Das Buch »Kriegsspiel« von Alice Becker-Ho und Guy Debord erscheint zum ersten Mal auf Deutsch

Situationistisches Heeresgerät

Alice Becker-Ho und Guy Debords Buch über das Kriegspiel erscheint in deutscher Erstübersetzung.

Toter Marxist, Spiel, was für eine gute Story!« Gerade als der Medientheoretiker Alexander Galloway die Faszination für Guy Debords »Kriegspiel« zusammenfasste, ergänzte er diese Geschichte um ein weiteres Kapitel. Galloway präsentierte 2008 als Teil der Radical Software Group, einer Gruppe kritischer Medienkünstler und Programmierer, eine digitale Version des 1965 patentierten Strategiespiels. Kurz darauf ließ die Autorin Alice Becker-Ho über eine Anwaltskanzlei mitteilen, dass aufgrund von Urheberrechtsproblemen jegliche Asso­ziationen des Computerspiels mit der Arbeit ihres verstorbenen Ehemannes zu unterlassen seien. Gewisse Widersprüche zu den berühmten Copyright-Kritiken Debords auszumachen, ließen sich internationale Kunstjournale selbstredend nicht nehmen.
Becker-Ho und Debord veröffentlichten 1987 ein Buch über eine Partie Kriegspiel, das der Merve-Verlag nun in deutscher Erstübersetzung vorlegt. Obwohl das Spiel als »Le Jeu de la Guerre« erschien, nannte es Debord in seinen Korrespondenzen am liebsten »Kriegspiel« und befürchtete gar, dass es als die bekannteste Arbeit seines Gesamtwerks in Erinnerung bleiben könnte. Durch die Hinzufügung eines zweiten »s« verweist der neue Merve-Band nun unter dem Titel »Kriegsspiel« wieder stärker auf die Tradition preußischer Männer, die bis tief in die Nacht gehorsame Zinnsoldaten und sauber geschmierte Geschütze über detailreiche Miniaturschlachtfelder schieben.
Der Braunschweiger Mathematiker J. C. L. Hellwig veröffentlichte 1780 das Regelwerk samt aufwendiger Bauanleitung seines »Versuchs eines auf Schachspiel gebauten taktischen Spiels von zwey und mehreren Personen zu spielen«. In Hellwigs Spiel sollte die Natur des Krieges, des Geländes und der Truppen maßstabsgetreu nachgeahmt werden. Die Spielfläche war an ein Schachbrett angelehnt, sollte aber durch variabel einsetzbare Sümpfe, Berge, oder Gebäude den zeitgenössischen Schlachtfeldern ähneln. Mit den fast 1 000 Spielmarken wurde dann zu militärisch-pädagogischen Zwecken die Komplexität von Gefechten simuliert. Etwa 30 Jahre später präsentierte der Baron von Reißwitz dem preußischen Prinzen Wilhelm sein »Kriegsspiel«, das bald als komplexes Unterhaltungsmöbel mit Schubladen voller Terrainmodule, Figuren und Würfel bespielt werden konnte. Auf der Kommode war die Spieloberfläche angebracht, um die herum zwei Teams und ein Spielleiter die Vogelperspektive auf ihren »kleinen Krieg« (H. G. Wells) einnehmen konnten. Das Feld konnte an echte Landkarten angelehnt werden und das mehrmals überarbeitete Spiel wurde als hervorragendes Ausbildungsmittel für Nachwuchsfeldherren gepriesen. Der Medienwissenschaftler Claus Pias hebt in Reißwitz’ »Kriegsspiel« den Einzug des Zufalls (bzw. der ­berechenbaren Wahrscheinlichkeit) durch Würfel hervor, auf die Debord später in seinem »Kriegspiel« bewusst verzichtete.
Ähnlich wie bei heutigen Strategiespielen wurden in Preußen also schon Miniatureinheiten auf einer detaillierten Topographie bewegt und komplexe Kriegsbewegungen simuliert. Guy Debords »Kriegspiel«, das er 1977 erstmals in Kleinstauflage herstellen ließ, knüpft wie jenes von Hellwig eher am klassischen Schach an und basiert auf einem gerasterten Feld mit diskreten Bewegungsmöglichkeiten. Die Grundregeln sind dabei recht überschaubar: Die Parteien Nord und Süd versuchen, mittels Truppenbewegungen alle feindlichen Einheiten oder Kommunikationspunkte zu zerstören. Das Spielbrett besteht aus 500 Feldern, die beiden Territorien sind jeweils von einer Bergkette geprägt und jede Partei platziert zu Beginn nach Belieben und in Unkenntnis der gegnerischen Aufstellung die beweglichen Einheiten auf ihrer Seite.
Zentral an Debords Spiel ist die Kommunikationsinfrastruktur durch Arsenale und bewegliche Relais (»Feldjäger«), die als »organischer Zusammenhalt der Armee« die Bewegung der Truppen ermöglichen. Sollten Infanterie, Kavallerie oder Artillerie offline gehen, werden sie manövrierunfähig und somit leichte Beute. Gegnerische Einheiten können zerstört, zurückgedrängt oder von der Kommunikation abgeschnitten werden. Für Offensiv- oder Defensivzüge müssen Koeffizienten entsprechend der jeweiligen taktischen Truppenstärke zusammengerechnet und verglichen werden.
In der Konzeptionsphase orientierte sich Debord an den Arbeiten des preußischen Militärhistorikers Carl von Clausewitz, auf den noch heute Bonmots zurückgehen wie jenes, dass der Krieg nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei. In der Auseinandersetzung mit Clausewitz aus klassenkämpferischer Perspektive reiht sich Debord in eine Tradition ein, die von Marx und Engels über Lenin bis zu Stalin und Trotzki führt und noch so etwas wie einen großen Kampf der Klassen kannte.
Während die heutigen Unterhaltungsspiele etwa aus der Reihe »Warhammer« frei nach Friedrich Kittler als »Missbrauch von Heeres­gerät« beschrieben werden können, erscheint Debords »Kriegspiel« eher als Aneignung von pädagogischem Militärmaterial für den revolutionären Kampf. In dieser Umwandlung schließt das »Kriegspiel« lose an frühere Tätigkeiten Debords an, werden doch die bekannte Praxis der dérive (Umherschweifen) und die des détournement (Zweckentfremdung) mit der herausragenden Figur der Situationistischen Internationale (SI) assoziiert. Debord verstand das Brettspiel als An- und Umeignung militärischer Vorgehensweisen für revolutionäre Zwecke, bewegte sich jedoch klar in deren Regelkanon. Bezugnehmend auf Clausewitz und die höfisch-militärische Tradition der Kriegsspiele entreißt Debord das Spiel seinem sozialen Kontext und nimmt an, dass es »die Dialektik aller Konflikte reproduziert«.
In Debords Hauptwerk von 1967, »Die Gesellschaft des Spektakels«, versteht er das Spektakel als Entfremdungsmotor und selbstreferentielle Zeichenmaschine. Das situationistische Konzept des Spielens beschrieb die SI Ende der fünfziger Jahre noch als »Kampf für ein der Begierde angemessenes Leben und konkrete Darstellung eines solchen Lebens«. Spiel verstanden die Situationistinnen und Situationisten eben als Bestandteil einer dieser konstruierten Situa­tionen, die Entfremdung und Bilderspektakel aufbrechen und somit spekulativ-revolutionäre Möglichkeiten öffnen sollten. Im Gegensatz zur dérive, dem Umherstreifen zur »psychogeographischen« Kartierung urbaner Räume, und zum situationistischen Spiel dient bei Debords »Kriegspiel« aber gerade nicht der Zufall als Katalysator. Keine Würfel, nur strategisches Denken und die Last der eigenen Entscheidungen rücken sein Spiel nah an Hellwigs »Versuch eines Schachspiels«, das sich – wie Gunnar Sandkühler aufzeigt – gerade durch die Tilgung des Faktors Zufalls deutlich vom Clausewitzschen Kriegsverständnis unterscheidet. Die absolute Verantwortung, aber ebenso eine strategische Handlungsmacht, lastet auch bei Debord auf dem General.
Das Kernstück der Publikation »Kriegsspiel« stellt eine einzelne Partie zwischen Becker-Ho und Debord dar, deren Ablauf sich dabei über knapp 115 Seiten erstreckt. Die einzelnen Spielzüge der »Feindseligkeiten« sind mit jeweils kurzen Kommentaren und schematischen Darstellungen des Spielbretts bebildert, was das Verständnis des komplexen Ablaufs ungemein erleichtert. Bevor diese »Repräsentation des Krieges« nachvollzogen werden kann, ist ein Blick in die Spielregeln im Anhang empfohlen. Hier finden sich auch strategische und taktische Tipps zur Truppenverteilung oder einer guten Balance von Angriffs- und Abwehrbewegungen. Besondere Aufmerksamkeit erfährt auch hier wieder die Kommunikationsinfrastruktur: »Aufgrund der lebensnotwendigen Bedeutung der Verbindungslinien besteht das vorrangige Ziel meist darin, Manöver gegen die feindlichen Verbindungslinien auszuführen.«
Im Anhang des Buches finden sich neben wiederaufgefundenen Dokumenten und einer Anmerkung von Alice Becker-Ho noch Debords sehr knappe »Notizen zum Poker«. Besonders hervorzuheben ist, dass in der deutschen Erstausgabe einzelne Fehler von Becker-Hos und Debords Ursprungstext korrigiert wurden. Sowohl Stephen Kelly als auch Alexander Galloway hatten mindestens ­einen verbotenen Zug und falsche Truppenaufstellungen nachgewiesen. Skurril bleibt, dass bis zum Ende der Partie nicht klar wird, wer welche Seite gespielt hat. Galloway unternahm einen Versuch der Rekon­struktion und nimmt an, dass Debord mit dem Süden verlor.
Nach der Originalausgabe des Buches von 1987 erfuhr es 2006 eine französische Neuauflage und ein Jahr später eine englische Übersetzung. Neben der digitalen Version der Radical Software Group wird das »Kriegspiel« auch heute noch durch die Lande getragen. Unter dem Namen Class Wargames tourt ein Kollektiv von Künstlern, Aktivisten und Theoretikern mit einem Nachbau durch Buchläden, Cafés und andere öffentliche Orte. Mit dem Ziel der »spielerischen Subversion gegen den spektakulären Kapitalismus« veröffentlichte das britische Kollektiv einen Film sowie ein Buch mit kontemplativen Spielberichten. Ihr äußerst knappes Manifest schließt mit dem Wunsch, die Militanten des zukünf­tigen kybernetischen Kommunismus zu trainieren, was auf die kommunikativ-infrastrukturellen Erweiterungen zum klassischen Schach in Debords »Kriegspiel« hinweist. Der Aspekt der Kybernetik als »Kommunikation und Kontrolle in Lebewesen und Maschinen« (Norbert Wiener) dürfte auch Galloways Interesse an Debords Spiel erklären. Galloway hat Texte des französischen Kollektivs Tiqqun übersetzt und im Anschluss an dessen »kybernetische Hypothese« eine eigene Arbeit zur Black Box und dem Black Block vorgelegt. Er diskutiert, wie kapitalistische Informationsnetzwerke von radikalen Akteuren gestört werden können, ohne dass sie sich zu erkennen geben. Damit rezipiert Galloway eher anarchistische Sabotagetheorien, als Vorstellungen eines kybernetischen »Fully Automated Luxury Communism« aufzugreifen, die gerade vor dem Hintergrund jüngster Entwicklungen der Automatisierungstechnologie diskutiert werden. In Debords Spiel spiegelt sich genau dieses ambivalente Verhältnis von heutigen radikalen Politikformen gegenüber modernster Technologie. Das Über­leben der eigenen Einheiten basiert auf dem strategischem Einsatz eines dichten Kommunikationsnetzes, gleichzeitig gilt es, diese Infrastruktur der gegnerischen Seite zu vernichten.
Wenn der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch in »Der lange Sommer der Theorie« annimmt, dass das schwierige Denken ab den achtziger Jahren von der Akademie in den Kunstbetrieb abgewandert sei, so ließe sich am Kriegsspiel darüber nachdenken, ob es nicht auch zur Hacking- und Gamingszene diffundiert ist. Die Faktoren Strategie und Komplexitätsdarstellung schließen auf den zweiten Blick an den Ruf nach Kartierung und emanzipatorischer Navigation an, der in den vergangenen Jahren besonders vom neuen Akzelerationismus vernehmbar ist. Das Ziel der »Versinnlichung«, das Claus Pias schon bei Hellwigs Strategiespiel von 1780 besonders betont, bietet jedenfalls Anknüpfungspunkte an linke Ästhetisierungsversuche von Gesellschaft, womit sich Becker-Hos und Debords Projekt auf Umwegen geschmeidig in das Merve-Programm dieses Jahrzehnts einfügt. Vielleicht lässt sich die Abstraktion von Blut, Schmerz und Tränen hin zu diskreten Zügen und Prognostik bald auch verstärkt für Simulationen der kommenden Aufstände nutzen. Mit dem Gesellschaftsspiel »Riot – Cast the First Stone« und dem heiß ersehnten, pixeligen Computerspiel »Riot – Civil Unrest« kann dann im Stil preußischer Feldherren und kommunistischer Theoriegeneräle der nächste Gipfel- oder Bankensturm geübt werden.
Alice Becker-Ho & Guy Debord: Kriegsspiel. Aus dem Französischen übersetzt von ­Ronald Voullié. Berlin 2016, Merve-Verlag, 172 Seiten, 18 Euro