Postkapitalismus und Klassenkampf

Irgendwie links

Die Postkapitalismus-These setzt auf ein Klassenbündnis zwischen der urbanen, technologie­affinen Hipster-Mittelschicht und den prekär arbeitenden Abgehängten. Ob dieses Bündnis allein durch das Wundermittel Informations­technologie zustande kommen kann, ist fraglich.

Der britische Autor Mark Fisher, ein wirklich tadelloser Marxist, reüssierte vor einigen Jahren mit der Popularisierung eines Bonmots, das er bei Slavoj Žižek aufgeschnappt hatte: Die Menschen – im Westen – könnten sich zwar das Ende der Welt vorstellen, aber nicht mehr das Ende des Kapitalismus. Fischer sprach ironisch vom »Kapitalistischen Realismus« und konnte wohl selber nicht ahnen, dass diese Feststellung binnen kurzer Zeit überholt sein würde. Die Angstlust vor der Zombie-Apokalypse war eben doch nur Zeitgeist – und nicht die Signatur dieses Zeitalters –, heute erzählt dieser wieder Geschichten vom Ende des Kapitalismus. In Deutschland ist es der Soziologe Wolfgang Streeck, einst ein Kopflanger Gerhard Schröders, in Amerika der notorische Jeremy Rifkin, aber der derzeit unumstrittene Superstar ist der britische Journalist Paul Mason mit seiner These vom Postkapitalismus.
Warum faszinieren diese Autoren? Weil sie die gesellschaftlichen Verhältnisse als heillos anachronistisch darstellen – Mason vergleicht die globale Situation mit derjenigen der DDR wenige Monate vor dem Mauerfall – und den Weg aus dieser Verkrustung als bloß kleinen Schritt vorwärts anpreisen. Das klingt entfernt nach einer Marxschen Denkfigur (»Die Produktivkräfte dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden…«), kommt aber beim Publikum vor allem deshalb gut an, weil dieses Prinzip aus der Werbung bekannt ist: Es ist das Prinzip Wundermittel.
Masons Wundermittel heißt Information. »Die Information unterscheidet sich von jeder früheren Technologie«, schreibt er. Sie neige »spontan dazu, Märkte aufzulösen, das Eigentum zu zerstören und die Beziehung zwischen Arbeit und Eigentum zu zersetzen«. Die zentrale Aussage seines Buchs ist dementsprechend die Heilsverkündung, dass eine Ökonomie, die auf Information basiere (soll heißen: durch Informationstechnologie ermöglichte Steuerung komplexer Austauschbeziehungen) und dazu tendiere, Produkte zum Nulltarif bereitzustellen und das Eigentum nur noch unzureichend juristisch zu schützen, eigentlich schon keine kapitalistische mehr sei. Was es dann noch brauche, sei »kein Plan mehr«, sondern »ein modulares Projektdesign«. Wieder eine Botschaft, die sein Publikum sofort versteht. Es sind die urbanen Intellektuellen, die sich vor zehn Jahren zur »Generation Praktikum« erklärten, zwischendurch ein paar öffentliche Plätze besetzten und die weltweiten Aufstände vor fünf Jahren für Facebook-Revolutionen hielten.
Die Zukunft heißt nicht Sozialismus
Es ist offensichtlich, dass Masons Buch de facto zu einer sehr kleinen Gesellschaftsgruppe spricht und ihren Umgang mit modernen Informationstechnologien zum Ausgangspunkt eines Weltprojekts macht. Gleichzeitig zollt Mason ihrem Konformismus Respekt, denn die Zukunftsvision darf partout nicht Sozialismus genannt werden, die Überwindung des Kapitalismus ist bei ihm noch Teil seiner Erfolgsgeschichte. Masons Weltveränderungsangebot ist niedrigschwellig. Es wäre nicht weiter der Rede wert, wenn er nicht – mehr implizit als explizit – auf ein Klassenbündnis setzte. Dieses Bündnis existiert bereits als statistische Größe; Masons Anliegen ist es, es auf eine solide Grundlage zu stellen. Das ist seine Wette, daran entscheidet sich das Schicksal seiner These. Um diesem Bündnis auf die Spur zu kommen, muss man sich die vergleichsweise erfolgreichen linken Kampagnen der jüngsten Zeit ansehen: die Abstimmung für die Unabhängigkeit Schottlands sowie die Kandidaturen von Jeremy Corbyn und Bernie Sanders. Auf der einen Seite sprechen diese Kampagnen die Leser Paul Masons an, irgendwie linke, zutiefst unzufriedene, technologieaffine und gut ausgebildete junge Leute aus den Städten. Auf der anderen Seite sind es die Abgehängten, die Deklassierten, die Leute aus den Vorstädten und verrotteten Industrieregionen, die sich wieder – vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben – angesprochen fühlen. Diese linken Kam­pagnen vereinen also die Führungsschicht in spe mit den Menschen, für die diese Intellektuellen mit ihrem merkwürdigen Craft Beer und den großväterlichen Bärten von einem anderen Stern kommen.
Erwächst daraus schon ein gemeinsames Projekt? Bei weitem nicht, dieses Aufeinandertreffen wird derzeit allein ermöglicht durch einen charismatischen Leader oder die Aufregung rund um einen Wahltermin. Mason will nun zeigen, dass sich diese beiden Milieus auch substantiell treffen können, dass, in futurologischer Verlängerung gedacht, ihre Interessen miteinander konvergieren. Hier kommt wieder »die Information« ins Spiel: Während die Hipster die Informationstechnologien benutzen, um sich in anderen Lebensentwürfen zu spiegeln, um abzutauchen aus dem Alltagstrott und sich fast spielerisch Sphären zu schaffen, in denen sie kooperativ und egalitär miteinander umgehen, sind die Prekarisierten regelrecht dazu gezwungen, die Optionen der Informationsexplosion zu nutzen, weil sie anders ihr Leben nicht organisieren könnten. Platt gesagt: Für beide Gruppen ist etwa der illegale Download und das sofortige Teilen von Inhalten eine Selbstverständlichkeit. Wird beiden Gruppen diese Selbstverständlichkeit als ihre Gemeinsamkeit bewusst, dann tritt sie in die Wirklichkeit, die neue Massenbewegung, die schon keine Revolution mehr braucht, um nicht nur zu ihrem Ausdruck, sondern auch zu ihrem Recht zu kommen. Sie muss nur noch ihre Parallelwelten der Commons Schritt für Schritt ausbauen (den Rest, sagen wir: die Zerschlagung der Monopole von Google oder Facebook, übernimmt dann doch ein sozialdemokra­tischer Staat der alten Schule). Geht die Wette auf?
Ein Blick zurück: Nach 1968 machten sich in den Metropolen Zigtausende von Radikalen auf, »das Volk zu besuchen« (Jacques Rancière). Sie gingen in die Betriebe, zogen in die Arbeiterviertel, feierten mit den Migranten deren Feste. Viel ist in den vergangenen Jahren über die Anfänge und die Hochzeit diese Bewegung geschrieben worden, dabei ist ihr Ende doch viel interessanter. Wie sich herausgestellt hat, wechselten viele Linke aus ihrer festen Identität, nämlich Bürgerkinder zu sein mit Aussicht auf akademische Karrieren, in eine andere feste Identität: die des Industriearbeiters im Wohlfahrtsstaat. Subjektiv mag das ein wagemutiger Schritt gewesen sein, aber strukturell hatte sich gar nicht so viel getan: Viele Linke wechselten nach einigen Jahren ohne größere Probleme wieder zurück ins akademische Leben; wer im Betrieb blieb, machte nicht selten seinen Meister, ging in den Betriebsrat, wurde Gewerkschaftsfunktionär, profitierte von Betriebsrente und großzügiger Vorruhestandsregelung. Und die wenigen Aussteiger profitierten schließlich von beidem, von den intellektuellen Fähigkeiten, die sie auf der Uni erworben hatten, wie vom Handwerk, das sie in der Fabrik erlernt hatten.
Arbeit und Information
Was wäre die Parallele heute? Wie sähe die zeitgemäße Betriebsintervention aus? Werden die Linken jetzt Erzieherinnen und Krankenpfleger? Stapfen sie durch die Züge, um die beschmierten Toiletten zu reinigen, tragen sie Pakete aus oder backen Brötchen für Lidl, treten sie in den Sicherheitsdienst für große Kaufhausketten ein? Werden sie Lagerarbeiter, Packer, Putzkräfte? Paul Mason ist ein großartiger Journalist, er sollte das doch mal recherchieren. Aber die Antwort sei hier schon gewagt: eher nicht.
Diese Jobs, und es sind die Jobs des heutigen Proletariats, bieten keine feste Identität an, haben nicht den Ruf einer revolutionären Vergangenheit, bieten keinen Aufstieg, keinen Ausstieg. Für die Gewerkschaften ist dieser Kontinent des Proletariats wasteland. Die Arbeit verlangt den Einsatz der ganzen Persönlichkeit (Erzieher, Krankenpfleger) oder wird in krasser Isolation ­verrichtet (Paketzustellerin). Diese Jobs gehen auf die Knochen. Die Linke ist – wohl oder übel– zu hedonistisch, um sich auf sie einzulassen. Mason wird seine Wette verlieren.
Es ist die Arbeit, die das organisierende Prinzip dieser Gesellschaft ist, und es ist »die Information«, die in ihrem Dienst steht, weswegen ihr Einsatz für die oben aufgezählten Arbeiterinnen und Arbeiter gleichbedeutend ist mit Kontrolle und Überwachung. Aufgrund hochdifferenzierter Computerprotokolle ist es möglich, auch sogenannte Dienstleistungsarbeiten einem genau getakteten Zeitregime zu unterwerfen. Damit gerät der Kapitalismus auch im Westen nicht an seine Grenzen, er hat gerade erst Neuland erschlossen.