Der boxende Dichter Arthur Cravan

Der größte Boxer der Literaturgeschichte

Der Dichter Arthur Cravan war Vorläufer des Dada, Vetter von Oscar Wilde, Freund von Marcel Duchamp und André Breton. Vor 100 Jahren lieferte er sich in Barcelona einen Schwergewichtskampf mit Exweltmeister Jack Johnson.

100 Jahre lang galt Arthur Cravan als bestes Beispiel für jemanden, der Boxgeschichte geschrieben hatte, ohne boxen zu können. Vor 100 Jahren, am 23. April 1916, trat der Dichter und Vorläufer der Dada-Bewegung in der Stierkampfarena Plaça de Braus de la Monumental in Barcelona gegen einen der ganz Großen der Boxgeschichte an, gegen Jack Johnson. Und verlor. Natürlich.
Jack Johnson war von 1908 bis 1915 Weltmeister gewesen, der erste schwarze Titelträger im Schwergewicht und Zeit seines Lebens absurdesten rassistischen Schmähungen ausgesetzt. Ins Ausland hatte Johnson fliehen müssen, da er in den USA angeklagt war, Beziehungen zu weißen Frauen unterhalten zu haben. Ob Johnson 1915 in seinem letzten Titelkampf wirklich nach 26 Runden gegen Jess Willard in Havanna k.o. ging oder ob der Kampf abgesprochen war, wurde nie endgültig geklärt. Auffällig jedenfalls war, dass Johnson, der scheinbar in Ohnmacht gehauen wurde, sich die Hand vor die Augen hielt, um von der kubanischen Sonne nicht geblendet zu werden.
Die Vermutung eines geschobenen Kampfes galt jahrzehntelang auch für den Johnson-Cravan-Fight. Der amerikanische Dada-Experte Francis M. Naumann etwa schrieb, Cravan habe »mehr mit seinem Mund als mit den Fäusten« gekämpft. »Das Publikum vermutete eine Farce, und wegen der garantierten Börse in Höhe von 15 000 Peseten schrieben die Zeitungen am nächsten Tag vom ›großen Schwindel‹.« Die deutsche Wochenzeitung Zeit behauptete 1991 gar, Cravan habe nur in seiner Ecke herumgestanden und sei schon in der ersten Runde umgefallen. »Es sah aus wie gefingert. Johnson war am Ende und soll später in New York die Kneipen nach Cravan abgesucht haben, um ihn zu verprügeln.«
Nichts davon ist wahr. Welch guter Boxer Cravan war, hat der Niederländer Bastiaan van der Velden, der sich seit zehn Jahren mit dem Thema beschäftigt, im Nachwort zu dem Buch »König der verkrachten Existenzen« (Edition Nautilus, Hamburg 2015, 4. Aufl.) nachgewiesen.
Cravan hielt bis zur sechsten Runde durch, dann schlug ihn Johnson, immer noch der beste Puncher seiner Zeit, k.o. In seinen Erinnerungen vermutete Johnson, Cravan sei wohl nicht im Training gewesen. Von mangelnden boxerischen Fähigkeiten des Schriftstellers steht hingegen nichts geschrieben. Vielmehr gibt es Hinweise, dass Cravan und Johnson in späteren Jahren in Mexiko nicht nur wieder gegeneinander boxen wollten, sondern dass sie auch daran dachten, gemeinsam eine Boxschule zu eröffnen.
1909 war Cravan, der Sohn aus gutem englischem Hause, geboren 1887 im schweizerischen Lausanne als Fabian Avenarius Lloyd, nach Paris gekommen und hatte zusammen mit seinem jüngeren Bruder Otho mit dem Boxsport begonnen. Die beiden trainierten in der Boxschule von Fernand Cuny und bestritten mehrere Amateurkämpfe. 1910 fanden die »Championats Amateurs« statt. In Lloyds/Cravans Gewichtsklasse, dem Halbschwergewicht, fand sich niemand, der gegen ihn antreten wollte. So wurde Arthur Cravan französischer Meister.
Ein Sportjournalist hatte die Schaukämpfe, die Cravan anstelle eines Titelfights absolvierte, beobachtet: »Ich frage mich, wer in der Kategorie der Halbschwergewichte dem wunderbaren Schwung des älteren Lloyd widerstehen könnte, dessen Körpergröße an die zwei Meter betragen muss und der, trotz eines kräftigen Oberkörpers, nur 77 Kilo wiegt.« Weiter lässt sich da über das boxerische Talent Cravans lesen: »Er hat am Sonntag einen Schaukampf mit Warner gemacht, der ihm bis zur Schulter ging, sehr kühl und, sofern es möglich war, das einzuschätzen, wissenschaftlich, präzise und hart wirkte.«
Cravans Karriere als Amateurboxer dauerte nicht lange, vermutlich nur drei Monate, aber für Geld boxte er nun häufiger. Die englische Schriftstellerin und Malerin Nina Hamnett notiert in ihren Erinnerungen, dass sie »ihn oft im Sparring mit Neger-Boxern gesehen« habe. Eine andere Beobachtung trägt der anarchistische Schriftsteller Emil Szittya bei: »Er boxte jeden nieder, der es auf der Straße wagte, auf die Automobilanarchisten zu schimpfen.« Das war die sogenannte Bonnot-Bande, Anarchisten, die Banken überfielen und deren für die damalige Zeit bemerkenswertes Charakteristikum es war, mit dem Automobil vor- und wieder wegzufahren.
Mehrere Pariser Kämpfe, die er unter dem Namen »Arthur Cravan Lloyd« absolvierte, sind aus den Jahren 1913 und 1914 bekannt: im August 1913 etwa in der Revue Folies-Bergère gegen einen Jim Johnson, der sich als Neffe des berühmten Jack Johnson ausgab. Eine Zeitung berichtete über Cravan: »Er verdient nun vier Pfund die Nacht und hofft, es ins Vaudeville in Amerika zu schaffen.« Einmal, im Juli 1914, berichtete sogar die New York Times über Cravan – im Publikum saß nämlich ein Verwandter des damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson.
Das Neue Wiener Journal schrieb über Cravan: »Er pries die Rekordmänner des Sports, die den Künstlern überlegen seien«, und ständig habe er sich als »Tänzer und Boxer produziert«. Die Wochenzeitung L’Aéro notierte: »Dieser Mann, der sich lieber Boxer nennt als Dichter, ist Künstler bis in seine Seele.«
Bekannter wurde Cravan zunächst als Schriftsteller. Er gab von 1912 bis 1915 in Paris die Zeitschrift Maintenant heraus. Für den Surrealisten André Breton war Cravans Leben ein einziger »Barometer zur Messung der Auswirkungen der Avantgarde zwischen 1912 und 1917«.
Cravan, dieser Boxkünstler, war ein Neffe des Schriftstellers Oscar Wilde. Der war in der Familie Lloyd aufgrund seiner Affären und seiner Homosexualität eine Unperson, und Lloyd/Cravan erfuhr erst nach ­Wildes Tod von der Verwandtschaft. Gleichwohl war Wilde nicht nur für den Dichter Cravan Antrieb, sondern auch für den Boxer.
Die Regeln, nach denen geboxt wurde, waren von dem 9. Marquess von Queensberry aufgestellt worden. Bis heute sind sie die Basisregeln dieses Sports. Nicht nur, dass einer der Söhne des besagten 9. Marquess von Queensberry, Lord Alfred »Bosie« Douglas, einer der Liebhaber Wildes war. Auch dass Wildes Homosexualität bekannt wurde – was letztlich den Ruin des Schriftstellers bedeutete –, war dem Marquess geschuldet. Für den amerikanischen Publizisten James Reich ist klar, dass gerade Cravans Selbstinszenierung als Dada-Boxer eine Rache für Oscar Wilde darstellte: »So verhöhnte er Queensberry und rächte seinen Onkel.« Das Boxen, so Reich, sei für Cravan eine weitere Möglichkeit gewesen, »die Grenzen zwischen Disziplin und Anarchie aufzulösen«.
Arthur Cravan ging von Paris nach Barcelona, um dem Weltkrieg zu entkommen. Er selbst nannte sich einmal einen »Bürger von 20 Ländern«; der Situationist Guy Debord lobte Cravan als »Deserteur aus 17 Nationen«.
In Barcelona kam es zum großen Kampf mit Jack Johnson. Trotz seiner schon sieben Jahre andauernden Boxpraxis war es Cravans erster offizieller Profikampf, in den er gleichwohl als angeblicher »European Champion« ging. Cravan bereitete sich ernsthaft vor: Im Bricall-Gymnasium von Barcelona trainierte er mit etlichen anderen Boxern. Eine Zeitung, die über das Training berichtete, nannte ihn einen »großen Athleten der weißen Rasse«. Der nicht nur in den USA rassistisch geprägte Boxsport war damals immer auf der Suche nach einer white hope, einem Boxer, der ohne jeden Zweifel den Nimbus des stärksten Mannes der Welt den Weißen sicherte.
Wie gesagt: Sechs Runden stand Arthur Cravan durch. Dann schlug ihn Johnson, der schlicht der bessere Boxer war, k.o. Francis M. Naumann schrieb später: »Für Johnson war es ein recht ereignisarmer Testkampf. Für Cravan blieb es das größte Ereignis seines tragisch kurzen Lebens.«
Doch Cravan war immerhin gut genug, um noch einen weiteren Kampfvertrag zu unterschreiben: Am 26. Juni 1916 boxte er im Frontón Condal in Barcelona gegen den in Spanien lebenden Franzosen Frank »El Lobo« Hoche – er erreichte ein Unentschieden.
Unmittelbar nach dem Hoche-Kampf schiffte sich Cravan – wieder einmal auf der Flucht vor dem näherkommenden Weltkrieg – nach New York ein. Mit auf der Passage war Leo Trotzki, der von Cravan beeindruckt war. In Trotzkis Erinnerungen heißt es: »Ein Boxer, gleichzeitig auch belletristischer Schriftsteller, ein Vetter Oscar Wildes, gestand offen, er ziehe es vor, die Kiefer der Herren Yankees im edlen Sport zu zertrümmern, als seine Rippen von irgendeinem unbekannten Deutschen durchstechen zu lassen.«
Interessanterweise sind aus den USA, damals schon Hochburg des Berufsboxens, keine Kämpfe Cravans überliefert. Bald ging Cravan nach Mexiko und gründete dort nicht etwa eine Zeitung, sondern eine Boxschule. Einen Profikampf absolvierte er noch, im September 1918 gegen Jim Smith aus den USA, der gegen Cravan sein Debüt gab – und ihn k.o. schlug. Aber auch das brachte Cravan nicht vom Boxen ab. In Briefen an seine Freundin und spätere Frau, die Dichterin Mina Loy, erwähnte er, bald wolle Jack Johnson zu ihm nach Mexiko kommen, sogar von einer gemeinsamen Boxakademie war die Rede.
Auch wenn es Arthur Cravan in Mexiko nicht schlecht ergangen zu sein scheint, sah er sich wohl, wie Bastiaan van der Velden schreibt, »in einer Sackgasse am teilnahmslosen Rand der Welt und kaufte mit einigen anderen Deserteuren ein Segelschiff«. Sie fuhren los, es sollte nach Südamerika gehen, aber das Schiff kam nie an. Seit November 1918 ist Arthur Cravan verschollen, er wurde nur 31 Jahre alt.