Die türkische Linke ist verunsichert

Hoffnung, Wut und Resignation

Die außerparlamentarischen Linken in der Türkei sind verunsichert. Die derzei­tigen Unruhen halten viele nicht davon ab, für die HDP zu stimmen, andere flüchten lieber aufs Land.

Nach den Wahlen im Juni hegte die linksorientierte Wählerschaft der Türkei neue Hoffnungen. Die Stimmung vieler Kurdinnen und Kurden, Studierender, Künstlerinnen und Künstler, Umweltschützern, Feministinnen und Linken hat sich angesichts der jüngsten Anschläge gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP) allerdings wieder getrübt. Sie werfen der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vor, dass diese nicht genügend für die Sicherheit der Menschen getan habe. Die Unruhen werden als Inszenierung interpretiert, die Angst vor dem Chaos solle Präsident Recep Tayyip Erdoğan helfen, seine Präsidentschaft neu zu legitimieren.
Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Erdoğans Truppen und Kurden haben sich aus der südöstlichen Region um Diyarbakır Richtung Nordwesten verlagert. Dadurch wird der Konflikt auch in den Metropolen spürbar, wo sich die AKP in den letzten Jahren wenige Freunde gemacht hat. Die Folgen der von Erdoğan vorangetriebenen Gentrifizierung haben die Linken Istanbuls nahezu in alle Winde verstreut. Şafak Velioğlu war vor einem Jahr noch Besitzer des kulturellen Zentrums und Cafés »kooperatif«, einem Treffpunkt für Künstlerinnen, Leute aus der LGBT-Community, Migrantinnen und Migranten. Das zentral gelegene »kooperatif« musste, wie viele kleinere soziale Organisationen und grüne Initiativen, seinen Standort verlassen. Außerhalb des Zentrums, in den konservativ dominierten Vierteln, sind die progressive Projekte isoliert. Vor ein paar Wochen hat sich Şafak auf den Weg gemacht, um eine Ökokommune auf dem Land zu gründen. Viele in seinem Umfeld entschieden sich für diesen Schritt, meint er, weil sie dort wenigstens selbst bestimmen können, wie und mit wem sie leben.
Auch die Zensur der Medien, so Gülşah Keleş, verschärfe sich in der Türkei immer mehr. Die Journalistin der armenischen Zeitung Agos erfährt täglich, wie kritische Aussagen über Regierungsvertreter gekürzt werden. Die manipulative Wirkung der regierungstreuen Medien sei jedoch längst abgeschwächt, so Gülşah. Die sozialen Netzwerke könne Erdoğan nicht vollends kontrollieren und viele Menschen misstrauten der medialen Darstellung politischer Inhalte mittlerweile.

Şafak glaubt nicht an einen Regierungswechsel. Viele Menschen in seinem Umfeld seien verwirrt, die Vorhaben Erdoğans seien unklar, berichtet der 36jährige. In den letzten 15 Jahren seien die Wähler ihren jeweiligen Favoriten stets treu geblieben: »Wählen gehen ist in der Türkei wie einem Fußballteam zuzujubeln. Es handelt sich um einen identitätsstiftenden Akt. Haben wir uns für ein Team entschieden, dann bleiben wir dabei.«
Auch Şafak wird im November wieder die HDP wählen. Er meint, dass es dann erneut zu Unruhen kommen werde. Gülşah ist optimistischer. Sie glaubt, dass Erdoğans Regierungspartei Erdoğans ihr eigenes Ende herbeiführt und einen Nährboden für offensive Kritik schafft. Das Vertrauen in die AKP werde immer mehr sinken und alternative Politikkonzepte wie das der HDP bekämen mehr Zulauf, glaubt sie. Themen wie Geschlechtergerechtigkeit und die Akzeptanz ethnischer Vielfalt werden auch in der Türkei wichtiger. Gülşah lobt die Frauenpolitik der HDP. In allen anderen Parteien verfassten Männer Gesetze, die für Frauen gelten. Nur die HDP weise eine gute Frauenquote auf, meint sie. Doch die kurdische Journalistin ist auch der Ansicht, dass die Partei immer noch einiges übersieht. Deren Covorsitzender Selahattin Demirtaş, der für einen Zusammenschluss aller Kurden im Kampf für die Liberalisierung der Türkei plädiert, blende all jene marginalisierten Bevölkerungsgruppen aus, die seit Jahrhunderten in der Türkei lebten oder neu hinzu gekommen seien. Armenier, Griechen und viele andere haben ähnlich wie die Kurden mit Repression zu kämpfen. Ihre Interessen, fordert Gülşah, sollten im Parlament besser vertreten werden.