Alte und neue Wunden

Besonders pfiffig ist es nicht, von den Werken auf den Zustand des Autors zu schließen. Um David Vann aber musste man sich Sorgen machen, so niederschmetternd traurig und grausam waren die Romane des 1966 in Alaska geborenen Autors von Familientragödien, allen voran »Im Namen des Vaters«. Soeben ist »Aquarium« erschienen, Vanns fünfter Roman über eine dysfunktionale Familie, oha. Aber wenn sowohl der Verlag als auch große amerikanische Zeitungen von »Aufbruch«, »Neuanfang«, von »Versöhnung« und »Schönheit« sprechen? Tatsächlich gibt es Hoffnung und Liebe in diesem stilistisch geschmeidigen, spannenden Entwicklungs- und Familien­roman. Erzählt wird aus der Ich-Perspektive Caitlins, einer erwachsenen Frau, die sich an einen entschei­denden Abschnitt ihres Lebens erinnert. Mit zwölf Jahren lebte sie einsam mit ihrer Mutter, einer toughen Hafenarbeiterin, in einem hässlichen Vorort von Seattle.
Schönheit gibt es für Caitlin im Großaquarium, das sie jeden Tag nach der Schule besucht, um die seltsamen bunten Wesen zu bestaunen. Dort lernt sie einen älteren Mann kennen, einen geistig junggebliebenen Seelenverwandten mit Gespür für die wesentlichen Dinge und die Poesie des Lebens. Die Begegnung mit dem Mann ist kein Zufall. Sie hat mit der ganz und gar nicht lustigen Vergangenheit von Caitlins Mutter zu tun, weshalb bald mehrere Leben ins Schlingern geraten.
Auch dieser Roman Vanns lebt von überraschenden Wendungen. Momente emotionaler Verstörung, seelische wie körperliche Tiefschläge und brutale Ausbrüche weisen »Aquarium« als echten Vann aus, zugleich aber steckt in dieser Geschichte die Macht emanzipativer Veränderung und des Verstehenwollens. »Das Schlimmste an der Kindheit ist, nicht zu wissen, dass etwas vorübergeht. Dass die Zeit verstreicht. Ein schrecklicher Moment in der Kindheit verharrt in der Ewigkeit – unerträglich. « Aber die Zeit, sie verstreicht doch, alte Wunden verheilen, ein paar neue sind entstanden. Am Ende ist Caitlin kein Kind mehr.
David Vann: Aquarium. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2016, 282 Seiten, 22,95 Euro