Was in Sachsen passiert, ist mit den Entwicklungen in den ehemals realsozialistischen Ländern Mitteleuropas vergleichbar

Kein Sonderweg

In der immer wiederkehrenden Debatte über die »sächsischen Verhältnisse« lohnt es sich, den Blick auf die gesellschaftlichen und sozialen Transformationen in den Ländern Mittelosteuropas zu richten. In mancher Hinsicht hat Sachsen mit Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei mehr gemein als mit Hessen und Niedersachsen.

Was unter rauschebärtigen linken Pfarrern und Antifa-Reisekadern schon lange zum Allgemeinwissen gehörte, hat spätestens mit Clausnitz und Bautzen auch die sogenannte bürgerliche Öffentlichkeit erreicht. Von den Printmedien bis zu Twitter, »sächsische Verhältnisse« sind das Thema der Stunde, von Taz bis Tagesschau fragt man sich: »Was ist da los in Sachsen?« Die Frage ist nicht nur rhetorisch gemeint, tatsächlich versuchen Politiker, Journalisten und Geisteswissenschaftler aller Couleur herauszufinden, was es mit dem »sächsischen Sonderweg« auf sich hat, woher er kommt und wohin er führt. Meistens wird spekuliert, dass der Rassismus, der die Massen ergriffen habe, an der DDR-Vergangenheit liege, dem schlechten Fernsehempfang im Raum Dresden vor 1989 und der wegen der geringen Zahl von dort lebenden Ausländern beschränkten Möglichkeiten der Autochthonen, die positiven Aspekte von Migration kennenzulernen. Dabei wäre eine klarere Antwort zu finden, wenn man die Nase über den Kamm des Erzgebirges stecken würde. Denn bei allen regionalen Spezifika, wie dem Dresdner Kult um Luftangriff und Frauenkirche: Es gibt keinen »sächsischen Sonderweg«. Was in Sachsen passiert, ist vielmehr mit den Transformationsprozessen in den ehemals realsozialistischen Ländern Mitteleuropas vergleichbar.
Es regiert eine konservative Partei, deren Personal sich zu relevanten Teilen aus dem kleinbürgerlich-religiös-intellektuellen antikommunistischen Milieu der Vorwendezeit rekrutiert. Man ist stolz auf die 1 000jährige Geschichte des eigenen Stammes, dem aber im vergangenen Jahrhundert mehrfach übel mitgespielt wurde. Trotzdem oder gerade deswegen hat man die eigene Kultur bewahrt. Ganz im Gegensatz zum Westen, von dem man deutlich enttäuscht ist, seit man mit eigenen Augen feststellen musste, dass da seit 1968 Schwule und Frauen machen können, was sie wollen, die Familien zerrüttet sind, gesellschaftliche Konflikte nicht gemeinschaftlich gelöst, sondern mit Krach ausgetragen werden und es sogar noch Kommunisten gibt. Gleichwohl meint man, der Westen habe einen für das tapfere Standhalten im Angesicht von Gulag, Schulspeisung und Pioniereisenbahn noch ein paar Jahre zu alimentieren. Die Regierenden bemühen sich um die gesellschaftliche Einbindung einer militant faschistischen Opposition. Diese ist das Sprachrohr einer Bevölkerung, die im Interesse des wirtschaftlichen Neuanfangs nach den Schrecken der Planwirtschaft ohne großes Aufbegehren eine Vielzahl sozialer Härten ertragen hat, sich heute aber von Fremdstämmigen ausgeplündert sieht. Schwer zu sagen, ob die Rede von Sachsen ist oder von Polen, von Stanislaw Tillich und Steffen Heitmann oder von Viktor Orbán und Jarosław Kazcyński, von Pegida oder der Allpolnischen Jugend und Jobbik.
Die mit der Wiedervereinigung wahr gewordene Lüge von »Deutschland einig Vaterland« verstellt den Blick darauf, dass auch die ehemalige DDR ein Transformationsland ist und mit Polen, Ungarn, Tschechien oder der Slowakei in mancher Hinsicht mehr gemein hat als mit Hessen und Niedersachsen.
Auffällig ist hier vor allem der ähnliche Ablauf der Umverteilung nach dem Ende der auf Staatseigentum basierenden Ökonomien. Ab Mitte der achtziger Jahre diskutierten Ökonomen in Mittelosteuropa, wie der Übergang von der Planwirtschaften zur Marktwirtschaft gestaltet werden könne. Grob gesagt standen sich zwei Konzepte gegenüber. Das eine sah den Aufbau einer einheimischen »kapitalbildenden Schicht«, einer nationalen Bourgeoisie durch gelenkte Privatisierung innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen vor. Das andere fußte auf der Öffnung der nationalen Märkte, einer liberalen Privatisierung, die auch und gerade ausländische Investoren zum Zug kommen ließ. Schließlich setzte sich, auch dank starker Unterstützung aus dem Westen, letzteres Konzept durch. Die meisten profitablen Wirtschaftsbereiche, inklusive der Medien, wurden von westeuropäischen Konzernen aufgekauft, der Rest wurde geschlossen oder gammelte vor sich hin. Wo der Elitenaustausch mangels staatlicher Vereinigung mit einer kapitalistischen Großmacht nicht so effektiv geschah wie in der DDR und sich Angehörige des realsozialistischen wirtschaftlichen und politischen Establishments Reste des Staatseigentums privat aneignen konnten, entstand das Phänomen der »Oligarchen«.
Eine breite, ökonomisch saturierte, einheimische bürgerliche Schicht entwickelte sich jedoch nicht. Selbst wirtschaftliches Wachstum und der Beitritt zur vermeintlichen Wohlstandssphäre der EU führten nicht dazu, dass Mittelschicht, Kleinbürgertum und Facharbeiter die ökonomische Prekarität dauerhaft hinter sich lassen konnten. Diese Schichten tragen antikommunistische Parteien, die aber nicht (mehr) Propagandisten des liberal globalisierten Kapitalismus und einer an »westlichen Werten« ausgerichteten Gesellschaftsordnung sind, sondern programmatisch auf einer Mischung aus Ethnonationalismus, konservativem Christentum und Sozialpolitik beruhen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Blut-und-Boden-Keynesianismus der polnischen PiS, die etwa westliche Supermarktketten stärker besteuern will, um den polnischen Mittelstand zu fördern. Ein Teil der Bevölkerung radikalisiert sich und unterstützt militante Bewegungen, deren Kader auffällig häufig aus Hooliganszene und kriminellem Milieu stammen. Das Verhältnis zwischen diesen Bewegungen und den Regierungsparteien changiert zwischen Kooperation, Infiltration und Opposition. Es entstehen Medien mit Masseneinfluss, die programmatisch dem puren Irrationalismus verpflichtet sind (Compact, Radio Maria). Eine gesellschaftlich wirkungsmächtige progressive Opposition existiert kaum. Gut und schön, ließe sich einwenden, das klingt ja alles nicht ganz unplausibel, aber der Einwand gegen die hier formulierte These lautet ja, dass sächsische Verhältnisse eben sächsische Verhältnisse sind und eben nicht gesamt-ostdeutsche.
Dieser Einwand übersieht aber sowohl historische als auch aktuelle Unterschiede zwischen den Regionen, die die politische Reaktion auf die sozioökonomischen Transformationsprozesse beeinflusst haben. Im Falle Ostdeutschlands und mit Bezug auf Sachsen sind dabei wohl vor allem zwei Punkte relevant. Zum einen waren bis zur Bodenreform 1945 die gesellschaftlichen Verhältnisse im Norden Ostdeutschlands vom Gegensatz zwischen großen Landbesitzern und Landarbeitern geprägt, einer Schicht, die anschließend von der Agrar- und Industrialisierungspolitik der DDR stark profitierte. Ähnlichkeiten dürfte es hier zu den Regionen in Südosteuropa geben, in denen große Teile der Bevölkerung vom Modernisierungsschub des Realsozialismus profitierten.
Die Trägerschicht der sächsischen CDU-Herrschaft hingegen, ein religiös geprägtes, traditionell antikommunistisches Kleinbürgertum, das sich mit der DDR widerwillig arrangierte, existiert in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg nicht in diesem Maße. Nicht ohne Grund ging man in Rostock 1989 erst auf die Straße, als die »friedliche Revolution« schon fast wieder vorbei war. Zum anderen tun in Teilen Ostdeutschlands, vor allem in Brandenburg, staatliche Stellen das, was andernorts in Osteuropa EU-Fonds oder die Soros Foundation betreiben: mit hohem finanziellen Aufwand versprengte Linke, Linksliberale und emphatische Demokraten dabei unterstützen, unter dem Label »Zivilgesellschaft« eine demokratische Bürgergesellschaft aufzubauen. Das ist nicht immer, aber sehr häufig durchaus mehr als Kulisse, ist abhängig von den donors und bestätigt so ungewollt die Ressentiments der sich radikalisierenden Nationalisten (dass die BRD GmbH die Antifa bezahle oder dass die EU Homosexualität verbreite). Das hier gezeichnete Bild ist natürlich schon aus Platzgründen ein stark vergröbertes, das einige ideologische Faktoren und viele regionale Spezifika außer Acht lässt.
Vor allem der Zusammenhang zwischen sozioökonomischen und ideologischen Prozessen müsste präziser untersucht werden. Die Erkenntnis aber, dass das, was in Dresden, Heidenau, Clausnitz und Bautzen geschieht, nicht auf Landkreisebene zu lösen ist, muss zur Grundlage einer realistischen Gefahreneinschätzung gemacht werden. Ohne die Größe der Aufgabe zu erkennen, lassen sich realistische Strategien des Widerstands nicht entwickeln.