.
Die Regierung von Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner hat die Sozialpolitik zu einem ihrer Markenzeichen gemacht. Nach Angaben der Regierung liegt die Armutsquote im Land bei fünf Prozent – und wäre damit niedriger als beispielsweise in Deutschland. Seriöse Studien sprechen dagegen von 20 bis 25 Prozent. Auch dies wären – verglichen mit den 54 Prozent beim Ausbruch des Aufstandes 2001, in dessen Folge die Kirchners an die Macht kamen – keine schlechten Zahlen. Nur ist die Armut eben keinesfalls verschwunden und für jeden, der sie sehen will, auch sichtbar. Wie für Carlos Tévez. Er gehöre zu denen, die, wie er sagt, »viel schauen«. Sein yo soy de mirar mucho ist bereits zum geflügelten Wort in Argentinien geworden.
Die Reaktionen auf Tévez’ Äußerungen ließen denn auch nicht lange auf sich warten und fielen blumig aus. Der seit 1995 in Formosa regierende Gouverneur Gildo Insfrán, der sich selbst als Fan der Boca Juniors bezeichnete und Tévez sein Idol nennt, beschuldigte den Fußballer, aus politischen Motiven zu handeln. Tévez’ Äußerungen folgten einem »Drehbuch«.
Um einiges heftiger echauffierte sich ein gewisser Jorge Manuel Santander, früher Funktionär und heute Berater der Provinzregierung von Formosa. Er bezeichnete Tévez auf Facebook als »europäisierten Kleinbürger« und »Hurensohn« und brachte es damit zu überregionaler Bekanntheit. Die mit der Regierung im Clinch liegende Tageszeitung Clarín, ansonsten nicht gerade auf der Seite sozial Benachteiligter, bemerkte süffisant: Gut, dass Santander früher auch Kulturbeauftragter der Provinz gewesen sei – wie hätte sich ein weniger kultivierter Mensch ausgedrückt? Aber das war noch nicht alles von Santander: »Wie viel hat Macri dir gezahlt, vergammeltes Stück Scheiße?«
Mauricio Macri, ehemaliger Präsident von Boca Juniors und Freund von Tévez, gilt als Widersacher von Präsidentin Fernández de Kirchner und als einer der aussichtsreichsten Kandidaten für ihre Nachfolge. Am 25. Oktober stehen Präsidentschaftswahlen in Argentinien an; die Parteigänger der Regierung werfen Tévez deshalb politische Beweggründe vor.
Ganz abwegig scheint dieser Vorwurf nicht. Fußball und Politik sind in Argentinien von jeher eng verwoben. Im August 2009 kündigte der wegen verschuldeter Clubs in Schwierigkeiten geratene argentinische Fußballverband AFA den Vertrag mit dem privaten Medienkonzern Clarín über die Übertragung der Erstligaspiele und verkaufte die Rechte an die Kirchner-Regierung. Seitdem sind alle Partien im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu sehen; kontrolliert aber wird das Programm »Fußball für alle« (Fútbol para todos) von der kirchneristischen Jugendorganisation La Cámpora, der Máximo Kirchner, der Sohn der Präsidentin, vorsteht. In den Halbzeitpausen werden fast ausschließlich von der Regierung bereitgestellte Werbespots gezeigt – und das einem Millionenpublikum. Um die Unterstützerbasis noch zu erweitern, stockte der Fußballverband mit einer umstrittenen Ligareform die Zahl der Erstligavereine für diese Spielzeit von 20 auf 30 Mannschaften auf.
Der Präsidentschaftskandidat des Regierungslagers, Daniel Scioli, Gouverneur der Provinz Buenos Aires und ebenfalls ein Freund von Tévez, versuchte der Debatte etwas Feuer zu nehmen. Er lobte die Arbeit von Gouverneur Insfrán. Es habe in den vergangenen Jahren viele Fortschritte in Formosa gegeben; Ungleichheiten seien in Argentinien weitverbreitet. »Natürlich gibt es Sachen zu verbessern«, so Scioli, »aber die gibt es auch in Buenos Aires. Oder gibt es in der Stadt keine Fünf-Sterne-Hotels und gleichzeitig überall Elendsviertel?«
Aber die Worte eines Carlos Tévez haben eben ein anderes mediales Gewicht. Der populäre Fußballer hatte im Sommer trotz lukrativerer Angebote europäischer Clubs bei seinem Heimatverein Boca Juniors einen Vertrag unterschrieben. »Ich bin wegen meiner Familie zurückgekehrt, wegen meiner Söhne, wegen meiner Freunde. Auf dem Spielfeld zu stehen und jeden Sonntag meinen Vater auf der Tribüne zu sehen, ist unbezahlbar, das tausche ich gegen nichts ein«, sagte er.
Aufgewachsen in der Armut von Fuerte Apache, einem Elendsviertel am Rande von Buenos Aires – daher sein Spitzname »der Apache« –, schaffte Tévez dank des Fußballs den sozialen Aufstieg. Ohne den Fußball wäre er wohl kriminell geworden wie zwei seiner Brüder und heute »tot oder im Gefängnis«, wie er einmal sagte. Stattdessen ist Tévez nun Multimillionär. Aber ein-, zweimal in der Woche kehrt er nach Fuerte Apache zurück, um mit Freunden aus Jugendtagen zu grillen und Bier zu trinken. »Es sind sechs Freunde fürs Leben, die Hälfte hat keinen Job, aber sie lassen mich nie etwas zahlen. Das bringt mich auf den Boden zurück«, erklärte Tévez.
Diese Verbundenheit ist wohl auch eine Erklärung für die ungeheure Popularität von Tévez in Argentinien, wo er »Spieler des Volkes« (el jugador del pueblo) genannt wird, aber auch bei allen seinen bisherigen Profistationen. Ob bei Corinthians in Brasilien – da gibt es nicht viele Argentinier, die gefeiert werden – oder in England – auch da hat man es als Argentinier nicht leicht, Stichwort Falkland-Krieg – bei West Ham, Manchester United und Manchester City und zuletzt in Italien bei Juventus Turin: Überall war Tévez Publikumsliebling.
Bei seiner offiziellen Vorstellung anlässlich seiner Rückkehr zu den Boca Juniors im Juli platzte das Stadion »La Bombonera« aus allen Nähten. Selbst Diego Maradona, eine andere Clublegende, machte seine Aufwartung. Vor allem aber war der Eintritt umsonst – und viele Jugendliche und Familien, die sich sonst den Eintritt zu Ligaspielen nicht leisten können, bevölkerten an jenem Tag die Tribünen. Nur einige alteingesessene Clubmitglieder schimpften auf Boca-Präsident Daniel Angelici (auch er, wie kann es anders sein, ein Tévez-Freund), da sie ihre angestammten Plätze besetzt fanden. Angelici, der in diesem Jahr Präsidentschaftswahlen im Club entgegenblickt, aber war es egal. Rund ums Stadion waren überall Plakate zu sehen: »Danke, Daniel, für die Rückkehr von Carlitos«. Alles, was Carlos Tévez in Argentinien sagt oder tut, hat sogleich auch eine wie auch immer geartete politische Färbung.
Im selben Interview, dem die Polemik um Formosa entsprang, beklagte Tévez übrigens auch dies: »Ich will beispielsweise ein Krankenhaus besuchen und bitte die Leitung um Sicherheitsbeamte, aber die denken nur daran, Fotos mit mir zu schießen. Was wollt ihr, Politik mit mir machen?« Und dann prägte er einen weiteren dieser Sätze, die hängenbleiben: »Ich komme nicht, um Politik zu machen; ich mache es von Herzen.«