Zwischen Mexiko und den USA liegt die militarisierteste Grenze der Welt

Jenseits des Tortillavorhangs

Ciudad Juárez und El Paso trennt die hochmilitarisierte Grenze zwischen Mexiko und den USA. Die beiden Städte, die unterschiedlicher nicht sein könnten, verbindet jedoch eine gemeinsame Geschichte und ein gemeinsamer Alltag. Für viele Menschen aus Mexiko und Mittelamerika stellt die Wirtschaftsmetropole Ciudad Juárez ein Tor in die USA dar. Täglich passieren Waren, Geld, Drogen, Waffen, US-amerikanische Staatsbürger und auch die Auftragsmörder der Drogenkartelle die Grenze weitgehend unkontrolliert. Für diejenigen Bewohner von Ciudad Juárez, die ein US-Visum besitzen und die Familie in den USA haben, stehen einer Fahrt nach El Paso lediglich die Wartezeiten auf den Grenzbrücken im Wege.

Es gibt sie wirklich. Und an diesem Abend, als wir auf dem Weg von El Paso zurück nach Ciudad Juárez waren, wurden sie sichtbar. Es waren fünf schwarzgekleidete Gestalten, die aus dem betoneingefassten Kanal des Río Bravo kamen und geduckt in Richtung Ufer, Richtung USA liefen. Vom höchsten Punkt der Grenzbrücke kann man durch den Maschendraht auf die Hügellandschaft rund um El Paso blicken. Dorthin, wo ein Stern aus Lichtern von den Felsen her nach Mexiko her­überleuchtet. Dutzende von Menschen versuchen täglich hier, im urbanen Ballungsgebiet, oder aber weiter draußen, in der Wüste, die angeblich militarisierteste Grenze der Welt zu überqueren. Klandestin und auf der Suche nach einem besseren Leben, dem nie verblassenden American Dream folgend. Dort, wo die fünf Menschen wohl durch ein Loch im ersten Grenzzaun schlüpften, waren sie nur wenige Meter von einem der weiß-olivfarbenen Jeeps der U.S. Border Patrol entfernt. Doch Fahrer und Beifahrer saßen mit dem Rücken zu ihnen und sahen sie nicht.
»Der Zaun dient nur dazu, diese Leute zu verlangsamen; stoppen kann er sie nicht«, gibt U.S. Border Patrol Officer George Gómez freimütig zu, als wir am Tag darauf auf die andere Seite der Grenze zurückkehren, um das Border Patrol Museum zu besuchen. In einer Zementfestung weit außerhalb von El Paso birgt das privat geführte Museum schnittige Sportwagen, Quads und Hubschrauber der Grenzpolizei aus vergangenen Jahrzehnten neben Filmplakaten von »Hans, dem Grenzschutzhund« sowie selbstgebauten Segelflugzeugen, Schuhen, deren Sohlen Kuhhufe im Wüstensand imitieren, und meterlangen Strickleitern. Die Mexikaner »probierten einfach alles aus«, um in die USA zu gelangen, berichtet der Presse- und Öffentlichkeitschef der U.S. Border Patrol im Sektor El Paso. »Auch an besonderen Tagen wie an Weihnachten oder während der Superbowl versuchen viele über die Grenze zu gelangen, denn sie glauben, dass diese dann weniger bewacht ist.« El Paso ist die Wiege der im Jahr 1924 gegründeten Border Patrol. Die US-amerikanischen Bürger, die mit eigenem Pferd und Gewehr patroullierten, sollten an der Passierbarkeit der imaginären Grenzlinie zwischen Grasbüscheln und Sand auf lange Zeit nichts ändern. Die Abschottung begann erst in den achtziger Jahren und wurde mit dem 11. September 2011 zur nationalen Aufgabe erklärt.

Im Jahr 2004 wurde die Anzahl der Grenzschützer im Rahmen der Geheimdienstreform und des Terrorism Prevention Act verdoppelt und beläuft sich heute auf 21 000 Personen; 1 300 von ihnen sind Frauen. Rund 80 Prozent der Beamten und Beamtinnen sind an der Südgrenze eingesetzt. Die meisten sind mexikanischstämmig, alle anderen müssen einen Sprachtest absolvieren, um besser auf Absprachen der Festgenommenen reagieren zu können. Im El-Paso-Sektor sichern knapp 300 Grenzpolizisten Landwege und Flussläufe. »In entlegenen Gebieten nimmt es bis zu vier Tage in Anspruch, Personen festzunehmen, die illegal die Grenze überqueren«, berichtet Gómez aus dem Arbeitsalltag. Im städtischen Raum geschehe dies innerhalb von Sekunden oder Minuten. 30 bis 40 Festnahmen führten sie pro Tag durch.
Die Militarisierung der Grenze der USA hat die Zahl der Toten bei immer riskanteren Grenzübertritten in die Höhe geschraubt, während die Illegalisierung von Migranten und Migrantinnen diese den mexikanischen Drogenkartellen in die Arme treibt, die das Schleusen als lukrativen Geschäftszweig entdeckt und mittlerweile die Kontrolle der gesamten US-Grenze unter sich aufgeteilt haben. Viele Migranten werden entführt oder verdursten in der Wüste. Doch einige Menschen sterben auch ganz direkt durch die Schüsse der U.S. Border Patrol, so auch in El Paso. Wie 2010, als ein 15jähriger sich angeblich mit Steinen gegen eine Kontrolle wehrte. Und im Jahr 2003, als Grenzpolizisten den unbewaffneten Patricio Peraza in vermeintlicher Notwehr direkt vor der Migrantenherberge Annunciation House erschossen. »Doch das Klima hat sich zum Positiven verändert«, bemerkt Caya Simmons, die dort heute als Freiwillige arbeitet. »Es gibt unzählige Menschen ohne Papiere in El Paso. Die Mehrheit der Stadtbewohner sind Chicanos, sie leben erst seit wenigen Generationen auf dieser Seite der Grenze.« Als katholische humanitäre Organisation hätte das Haus ein hohes Ansehen bei ihnen. »Auch die Migrationsbehörde respektiert heute unser Haus und die Zusammenarbeit mit den Behörden ist gut.«

Das Annunciation House erscheint wie eine kleine Bastion gegen die US-amerikanische Grenzpolitik. Unweit von Downtown El Paso steht der keilförmige Backsteinbau inmitten sich kreuzender Verkehrswege. Von innen gleicht die Migrantenherberge einer Villa Kunterbunt, in freundlichem Mint, Limette und Lila sind die Wände gestrichen; Batikvorhänge zieren die Fensterfronten. »Humanitäre Hilfe ist niemals ein Verbrechen«, steht auf einem Plakat. Die temporären Bewohner und Bewohnerinnen aus Mexiko und Mittelamerika werden wertschätzend Gäste genannt; sie helfen in der Küche und bei Reparaturen. Die Schutzheilige Mexikos, die Jungfrau von Guadalupe, bewacht den Treppenaufgang zu den Schlafräumen, während der Keller, ein Labyrinth aus Hygieneartikeln, Kleidung, Schuhen, Rucksäcken und Schulheften, alles birgt, was die Gäste des Hauses während ihres Aufenthaltes brauchen könnten.
Adriana* grüßt alle Besucher freundlich. Die junge alleinerziehende Mutter ist mit ihren drei Kindern in einem der privaten Familienräume untergebracht. Sie kommt aus dem Bundesstaat Durango. In den USA sucht sie kein besseres Leben, sondern das reine Überleben. Die Anwesenheit des Sinaloa-Kartells in ihrer Gemeinde stellte dieses täglich in Frage. Wie für sie ist in den vergangenen Jahren für viele Geflüchtete aus Mexiko die Grenze eine Sicherheit versprechende Trennlinie zu Straflosigkeit, Repression und Chaos geworden. Dennoch ist diese Sicherheit trügerisch. In Ciudad Juárez ließ sich der sogenannte Drogenkrieg nie in die Landesgrenzen verweisen. Offensichtlich wurde dies, wenn Kugeln der nahezu alltäglichen Schusswechsel in der mexikanischen Stadt über die Grenze flogen und Studierende und Lehrende auf dem Campus der Universität von Texas in El Paso bedrohen.

Weniger offensichtlich, aber von großer politischer Tragweite zeigte sich der scheinbar unkontrollierte Grenzverkehr der Aztecas, einer juarensischen Bande, die zum Killerkommando des Juárez-Kartells wurde. Als die Stadt 2008 vom mexikanischen Militär besetzt wurde, um die lokalen Drogenhandelsstrukturen zugunsten des regierungsnahen Sinaloa-Kartells zu zerschlagen, sollen die Aztecas vor allem von El Paso aus operiert haben. Zum Morden fuhren sie tagsüber nach Ciudad Juárez, um abends unbemerkt in die US-amerikanische Grenzstadt zurückzukehren. Während auf mexikanischer Seite in Ciudad Juárez zu Hochzeiten der Gewalt jährlich über 3 000 Menschen starben, waren in El Paso durchschnittlich drei Mordopfer im Jahr zu beklagen.
Noch vor fünf Jahren war das Sirenenheulen der Ambulanzen und Polizeiautos in Juárez vom Dach des Annunciation House zu hören. Kurioserweise beobachteten genau ein Jahrhundert zuvor die gleichermaßen in Frieden lebenden Bewohner El Pasos von den Häuserdächern aus die Schlachten der mexikanischen Revolution. Wie damals stieg die Zahl der von der anderen Seite der Grenze Flüchtenden dramatisch an. »In den US-amerikanischen Abschiebegefängnissen vermischen sich Migranten und Geflüchtete«, erklärt die Freiwillige Caya Simmons. Doch ein Asylverfahren dauert Jahre und es ist schwierig für Mexikaner, Asyl zu bekommen, da die US-amerikanische und die mexikanische Regierung auf militärischer und sicherheitspolitischer Ebene eng zusammenarbeiten. »Wenn unsere Gäste ankommen, befragen wir sie, um ihre Situation zu begreifen und ihnen bestmöglich weiterhelfen zu können. Wir wollen ihnen Mut machen, in den USA ein neues Leben anzufangen.« Auf dem Dach des Annunciation House flattert die bunte Wäsche der Bewohner im Wind. Im Westen der Stadt zeichnet sich der schroffe Hügelkamm Christo Rey ab. Dort, wo viele von ihnen die Grenze überquert haben. Unterhalb des Christo Rey, im juarensischen Außenbezirk Anapra, wohnen die Menschen in unmittelbarer Nähe zum Grenzzaun. Es ist eines der ärmsten Viertel von Ciudad Juárez und viele Bewohner verdienen sich hier ihr Geld als Schleuser. Auch für die mexikanischen Polkarhythmen, die aus den Häusern erklingen und die US-amerikanische Seite mitbeschallen, stellt der hohe Maschendrahtzaun kein Hindernis dar. Der Zaun ist für eine sportliche Person durchaus überwindbar, doch die Patrouillenwagen der Border Patrol erscheinen schnell und im Wüstensand fast lautlos, sobald sich jemand auf mexikanischer Seite dem Zaun nähert.

Weiter außerhalb der Stadt steht der martialische »Tortilla Curtain«, eine kompakte Wand aus 6,4 Meter in den Himmel ragenden und 1,8 Meter in den Boden versenkten rostbraunen Panzerplatten, Recyclingprodukten aus den Golf-Kriegen. Im Jahr 2008 wurde er auf einem guten Drittel der insgesamt 3 145 Kilometer umfassenden mexikanisch-US-amerikanischen Grenze errichtet. Schwarze Käfer krabbeln vor ihm durch die karge und doch bezaubernd schöne Wüstenlandschaft. Eine mexikanische Familie macht auf ihrem Tagesausflug am Zaun halt. Die grauhaarige Großmutter erzählt uns, dass noch vor ein paar Jahrzehnten Menschen den Grenzfluss Río Bravo unweit des Zentrums von Juárez und EL Paso auf Flößen überquerten.
Ihr Schwiegersohn hält seine beiden Kinder an der Hand. Er berichtet, dass er als Assistent an der Universität von Juárez arbeitet. Er hat kein Visum für die USA und war noch nie auf der anderen Seite des Zauns. Seine Kinder aber sind dort geboren. Seine Frau zog die Privatkliniken jenseits der Grenze den öffentlichen Krankenhäusern Mexikos vor. Sein Chef an der Universität sei in den Jahren der Gewalt auf die andere Seite nach El Paso gezogen. Dessen Kinder wohnten wiederum bei seiner ehemaligen Frau in Ciudad Juárez. Menschliches Verwirrspiel an einer Grenze, die trennt und verbindet.
»El Paso und Ciudad Juárez gehören unweigerlich zusammen«, konstatiert der Fotograf Julián Cardona, ein berühmter Chronist der mexikanischen Grenzstadt. »Die eine Stadt kann nicht ohne die andere.« Die Kleinstadt El Paso del Norte wurde mit dem Ende des US-amerikanisch-mexikanischen Kriegs 1848 zweigeteilt, ein Krieg, der die Nordstaaten Mexikos in den Süden der Vereinigten Staaten verwandelte. 1888 wurde der mexikanische Teil nach dem reformorientierten Präsidenten Benito Juárez umbenannt. Von der Schnellstraße Camino Real, die oberhalb von Juárez staubige Viertel vom Nichts der Wüste trennt, schweift Cardonas Blick auf die beiden Städte im Tal, die sich als eine große Siedlungsfläche bis zum Horizont erstrecken. Der Grenzstreifen falle von hier oben kaum auf, bemerkt er. Aus den großflächigen Wohnhäusern und Industrieanlagen ragen lediglich die Hochhäuser von Downtown El Paso heraus und das »X«: ein überdimensionales, leuchtendes, rotes X, das sogenannte Denkmal der Mexikanität, das die juarensische Stadtregierung für einen satten Millionenbetrag direkt am Grenzzaun errichtet hat. Wenn auf dem Messegelände unter dem »X« Live-Konzerte, Kirmes, Rodeo- und Wrestlingveranstaltungen stattfinden, schallt der Sound bis nach El Paso hinüber.
»Juárez war immer eine Partystadt für Grenzgänger«, erzählt Cardona. In den zwanziger Jahren begründete die Prohibition in den USA den Boom der Cabarets und Bars in der mexikanischen »Stadt des Neon«. In den folgenden zwei Jahrzehnten stieg Ciudad Juárez zum Las Vegas seiner Epoche auf. Auch während des Kalten Kriegs blieb die Stadt ein Ausgehparadies für US-amerikanische Soldaten, die von Fort Bliss in El Paso zum Kampf gegen den Kommunismus in alle Welt ausgeflogen wurden. »Die Leute in Juárez verkauften ihnen alles, von Heroin bis Marihuana. Sie stellten ihre Wohnzimmer für den Rausch zur Verfügung.« Jahrzehntelang galt die Devise: »Sollen die Gringos doch an dem Zeug verrecken, wir behalten den Gewinn.« Mit der Militarisierung von Ciudad Juárez im Jahr 2008 wurde den amerikanischen Soldaten des Truppenstützpunkts verboten, die Grenze zu überqueren. Die Ausgehmeile Avenida Juárez, die direkt auf die Grenzbrücke Santa Fe führt, blieb lange Zeit verwaist. Erst seit diesem Jahr ist in Bars wie dem legendären Kentucky, wo einst der Margarita-Drink erfunden wurde, wieder Englisch zu hören.
Für juarensische Familien mit US-Visum ist und bleibt das Wochenende hingegen Chuco time. »El Chuco« steht für El Paso, ein Ausdruck, dessen Bedeutung auf den einstigen großen binationalen Arbeitgeber Shoe Co(mpany) in der Stadt zurückgeht und der sich auch in der Subkultur der »Pachucos«, der Migrantenkids der vierziger Jahre, in der US-amerikanischen Grenzstadt widerspiegelte. Heute jedenfalls wird das Wochenende von mexikanischer Seite aus zum Shopping im US-amerikanischen Konsumparadies genutzt. Ihren maximalen Ausdruck erfährt die Chuco time am Black Friday, wenn Familien aus dem gesamten Bundesstaat Chihuahua anreisen, um am Tag nach Thanks Giving über die Grenze zu fahren und an den unbarmherzigen Auseinandersetzungen an den Wühltischen El Pasos teilzunehmen. Dann stehen die Autoschlangen an den Grenzbrücken fast still. In Ausnahmezeiten wie diesen, aber auch zum ganz alltäglichen Feierabend können Grenzbewohner und -bewohnerinnen dies- und jenseits des Río Bravo die aktuellen Wartezeiten an den verschiedenen Grenzbrücken bequem auf der Internetseite der spanischsprachigen Lokalzeitung El Diario mit Sitz in beiden Städten nachschauen.
Ein Traum für unzählige Menschen aus Mexiko, Mittelamerika und aller Welt, für die die Grenze das bleibt, als was sie von der bedeutenden Chicana-Autorin Gloria Anzaldúa beschrieben wurde: »Eine offene Wunde, wo sich die Dritte Welt an der Ersten stößt«. Währenddessen aber fließe das Blut beider Welten zusammen und forme ein drittes Land, folgerte Anzaldúa.

*Name von der Redaktion geändert

Text und Fotos der Reportage entstanden im Rahmen einer Politischen Reise mit dem Internationalen Arbeitskreis e.V. (IAK) nach Ciudad Juárez.