Die Virtuelle Realität soll die Massen erreichen

Künstliche Welten für die Massen

Die Virtual-Reality-Technologie wird bald schon die Märkte erreichen, verkünden IT-Experten. Spieleindustrie und Pornographie setzen diese Technologie bereits teilweise ein. Andere Branchen werden zügig folgen, nur das Innenohr wehrt sich noch.

Das Ding heißt »Oculus Rift«, wird derzeit zögerlich an Vorbesteller ausgeliefert und erst im Laufe des Sommers im Handel erhältlich sein. Die hochauflösende, geschlossene Datenbrille, die in virtuelle Welten versetzt, wird in Europa mit 699 Euro kein Schnäppchen sein und erst einmal nur auf Windows-Computern laufen. Macs, gaben die Entwickler bekannt, hätten einfach nicht genügend Leistung. Sollte sich Apple eines Tages dazu entschließen, schnelle Computer zu bauen, werde man eine Mac-Variante auf den Markt bringen.
Doch Mac-Besitzer müssen sich nicht allzu sehr grämen. Auch die meisten Windows-Nutzer werden erst einmal mehr über die Virtuelle Realität (VR) lesen als sie selbst erleben, meint die IT-Expertin Nadia Zaboura: »Nur ein Prozent aller Computer sind zurzeit in der Lage, virtuelle Realitäten in hoher Qualität abzubilden. Bis virtuelle Realität ein Massenphänomen wird, wird es noch ein paar Jahre dauern, aber in diesem Jahr beginnt eine Entwicklung, die viele Branchen beeinflussen wird.« Zaboura ist sich sicher, dass mittelfristig VR-Anwendungen im Bereich Forschung, Entwicklung und Design eingesetzt werden, beispielsweise bei der Konstruktion neuer Autos. Auch die Werbeindustrie wird sich anschließen: »Anstatt durch Anzeigen zu blättern oder auf irgendwelche Banner zu klicken, werden Unternehmen ihren Kunden bald realistische 3D-Welten anbieten. Möbelhersteller können dann ihre Produkte erfahrbar machen – auch in 3D-übertragenen Wohnzimmern ihrer Kunden.« Noch sei es nicht so weit, sagt Zaboura, aber »es sind vor allem die kleinen, technologisch orientierten Agenturen, die an solchen Angeboten arbeiten. Die großen Agenturen scheint das Thema noch nicht ganz so zu interessieren.«
Auch meditative Ausflüge in weite virtuelle Welten wird es bald geben, in denen man sich frei bewegen kann und die wahlweise realistisch aussehen werden oder phantastisch ausfallen können.
Wie immer in den vergangenen Jahrzehnten werden sich auch in diesem Bereich zwei Branchen als Vorreiter erweisen, die vor allem technikaffine und alleinstehende Männer als Kunden haben: Die Porno- und die Spiele-Industrie sind wie schon bei den Einführungen des Super8-Formats, der VHS-Kassette oder der Internet-Flatrate mit auf die neuen technischen Möglichkeiten abgestimmten Angeboten zur Stelle. Das Sexcam-Portal »Visit X«, Marktführer in Deutschland, bietet seit wenigen Wochen auch die Möglichkeit an, Frauen und Männern beim Masturbieren in virtuellen Räume zuzuschauen, und die Porno-Plattform »Pornhub« hat bereits 26 VR-Filme kostenlos online gestellt. Für das Technologieportal »Mobilegeeks« war diese Nachricht der Durchbruch der VR-Technik in den Massenmarkt. Fürsorglich wies man die Leser jedoch auf eine schnell übersehene Tatsache hin: »Im Vergleich ist VR-Porn nicht ansatzweise so gut wie echter Sex – die jüngeren Leser werden hier vielleicht dann später noch Bauklötze staunen.«
Im Spielebereich werden VR-Anwendungen dafür sorgen, dass User in einem bislang unvorstellbaren Maße in die Handlung mit einbezogen werden und das nicht nur bei Simulatoren, sondern auch bei Actionspielen und Adventures. Sony hat seine Playstation 4 entsprechend weiterentwickelt und will die Playstation-VR noch im Sommer auf den Markt bringen. Die passende VR-Brille soll es für 399 Dollar geben.
VR-Techniken werden in den kommenden Monaten und Jahren vor allem für einen Boom bei den Hardware-Herstellern sorgen. Immer mehr VR-Anwendungen werden dazu führen, dass immer mehr Nutzer sich neue, leistungsfähigere Computer zulegen. Dazu kommen die Spezialbrillen – ein Milliardengeschäft, auf den die Computerhersteller lange gewartet haben.
Seit selbst preiswerte Computer vom Grabbeltisch für die allermeisten Aufgaben locker ausreichen und dies auch noch nach Jahren tun, geht der Absatz von Computern zurück. Das dürfte sich bald ändern. Vor allem Facebook, das Mutterunternehmen von »Oculus Rift«, will die neue Technik pushen. Mitte April stellte Facebook mit der »Facebook Surround 360« eine 3D-360-Grad Kamera vor, mit der sich VR-Inhalte produzieren lassen. Die Baupläne für Hard- und Software des Kamerasystems sollen im Sommer unter Open-Source-Lizenz veröffentlicht werden. Facebook will die Menge der VR-Inhalte vergrößern, um so immer mehr Gründe für den Kauf von »Oculus Rift« zu schaffen.
Doch ein großes Problem, das fast alle haben, die sich in die Virtuelle Realität begeben, lässt sich auch durch Facebooks Marktmacht nicht lösen: die Übelkeit.
Wenn die Informationen, die das Auge erhält, nicht mit der Lage des Körpers übereinstimmen, die vom Innenohr wahrgenommen wird, wird einem schlecht. Das ist der Grund für die Seekrankheit, für sich in der Schwerelosigkeit übergebende Astronauten und für Magengrimmen beim Einsatz einer VR-Brille. Zwar wird an Lösungen geforscht, aber dass sich dieses Phänomen ganz abstellen lässt, ist für die mittlere Zukunft nicht zu erwarten und ein wirklich schweres Hemmnis: VR-Ausflüge werden nicht über Stunden gehen, sie werden auf absehbare Zeit kleine, unterhaltsame Stippvisiten sein, nach denen man sich erst einmal erholen muss, wenn man sich nicht auf die Tastatur des neuen Superrechners erbrechen will. Sollte dieses Problem irgendwann gelöst sein, werden VR-Anwendungen das Leben in einem Maße verändern, wie es zuletzt die sozialen Medien geschafft haben. Aber ein paar Jahre wird es noch dauern, bis man aus der realen Welt für immer längere Zeit in die virtuelle umziehen wird.